Das Problem, das jetzt einen Namen hat!

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Es gibt gerade einen Satz, der die Timelines im Internet flutet, sei es auf Twitter oder auf Facebook. Er lautet in etwa so: „Erst dachte ich ja noch: Wie gut, dass ich selbst auf der Arbeit/ beim Weggehen/ in meiner Beziehung verschont geblieben bin. Aber als ich jetzt apropos der Affäre Weinstein das erste Mal länger darüber nachgedacht habe, habe ich mich plötzlich erinnert, wie oft ES eigentlich passiert ist!“ Dieses ES hat die US-Schauspielerin Alyssa Milano („Charmed“) am vergangenen Sonntag in einem knappen Hashtag zusammengefasst: #metoo! Auch ich! Auch ich bin eine Betroffene von sexueller Gewalt (EMMA berichtete).

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Ich selbst bin ja zum Glück gar nicht betroffen ... oder?

Mit ihrer Aktion wollte Milano das immense Ausmaß des Problems zeigen, mit dem Frauen auf der ganzen Welt zu kämpfen haben. Das hat funktioniert. Und ganz nebenbei ist dabei in den hunderttausenden Erfahrungen, die Frauen seither teilen, eine noch tiefer liegende Problematik ans Licht gekommen: Der Sexismus bzw. die sexuelle Gewalt ist so normal, dass die Frauen selbst sie häufig gar nicht mehr als solche wahrnehmen. Stattdessen denken wir: Also, mir ist das ja noch nie passiert … oder?

54 Jahre nach dem Erscheinen von Betty Friedans Klassiker „Der Weiblichkeitswahn“ und 42 Jahre nach Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied - und seine großen Folgen“ haben die Frauen wieder mit einem Problem zu tun, „das keinen Namen hat“ - nur, dass es diesmal nicht um das Hausfrauendasein oder die sexuelle Misere und die Folgen geht. Und es brauchte offenbar einen Mammut-Fall wie Weinstein, um dem Problem einen Namen zu geben.

„Warum nur haben alle so lange geschwiegen?“ Das ist auch so eine Frage, die seit der Veröffentlichung der Vorwürfe gegen Weinstein in der New York Times und im New Yorker Anfang Oktober immer wieder gestellt wird. Und es ist eine gute Frage, nicht nur in Richtung Hollywood. Vielleicht ja auch, weil Schauspielerinnen von Kindesbeinen an eingetrichtert wird, dass diese Übergriffe halt „zum Geschäft dazu gehören“.

Und es sind ja nicht nur die tatsächlichen Übergriffe. In der nächsten EMMA (ab 26. Oktober im Handel) wird ein Essay der Porno-Kritikerin Gail Dines erscheinen, in dem sie analysiert, wie die Porno-Kultur über Jahrzehnte die gesamte Popkultur durchdrungen hat – so stark, dass Mädchen und Frauen gar keine Pornos mehr schauen müssen, um darauf dressiert zu werden. Die Normalisierung der sexuellen Übergriffe trifft also auf eine (Männer)Kultur, in der die ständige Verfügbarkeit, die Hypersexualisierung von Frauen als angesagt gilt. Und das ist eine explosive Mischung.

Was sagen eigentlich Weinsteins Komplizen dazu?

Deswegen sagen die Frauen gerade ja auch nicht nur ganz laut „me too!“. Sie fragen auch: Was sagen eigentlich jetzt all diejenigen, die seit Jahrzehnten als Komplizen von Männern wie Weinstein agiert haben? Oder als Profiteure? Nicht nur in den USA, sondern auch in Frankeich oder in Deutschland. Zum Beispiel.

Und es gibt noch einen lakonischen Satz, der in diesen Tagen häufiger auf Twitter oder Facebook gefallen ist: Wie viele Hashtags gegen sexualisierte Gewalt brauchen wir eigentlich noch? Die bittere Wahrheit ist: Sehr viele! Denn die Wucht der Reaktionen auf die Affäre Weinstein zeigt, wie viele Frauen sich eben immer noch nicht in einem frauenbewussten Milieu bewegen, in dem sie selbstverständlich mit ihren Freundinnen oder Kolleginnen, in Online-Gruppen oder beim Frauenstammtisch über ihre Erfahrungen sprechen können. Es sind die Tausende, die jetzt „Verdammt, ja, ich auch!“ sagen. Und die das erste Mal begreifen: Nein, es ist nicht normal!

Alexandra Eul

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Verpfeif dein Schwein!

Sie brechen das Schweigen: Alyssa Milano, Anne T. Donahue und Sandra Muller.
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Anne T. Donahue ist die Erste. Als die New York Times am 5. Oktober ihre Artikel-Serie über die Affäre Weinstein eröffnet, loggt sich die kanadische Journalistin auf Twitter ein. „Wann hast du DEINEN Harvey Weinstein getroffen? Ich fange an: Ich war eine 17-jährige Schülerin an einer Gemeinschaftsschule und er hat darauf bestanden, meine Schultern zu massieren, während ich tippte“, schreibt sie und klickt auf senden.

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Zehn Tage später hat der Tweet der Kanadierin fast 14.000 Likes, er ist 5.500 Mal geteilt worden – und rund 5.000 Frauen haben unter #MyHarveyWeinstein geantwortet. „Der übergriffige Fahrlehrer, der den Mädchen sagte, dass sie ihren Führerschein nicht bekommen, solange sie ihn nicht küssen“, schreibt eine. „Der Kollege, der mich in die Toilette gedrängt hat und mich dazu zwingen wollte, seinen Schwanz zu berühren. Seinen Job hat er immer noch“, eine andere.

Anne T. Donahue hat in ein Wespennest gestochen. Denn natürlich ist - wie Emma Thompson es in diesen Tagen formulierte - Weinstein „nur die Spitze eines ganz bestimmten Eisbergs“, den jede Frau kennt, nicht nur in der Filmbranche. Und so ist es auch nicht überraschend, dass inzwischen nicht mehr nur in Kanada, sondern auch in den USA und in Frankreich ganz ähnliche Aktionen im Netz laufen.

#Balancetonporc, Verpfeif dein Schwein, fordern die Französinnen auf. Angefangen hat die Journalistin Sandra Muller. Die hatte am Freitag auf Twitter geschrieben: „Erzähl auch du von deinen Erfahrungen mit sexueller Gewalt, die du in deinem Job erlebt hast. Und nenne Namen.“

Rund 50.000 haben reagiert. Eine berichtet: „Mein Redaktionschef hat mich an der Kehle gepackt und gesagt: Eines Tages werde ich dich ficken, ob du es willst oder nicht!“

Und die US-Amerikanerinnen schreiben: „Me too!“ Auch ich bin betroffen! Dazu hatte am Sonntag die Schauspielerin Alyssa Milano („Charmed – Zauberhafte Hexen“) auf Twitter aufgerufen: „Falls du auch sexuelle Gewalt erfahren hast, antworte mit ‚Me too’ auf diesen Tweet“. Ein Freund habe ihr das vorgeschlagen, schreibt Milano, „um den Menschen ein Gefühl für das immense Ausmaß des Problems zu vermitteln“. Es antworteten über 30.000 - innerhalb weniger Stunden.

Der Fall des Giganten Weinstein hat die Mauer des Schweigens eingerissen, hinter der Frauen sich ihr Leben lang verstecken. Aus Scham und natürlich auch aus Angst vor den Konsequenzen. Bemerkenswert: Bisher haben nur wenige Online-Trolle und Frauenhasser versucht, die Welle der Bekenntnisse und Solidarität zu sprengen.

Anders als bei vergleichbaren Aktionen in der Vergangenheit, wo sich der Ton rasch ins Gegenteil verkehrte. Wenn Frauen auf Twitter oder Facebook offen über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt gesprochen hatten, wurden sie erst Recht von einer Welle des Hasses überrollt und als „Schlampen“und „Lügnerinnen“ beschimpft.

Und in Deutschland kommt der Online-Protest auch in Fahrt, wenn auch mit etwas Verzögerung. Also: Verpfeif dein Schwein!

Alexandra Eul

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