Das Model

Christine Telger würde gern mal "die ausgeflippte Omi spielen, mit einem jüngeren Mann." - Foto: Felix Broede
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Eigentlich will Christine Telger nach ihrer Pensionierung Nomadin werden. Ins Ausland gehen, aus dem Koffer leben und jedes zweite Jahr in eine andere Stadt ziehen. Barcelona, London, New York – das ist ihr Plan. Doch dann besucht sie ihren ältesten Sohn in Berlin, entdeckt die Stadt.

Also verlässt Christine Telger kurzerhand ihr irgendwo zwischen Hannover und Hamburg gelegenes Haus und mietet sich eine Wohnung direkt am Checkpoint Charly. Hier im Herzen Berlins genießt sie die Urbanität. Hütet den neugeborenen Enkel, findet einen neuen Lebensgefährten, geht ins Theater, zu Konzerten, ins Kino. Bis sie eines Tages als Model entdeckt und vom Fleck weg engagiert wird.

Von der Straße auf den Laufsteg und ins Fernsehen – dieser Traum vieler junger Mädchen wird für Christine Telger im Alter Wirklichkeit.

Die gelernte Kinderkrankenschwester hatte einst einen Bundeswehroffizier geheiratet, drei Kinder bekommen und war Hausfrau geworden. „Ich hatte den Eindruck, dass mein Mann immer schlauer wird und ich immer dümmer. So konnte es nicht weitergehen.“ Christine Telger beschließt, das Abitur nachzuholen. Als sie ihr Studium Deutsch und Geschichte auf Lehramt beginnt, ist sie 35 Jahre alt und gerät an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg direkt mitten in die linke Studentenbewegung. „Das fand ich eine interessante Zeit!“

Christine Telgers linkspolitische Orientierung, ihr unautoritärer Erziehungsstil und ihr Streben nach Unabhängigkeit führen zu immer größeren Differenzen mit ihrem Mann. Die Ehe wird geschieden. Zwei Kinder bleiben beim Vater, der 17-jährige Sohn bei ihr.

30 Jahre lang ist Christine Telger mit Leib und Seele Lehrerin an einer Grundschule. Einfluss nehmen will Christine Telger auch mit ihrer neuen Tätigkeit. Als Model geht es ihr um die Sichtbarmachung von älteren Frauen in der Gesellschaft. Sie kritisiert das Verschwinden der Frauen ab einem gewissen Alter in der öffentlichen Wahrnehmung. „Viele meiner Freundinnen mögen sich überhaupt nicht mehr. Die schauen sich noch nicht mal im Spiegel an. Es ist mir wichtig zu zeigen, dass ältere Frauen durchaus im Leben stehen, dass sie etwas tun, sich schön machen und aktiv sind. Für mich ist Schönheit wichtig. Da investiere ich auch tüchtig, mache Fitness, achte auf meine Ernährung.“ Und: „Dass man sich im Alter auch noch Neues zutrauen muss, ist eine meiner Botschaften.“

Während die Kinder und Enkelkinder „Oma Christine“ als Model feiern und ihre ehemaligen SchülerInnen sie auf Facebook kontaktieren, um ihr zu dem einen oder anderen Werbespot zu gratulieren, reagieren manche der gleichaltrigen Freundinnen eher mit Zurückhaltung. „Vielleicht gibt es Neid darauf, dass ich mich das einfach traue. Wichtig ist doch, dass man nicht sagt, okay, jetzt bin ich bald 80, jetzt ist bald Schluss.“

Best Ager-, Silver- oder Senior-Models heißen Menschen über 50, die ihr Geld mit Werbung oder auf dem Laufsteg verdienen. Im Unterschied zu jungen Modellen spielen bei ihnen ein paar Falten, graue Haare oder Extra-Kilos keine Rolle. Was zählt? Glaubwürdigkeit und verkörperte Lebenserfahrung. „Modeln hat für mich überhaupt nichts damit zu tun, dass man jung ist, nicht mal, dass man schlank ist, oder dass man keine Falten hat.“

Tatsächlich sind Senior-Models in den Industrieländern auf dem Vormarsch. Dem demografischen Wandel entsprechend ist die Generation 50 plus als Konsumentin inzwischen in den Blick der Marketingstrategen gerückt. Mit mehr als 50 Prozent Marktanteil sind sie die zahlungskräftigste und kauffreudigste Generation. Christine Telger: „Wir möchten nicht mehr eine Creme an einer 20-Jährigen mit glatter Haut sehen, die wir mit 60 plus kaufen sollen. Das ist nicht glaubwürdig.“ Sie ist gleich bei mehreren Modelagenturen vertreten. Zwischen fünf und zehn Fotoshootings und Werbespots für Film und Fernsehen absolviert sie pro Jahr. Ungefähr viermal so häufig muss sie dafür aber vorher an Castings teilnehmen. „Da sitzen dann ganz unterschiedliche Frauen. Die eine hat einen strengen Haarknoten, die andere macht auf poppig, und der Kunde muss sich dann entscheiden.“ Welches Image sie selbst verkörpert? „Ich werde immer gebucht als die freundliche, zuverlässige, sehr umgängliche Frau, die man gerne bei sich zu Hause hätte.“

Auch wenn sie aufgehört hat, langfristige Pläne zu schmieden, eines steht für 81-Jährige fest: Modeln will sie solange, wie es ihre Gesundheit zulässt. Ihr größter Wunsch dabei: „Ich würde gerne mal die ausgeflippte Omi spielen. Die wäre flott angezogen, würde tanzen und hätte einen wesentlich jüngeren Mann.“

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