Alice Munro: Der Traum der Hausfrau

Der Literaturnobelpreis 2013 geht an die Kanadierin Alice Munro.
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Sie sieht aus wie eine Hausfrau, deren Kinder aus dem Haus sind und die nun endlich Zeit findet, ihrem Hobby, dem Töpfern, nachzugehen. Dass Alice Munro, 82, in Kanada und Amerika als der moderne Tschechow gepriesen wird, will man kaum glauben. "Ein stilles Genie", nannte sie Atlantic Monthly, ein "literarisches Wunder" die New York Times. John Updike verehrt sie und Judith Hermann verfasste ein hymnisches Nachwort für Munros Buch "Der Traum meiner Mutter".

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Zahlreiche Erzählbände hat die Munro veröffentlicht, ausschließlich jubelnde Kritiken bekommen und viele literarische Auszeichnungen. Dennoch ist sie weder in den USA noch in Europa eine wirklich bekannte Autorin. "Als Inbegriff einer Erzählerin, die auch mit siebzig noch am Wickeltisch schreibt, galt mir die Kanadierin Alice Munro", gestand ein Rezensent in der Weltwoche. Und revidierte nach der Lektüre: "Welch schändliche Fehleinschätzung!". Ein Grund für solche Fehl- und Vorurteile ist, dass Short Stories Munros Metier sind und nicht Romane. Ein zweiter: Ihre Hauptfiguren sind fast ausschließlich Frauen und Mädchen.

1931 in ärmlichen Verhältnissen geboren, träumt auch die 12-jährige Alice noch vom großen Roman und macht sich gleich an einen dicken historischen Schinken. Da ist ihre Mutter schon tot, gegen die sie seit frühester Kindheit opponiert. Denn Mutter Ann – vor ihrer Heirat Lehrerin, danach Farmersfrau – konnte und wollte den Traum ihrer Tochter nicht verstehen. Auch Vater Robert Eric ("hart, aber herzlich") versucht, aus Alice eine brave Landfrau zu machen. Sie bewirbt sich trotzdem 1949 für ein Stipendium, studiert Journalistik an der University of Western Ontario und veröffentlicht mit 18 ihre erste Erzählung in einem kanadischen Literaturmagazin, das sie als "extrem bescheiden, was ihre Talente angeht" vorstellt, "aber fest entschlossen, irgendwann den großen Kanada-Roman zu schreiben". Doch es kommt anders.

Da ihr Stipendium nach zwei Jahren ausläuft, bricht Alice 1951 aus Geldnöten das Studium ab, heiratet und wird tatsächlich Hausfrau. Waschen, Kochen, Putzen – zwischendurch stiehlt sich die Mutter von drei Töchtern immer wieder raus aus ihrem Alltagsleben, um an ihrem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer zu schreiben. Erst als sie 38 ist, erscheint ihr erster Erzählband. "Hausfrau findet Zeit zum Kurzgeschichten-Schreiben", titelt prompt eine kanadische Zeitung.

"Als meine Kinder noch klein waren, hatte ich keinerlei Hilfe. Es gab noch keine automatischen Waschmaschinen. Ich dachte, jeden Moment kann etwas passieren. Eine Kinderkrankheit oder Besuch von Verwandten zerstören einen Arbeitsprozess genauso wie der Stromausfall eines Computers." Also: kein Roman, sondern Kurzgeschichten. Alice Munro wird zur Meisterin der Short Story, komplexer als manch langer Roman. Auf fast magische Weise, mit virtuoser Schlichtheit fasziniert Munro ihre LeserInnen. Ihre abgründigen Erzählungen fangen scheinbar harmlos an, doch schnell spielen sich menschliche Dramen ab.

Eine junge Geigerin bringt um ein Haar ihr Baby um, weil sie sein Geschrei nicht mehr ertragen kann. Eine Musiklehrerin schläft heimlich in der Schule mit ihrem verheirateten Kollegen. Just in diesem Moment werden sie von der Sekretärin gestört, weil der Sohn des fremdgehenden Ehemanns vom Auto überfahren wurde. Das pubertierende Mädchen Karin ist in den Liebhaber der Mutter verliebt. Im alten Hochzeitskleid ihrer Mutter will sie ihn beeindrucken, doch ihr Schleier fängt an einer Kerze Feuer und sie erleidet schlimme Verbrennungen. "Alle dachten, sie wäre bis auf ihre Haut ganz die alte. Niemand merkte, wie sehr sie sich verändert hatte und wie selbstverständlich es ihr vorkam, vereinzelt zu sein, höflich und geschickt durchs Leben zu gehen."

Häufige Themen: Mutter-Tochter-Dramen und weiblicher Ehebruch (Munro verließ ihren ersten Mann wegen ihres zweiten). Was ihr in den 70er Jahren den Ruf einer Feministin eintrug – und ihren literarischen Ruf nicht gerade steigerte.

Auch Munros älteste Tochter Sheila schreibt inzwischen über die Mutter, wen sonst, in "Lives of Mothers & Daughters" (bisher nicht auf Deutsch erschienen). Alice Munro selbst war es, die ihre Tochter darin bestärkte und sich gleich als Babysitterin für ihre beiden Enkelsöhne anbot, damit Sheila Ruhe hatte. Die Tochter beklagt in ihrem Buch, wie sehr sie darunter litt, dass die Mutter mit ihren Gedanken immer so abwesend war. Wenn Sheila und ihre beiden jüngeren Schwestern zum Beispiel Fernsehen schauten, saß Alice hinter ihnen auf dem Sofa und las. Man stelle sich vor, ein Vater liest Zeitung, während die Kinder fernsehen! Würde sich ein Erwachsener im Rückblick darüber beschweren?

Glücklicherweise hat Alice Munro sich weder von ihren Kindern noch von ihren Ehemännern davon abhalten lassen, zu lesen und zu schreiben. Ihr Streben nach literarischer Vervollkommnung war immer stärker: "Ich mache mein Schicksal von meiner nächsten Geschichte abhängig. Die nächste Geschichte wird die perfekte Geschichte sein. Das wird wohl so gehen, bis ich sterbe."

Zum Weiterlesen:
Das Bettlermädchen, Die Jupitermonde, Kleine Aussichten, Der Mond über der Eisbahn, Offene Geheimnisse (alle Klett-Cotta);
Die Liebe einer Frau, Der Traum meiner Mutter, Tanz der seligen Geister, Zu viel Glück (alle S. Fischer Verlag).

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