Die unerschrockene Arundhati Roy

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Arundhati Roy lebt in einer Siedlung im Süden Delhis. Ihre Dachgeschosswohnung mit Terrasse und Blick über die Megacity hat die studierte Architektin selbst entworfen. Herausgekommen ist dabei ein Stil, der indische und westliche Innenarchitektur miteinander vereint: Reich verzierte Sitzkissen liegen auf großflächigen Terrakottafliesen, auf der Anrichte in der geräumigen Wohnküche steht eine Espressomaschine und mitten im Arbeitszimmer ein gläserner Schreibtisch.

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Für die in entfernten privilegierten Vierteln wohnenden indischen Eliten ist Arundhati Roy ein "enfant terrible". Dazu hatte schon ihr sprachgewaltiger Bestseller "Der Gott der kleinen Dinge" beigetragen, für den sie 1997 den Booker-Preis erhielt. Der Roman arbeitet die Erinnerungen an ihre eigene Kindheit im südindischen Bundesstaat Kerala auf, wo sie mit ihrer Mutter Mary Roy, einer Frauenrechtsaktivistin, aufwuchs. Im "Gott der kleinen Dinge" bricht die Protagonistin mit allen gesellschaftlichen Konventionen und beginnt mit einem Angehörigen einer niedrigeren Kaste ein Liebesverhältnis. Der Liebhaber muss dafür mit dem Leben bezahlen, er wird von der Polizei erschlagen.

"Ich wollte auf jeden Fall weg aus dem kleinen Dorf", blickt Arundhati Roy zurück, "und zwar so schnell wie möglich und ohne jemanden heiraten zu müssen." Dabei hätten die Männer wegen ihr "nicht gerade Schlange gestanden", sagt Roy und lächelt: "Ich hatte sämtliche Eigenschaften, die indische Männer an Mädchen nicht mögen: Ich war dünn, dunkelhäutig und klug."

Arundhati Roy wurde 1959 in der nordostindischen Stadt Shillong geboren. Sie war Hippie in Goa, Drehbuchautorin, Schauspielerin und studierte Architektur in Florenz. Sie wurde eine weltberühmte Autorin – die protestierte: zum Beispiel gegen Staudammprojekte der Bundesstaatsregierung, die sie festnehmen ließ. Auch westlichen Regierungen gilt die scharfe Kritikerin von Kapitalismus und Globalisierung mittlerweile als persona non grata. Denn spätestens seit dem Krieg gegen Afghanistan hat Arundhati Roy ihren Weltruhm genutzt, um ihre Stimme gegen die westliche Wirtschafts- und Militärpolitik zu erheben.

Gemessen an ihren Möglichkeiten lebt Arundhati Roy in bescheidenen Verhältnissen. Eine halbe Million Britische Pfund (etwa 800.000 Euro) hatte sie Mitte der 90er Jahre allein als Vorschuss für ihren Roman erhalten. In Indien ist das sehr viel Geld. Einen großen Teil davon hat sie an die Bewegung gegen den Bau des umstrittenen Narmada Staudammes im Bundesstaat Gujarat gespendet, um den Kampf der ansässigen Bevölkerung gegen ihre Vertreibung zu unterstützen. "Eingeklemmt zu sein in einem engen Kokon von Erfolg, Ruhm und Wohlstand ist für mich ein Albtraum", sagt Roy.

Aber die Schriftstellerin will auch von den in Indien starken sozialen Bewegungen, für deren Anliegen sie sich immer wieder einsetzt, nicht instrumentalisiert werden. "Es ist eine Art Gratwanderung, bei der ich versuche meine Unabhängigkeit zu wahren und gleichzeitig ihre politischen Anliegen zu verstehen und zu unterstützen", beschreibt sie den Balance-Akt. "Als Schriftstellerin will ich so frei sein, auch manchmal jemanden zu enttäuschen."

Arundhati Roy will nicht zur Führerin einer Bewegung werden. "Ich bin viel mehr wie eine Schülerin, die im hinteren Teil der Klasse sitzt und über den Lehrer lacht", beschreibt sie sich selbst. Zweifeln, sich auf neue Welten einlassen, in Ruhe nachdenken – das ist ihre Art. "Ich empfinde es als tragisch, dass im Westen der Zweifel gestorben ist, es gibt dort so viel Gewissheit über den einzuschlagenden Weg, den Fortschritt, den Erfolg, über Richtig und Falsch."

Am 24. November wird Arundhati Roy fünfzig Jahre alt. Sie ist zum zweiten Mal verheiratet, mit dem Filmemacher Pradip Krishen, lebt aber alleine und hat bereits im jungen Alter entschieden, keine Kinder zu haben.

Eigentlich, so hat Arundhati Roy 2007 angekündigt, will sie einen neuen Roman schreiben. Es ist mehr als zehn Jahre her, dass ihr erster und bisher einziger Roman, der "Gott der kleinen Dinge", veröffentlicht und zum Welterfolg wurde. Danach hatte sie sich auf das Schreiben politischer Essays verlegt. "Angefangen habe ich 1998, aus Anlass der Atombombentests in Indien", erzählt Roy. "Manchmal muss man aber auch Romane schreiben, weil man gewisse Dinge nur in einer fiktiven Geschichte ausdrücken kann." Über den Inhalt ihres neuen Romans möchte sie nicht reden. "Meine politischen Essays entstehen aus Diskussionen mit vielen Menschen, sind gewissermaßen ein Gemeinschaftsprodukt, aber Romane sind eine sehr persönliche Sache."

Doch die politischen Ereignisse lassen der Schriftstellerin kaum Zeit, an ihrem "großen Geheimnis" zu arbeiten. Die Wirklichkeit holt sie immer wieder ein: Illegale Hinrichtungen durch die Polizei, die Ausbeutung und Vertreibung der Landbevölkerung, der wachsende Einfluss und die Gewalt der Hindu-Nationalisten gegen Minderheiten in Indien, das sind die Themen, die sie in ihren Essays anprangert.

Der terroristische Angriff auf Mumbai war Gegenstand eines ihrer jüngsten Essays, das auch der britische Guardian unter dem Titel "The Monster in the Mirror – das Monster im Spiegel" abdruckte. Darin kritisierte die Autorin einerseits die Destruktivität des Terrors, wies aber auch auf drei unbewältigte Ereignisse in der aktuellen Geschichte Indiens hin, die den Terrororganisationen junge Muslime regelrecht in die Arme treiben: Die militärische Besatzung Kaschmirs, die Zerstörung der Babri Moschee 1992 und das ungesühnte Massaker von Gujarat im Jahre 2002, bei dem mehr als 1.000 Muslime ermordet wurden, darunter Frauen und Kinder. Salman Rushdie, ebenfalls Träger des Booker-Literaturpreises, kritisierte den Text. Sie wecke die Illusion, "der Terrorismus würde von der Welt verschwinden, wäre einmal die Ungerechtigkeit beseitigt", polemisierte er auf einer Literatenveranstaltung in den USA zu den Anschlägen von Mumbai.

Besonders verhasst ist Arundhati Roy den Hindu-Nationalisten der Indischen Volkspartei BJP, der größten indischen Oppositionspartei. Deren Spitzenkandidat Lal Krishna Advani forderte auf Wahlkampfveranstaltungen sogar das Verbot eines ihrer Bücher. Im vergangenen Sommer hatte Roy sich für ein Referendum über die Unabhängigkeit in Kaschmir ausgesprochen. In dem kleinen Land sind eine halbe Million indischer Soldaten und Paramilitärs stationiert. Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist an der Tagesordnung. Grund genug für Arundhati Roy, das Wort zu ergreifen. "Ich schäme mich dafür, was dort auch in meinem Namen der Bevölkerung angetan wird", sagt sie.

Im August 2008 war die Inderin in Kaschmir, als die Bevölkerung für ihre Unabhängigkeit von Indien demonstrierte. "Alle waren auf den Straßen, auch Kinder und Frauen, und riefen im Sprechchor ‚Azadi‘", das heißt Würde und ist der Ruf nach Unabhängigkeit in Kaschmir, nach Souveränität und Selbstbestimmung. Die Reaktionen auf Roys Sympathie-Erklärung waren heftig. "In sämtlichen Fernsehprogrammen hieß es, jetzt hätte ich die Grenze endgültig überschritten und alle Politiker – von BJP bis Kongress-Partei – forderten, mich ins Gefängnis zu stecken und den Schlüssel zur Zelle wegzuwerfen. Ich sei eine Verräterin", erzählt Roy – und lächelt. "Ich trage das als Ehrenauszeichnung. Es würde mich beunruhigen, wenn sie aufstehen und Beifall klatschen würden."

Arundhati Roy hat keine Bodyguards. Der Zuneigung vieler einfacher Inderinnen und Inder, ob so genannte "Kastenlose", Ureinwohner, Feministinnen oder Kleinbauern, ist sie sich sicher. "Wenn ich irgendwo hin komme und mich vorstelle, werde ich sofort willkommen geheißen und eingeladen", berichtet sie. Schreiben ist für diese Autorin "eine Art Kampf, und zwar ein sehr lebendiger".
                                  
Arundhati Roy in Berlin: Am 9. September eröffnet sie das 9. Literaturfestival (um 18 Uhr, im Haus der Berliner Festspiele).

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