Alice Schwarzer schreibt

Nicht darüber reden?

Alice Schwarzer beim "Aufstand für Frieden" am 25. Februar in Berlin. Foto: imago images
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„Die Ikone der deutschen Frauenbewegung will lieber nicht über sexualisierte Gewalt an Frauen sprechen.“ Mit der musealisierenden Formulierung „Ikone" dürfte ich gemeint sein. Diesen nun doch sehr überraschenden Satz konnte ich in einem Text von Ronya Othmann in der FAZ lesen. Sehr überraschend, weil die sexuelle Gewalt, ihre Funktion und Folgen, seit 50 Jahren mein zentrales Thema ist - zum Verdruss vieler, von taz bis FAZ. Denn ich gehe als Feministin davon aus, dass die sexuelle Gewalt der dunkle Kern des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern ist.

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1977 schrieb Brownmiller als erste über Vergewaltigung als Kriegswaffe

Entsprechend schrieb ich im deutschsprachigen Raum 1975 im „Kleinen Unterschied“ erstmals über Vergewaltigung als Waffe im Ehekrieg, und berichtete EMMA 1977 als erste über Vergewaltigungen als Kriegswaffe. Und zwar am Beispiel der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg, analysiert von der Amerikanerin Susan Brownmiller in „Against Our Will“. Das war damals noch ein Tabu. Wir wurden dafür, dieses Tabu gebrochen zu haben, viel gescholten - vor allem von links.

In den 1990er-Jahren gelang es Feministinnen, bei den Prozessen am Internationalen Strafgerichtshof zu den Kriegsverbrechen im Ex-Jugoslawien-Krieg für Vergewaltigungen im Krieg den Status als „Kriegsverbrechen“ zu erkämpfen. Wichtig wäre es jetzt, zu klären, ob die heutigen Vergewaltigungen durch russische Soldaten auch auf Befehl passieren (wie die Vergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg) oder einfach die Folge eines traditionellen Männlichkeitswahnes sind, dessen destruktiver Höhepunkt ein Krieg ist.

Dass Vergewaltigungen heute überhaupt ein öffentliches Thema sind und nicht länger als Schande für Frauen gelten, sondern als Verbrechen von Männern, das ist ausschließlich uns Feministinnen zu verdanken! In Ländern ohne moderne Frauenbewegung ist das noch immer so. In so manchen islamischen Ländern werden bis heute bei Vergewaltigung die Opfer geächtet und nicht die Täter. Sie werden an die Täter zwangsverheiratet oder gar als „beschmutzt“ ermordet.

Dieses Wissen scheint bei manchen jüngeren Frauen nicht präsent zu sein. Was nicht ohne Tragik ist. Denn wer keine Geschichte hat, hat auch keine Zukunft. Alles kann rasch ins Vergessen fallen. Und Frauen müssten wieder einmal von vorne anfangen.

Bei Beginn des Ukraine-Krieges war EMMA die Erste, die über die enorme Gefahr für flüchtende Frauen berichtete, die schon an der deutschen Grenze von Frauenhändlern abgefangen wurden. Und selbstverständlich habe auch ich vom Ukrainekrieg nicht geredet, ohne die vergewaltigten Frauen mit zu benennen.

Auch darum bin ich für eine raschestmögliche Beendigung des Krieges: gegen einen jahrelangen sogenannten „Abnutzungskrieg“ und für baldmögliche Verhandlungen! Jeder Tag zählt. Für die bis zu 1000 Toten täglich sowie für die ungezählten vergewaltigten Frauen.

Dieses Freund/Feind-Denken hält eine Demokratie nicht lange aus

Ich habe in den vergangenen Monaten öfter von den Opfern des Krieges in der Ukraine gesprochen und dabei auch die Formulierung gebraucht: „… von den vergewaltigten Frauen und traumatisierten Kindern ganz zu schweigen“. Beziehungsweise: "Wir möchten nicht, dass in der Ukraine noch länger gestorben wird. Im ersten Jahr sind schon 250.000 Menschen dort gestorben. Reden wir nicht von den vergewaltigten Frauen, reden wir nicht von den traumatisierten Kindern." Es soll Menschen geben, die diese Formulierung interpretiert haben als: Ich wolle nicht über die Vergewaltigten reden. Ich kann das kaum glauben. Sollten wir inzwischen auf ein so niedriges intellektuelles Niveau gesunken sein? Ist die Verblendung wirklich so groß? Oder handelt es sich um bewusste Verleumdung?

Das muss ein Ende haben! Nicht nur im Interesse der Opfer dieses Krieges in der Ukraine, sondern auch in unserem ureigensten Interesse. Denn ein solch borniertes Freund/Feind-Denken, in dem es nur Schwarz oder Weiß, Freund oder Feind gibt, hält auch eine Demokratie nicht lange aus.

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