Alice Schwarzer erinnert sich
Ich lese ihn immer wieder, und sei es in irgendeinem Blog, den vorwurfsvollen Satz: Alice Schwarzer hat nicht die Frauenbewegung gegründet! Stimmt. Ich habe das auch noch nie behauptet. Niemand hat die Frauenbewegung gegründet. Man gründet eine Partei oder Organisation, aber keine Bewegung. Schon der Name sagt ja, was es ist: Etwas ist in Bewegung geraten. Die ersten zwei, drei fangen an, es kommen Dutzende dazu, Hunderte, Tausende. Eine Bewegung ist geboren. So wie heute die weltweite Klimabewegung.
Auch der Aufbruch der Frauen beschränkte sich Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre zunächst auf die sogenannte Erste Welt. Da war die Spannung zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können, am größten. In den westlichen Demokratien hatte damals ein Bündel von Faktoren den Aufbruch der Frauen begünstigt. Wir Feministinnen waren die Töchter der Frauen, die im Krieg und danach ihren „Mann“ gestanden hatten und brüsk ins Haus zurückgeschickt worden waren, als die Männer zurückkamen. Diese Müttergeneration war frustriert, die Töchter zogen den Schluss: Das soll uns nicht passieren. Auch die Mütter selbst hatten das – oft unbewusste und meist wortlose – Signal gesendet: Mach du es besser!
Hinzu kam: Der 68er-Virus hatte auch die Frauen infiziert. Autoritäten wurden infrage gestellt, ja sogar die eigenen Männer, und neue Freiheiten erprobt, ja sogar sexuelle. Das wurde auch von der Pille gefördert, das erste sichere Verhütungsmittel in Frauenhand (das deutsche Frauenärzte bis in die 1970er Jahre nur verheirateten Frauen verschrieben). Allerdings machte diese Pille die Frauen gleichzeitig verfügbarer. Es gab Jungs, die fragten nun die Mädchen schon beim ersten Tanz: „Hast du heute schon geschluckt?“
Und nicht zuletzt benötigte der Markt Arbeitskräfte. Italiener, Spanier und eine Million Türken waren schon ins Land geholt worden. Jetzt also die „stille Reserve“ Frau.
Doch zum Auslöser der deutschen Frauenbewegung wurde der Kampf gegen den § 218. Der bedrohte alle Frauen in der BRD bei „Selbstabtreibung“ mit bis zu fünf Jahren Gefängnis und die Ärzte mit bis zu zehn Jahren. Sicher, im Jahr 1969 waren nur noch 269 Frauen wegen Abtreibung bestraft worden. Sie waren der Justiz sozusagen versehentlich in die Fänge geraten. Denn schließlich konnte man die – vor Pille und Aufklärung – geschätzte eine Million Frauen, die im Jahr allein in der BRD abtrieben, nicht alle ins Gefängnis stecken (die Zahlen aus der DDR sind nicht bekannt). Wer hätte denn dann die Kinder versorgt und den Haushalt gemacht?
Ein halbes Jahrhundert später treiben in ganz Deutschland nur noch knapp 100.000 Frauen im Jahr ab, also eine einstellige Prozentzahl im Vergleich zu BRD und DDR vor 50 Jahren! Was vor allem das Verdienst der Frauenbewegung ist. Dank Aufklärung, Eigenständigkeit und gestiegenem Selbstbewusstsein werden Frauen einfach seltener ungewollt schwanger.
Noch im Frühjahr 1971 hatte die frühfeministische Journalistin Sina Walden, die Tochter von Herwarth Walden, wütend in Brigitte geschrieben: „Deutsche Frauen verbrennen keine Büstenhalter oder Brautkleider, stürmen keine Schönheitskonkurrenzen und emanzipationsfeindlichen Redaktionen, fordern nicht die Abschaffung der Ehe und verfassen keine Manifeste zur Vernichtung der Männer. Es gibt keine ‚Hexen‘, keine ‚Schwestern der Lilith‘ wie in Amerika, nicht einmal ‚Dolle Minnas‘ mit Witz wie in Holland. Es gibt keine wüsten Pamphlete, keine kämpferische Zeitschrift, kein bedeutendes aufrührerisches Buch. Es gibt keine Wut.“
Nur wenig später sollte es all das geben. Fast all das. Aber noch herrschte Friedhofsruhe.
Bis am 6. Juni 1971 die Bombe platzte, das im Stern veröffentlichte Bekenntnis der 374: „Ich habe abgetrieben und fordere das Recht für jede Frau dazu!“ Das hatte in der Tat ich initiiert. Ich habe die Idee aus Frankreich, wo ich zu der Zeit lebte, nach Deutschland exportiert, den Stern dafür gewinnen können und die Unterschriften gesammelt. Genauer gesagt: Ich und viele, viele Frauen hatten die Unterschriften gesammelt. Die Hälfte der Bekennerinnen kam von drei Frauengruppen (die bis dahin vorwiegend mit Theorie und Marx-Schulungen befasst gewesen waren), die andere Hälfte von Nachbarinnen, Freundinnen, Kolleginnen, Passantinnen.
Ute Geißler, Arzttochter und damals Buchhändlerin in München sowie Aktivistin der „Roten Frauen“, erinnert sich an die Wochen vor Erscheinen des Appells. „Wir haben einfach einen Tapeziertisch besorgt, ihn vors Rathaus oder vor die Uni gestellt und dann Flugblätter zum Unterschreiben verteilt. Na, da kriegten wir was zu hören! Das Recht auf Abtreibung? Dann treibt ihr es ja noch toller! Oder: Dass ihr euch nicht schämt, ihr Flittchen! Aber auch: Endlich trauen Frauen sich! Wenn ich daran denke, was das für ein Elend war, als die Männer aus dem Krieg zurückkamen …“
373 Frauen und ich hatten die im Stern veröffentlichte Selbstbezichtigung unterschrieben. Ich bin oft gefragt worden, ob ich selbst abgetrieben habe. Nein, habe ich nicht. Ich hatte Glück und bin nie ungewollt schwanger geworden. Aber ich kenne nur zu gut die Angst davor. Meine Taschenkalender aus diesen Jahren sind übersät mit Kreuzen – Zeugen eines bangen Zählens und Wartens. Auch muss erinnert werden: Der Appell der 374 war ja kein Geständnis, sondern eine politische Provokation. Wir wenigen unter ihnen, die wir nie hatten abtreiben müssen, haben damals nicht öffentlich darüber gesprochen, damit es nicht als Distanzierung interpretiert werden konnte.
Diese 373 Unterzeichnerinnen hatten den Mut von Löwinnen. Sie wussten nicht: Wird mein Mann sich scheiden lassen? Wird meine Familie mit mir brechen? Werden meine Nachbarn noch mit mir sprechen? Verliere ich meine Stelle? Werde ich verhaftet? Sie waren wahre Heldinnen!
Nach der Veröffentlichung tauchte die Polizei bei der Münchner Gruppe der „Roten Frauen“ auf, Hausdurchsuchungen. Doch die Provokateurinnen blieben letztendlich ungeschoren. Denn laut Meinungsumfragen 1971 waren 79 Prozent aller Frauen und Männer für die Fristenlösung. Die Zeit war reif.
Aber war da nicht vorher schon mal etwas gewesen? Ja, doch. Die Frauen im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) hatten im September 1968 den Aufstand geprobt. Eine Tomate flog und eine feministische Brandrede wurde gehalten („Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich!“).
Die Filmemacherin Helke Sander hielt diese Rede. Sie ist eine der wenigen, die in beiden Phasen des Aufbruchs der Frauen aktiv waren: im Vorfrühling der Genossinnen 1968 wie im Sommer der Frauenbewegung ab 1971. In einer Rede erinnerte Sander sich 2018, wie sie zusammen mit einer Freundin im Dezember 1967 ein erstes Flugblatt an der Freien Universität verteilt hatte. Das habe gewirkt wie ein „Urknall“. Von da an traf sich der „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ einmal in der Woche im linken „Republikanischen Club“. Erstes Ziel: Die Gründung von „Kinderläden“ (in den in Berlin besonders häufig leerstehenden Läden), um das Problem der studierenden und politisierenden Mütter aktiv zu lindern. (Damals gab es 173 Kinderkrippen in Westberlin, erinnert sich Sanders, heute sind es 1.921 in ganz Berlin.)
Ein paar Männer waren auch dabei. Mit dem Resultat, dass die Genossen sehr bald den „Zentralrat der antiautoritären Kinderläden“ gründeten und darin umgehend die Führung übernahmen.
Und die Frauen? Die richteten sich (noch) nicht an die gesamte Gesellschaft, sondern nur an ihre Genossen. Sander: „Nach wie vor hielten wir die vor allem im SDS behandelten Themen für relevant. Wir wollten gemeinsam mit den Männern die Verhältnisse ändern.“ In Frankfurt gab es in der Zeit dieses wunderbare satirische Flugblatt, das ich allerdings erst später entdeckte: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!“ Dazu gezeichnete mickrige Pimmel, versehen mit jeweils dem Namen eines prominenten Genossen.
Wo befand ich mich zu dieser Zeit? Ich war Volontärin bei den Düsseldorfer Nachrichten und verfolgte die Ereignisse mit heißem Herzen in den Medien. Denn die 68er waren in Deutschland eine fast rein studentische Bewegung in den Metropolen; in Berlin, Frankfurt, München. In einer Stadt wie Düsseldorf herrschte Ruhe (nur Beuys sorgte mit seinen Aktionen an der Kunstakademie für Unruhe).
Im Spiegel las ich damals eine herablassende Glosse über die gerade entstehenden „Weiberräte“, die mit den Worten endete: „Selbst ein Mädchen, das mit intimem Anliegen von außen kommt und den nächststehenden Artgenossinnen etwas zuflüstern will, findet nur mühsam Gehör. Was will sie? Tampons! Hat eine vielleicht Tampons?“ Und ewig blutet das Weib… Ich war empört!
Knapp zwei Jahre später machte ich mich auf die Suche nach den revoltierenden Genossinnen. Inzwischen war ich Reporterin bei der Satire-Zeitschrift Pardon, die neben konkret als eine der Stimmen der APO (Außerparlamentarische Opposition) galt. Die einzige Journalistin in der Redaktion, klar. Ich war die Nachfolgerin von Günter Wallraff, war wie er auf Rollenreportagen spezialisiert und für ein paar Wochen ans Fließband in der Tachofabrik VDO gegangen. Die Arbeitsbedingungen dort waren katastrophal. Sogar die Seife zum Händewaschen mussten die Frauen selber mitbringen. Der Betriebsrat fand das „normal“ („Soll etwa die Firma die Seife kaufen?“). Und ich entkam nur knapp einem MeToo-Anschlag (des Vorarbeiters).
Nun wollte ich vom Frankfurter „Weiberrat“ wissen, was die Genossinnen denn zu solchen Verhältnissen sagen. Längere Recherchen und sodann eine Frauen-WG in Bockenheim. Auf dem Tisch Berge marxistischer Literatur: die blauen Bände von Marx, Bücher des Trotzkisten Ernest Mandel (mit dem ich mich Jahre später befreunden sollte), von den frauenbewegten Sozialistinnen Clara Zetkin und Alexandra Kollontai – und auch „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir. Immerhin. Doch mein Anliegen wurde als unpassend empfunden. Wir sind noch nicht in der Lage, uns zu solchen Problemen zu verhalten, hieß es. Wir bereiten uns zurzeit mit Marx-Schulungen auf den Klassenkampf vor. Die wenigen versprengten linken Frauengruppen waren, ganz wie die gesamte außerparlamentarische Linke, zersplittert und erstarrt.
Weitere zwei Jahre später, im Mai 1971, stehe ich erneut vor dem Frankfurter „Weiberrat“. Diesmal will ich ihn für die Abtreibungsaktion gewinnen. Etliche unter den zwei Dutzend Frauen würden auch nur zu gerne mitmachen, doch die Leaderinnen Margit und Hilde bescheiden mich: Als Sozialistinnen nehmen wir an so einer „reformistischen und kleinbürgerlichen Aktion“ nicht teil. Allerdings: Nachdem der Appell am 6. Juni erschienen war, verstanden die Frankfurterinnen schnell. Sie stiegen ein, gründeten ein Frauenzentrum, machten Schwangerschaftsberatung und provokante Aktionen wie die öffentlich angekündigten „Fahrten nach Holland“, wo Frauen damals zum Abtreiben hinfuhren.
Die Frankfurter Genossen hatten direkt nach Erscheinen des Stern noch versucht, die Genossinnen einzuschüchtern. In dem linksradikalen Verlag „Roter Stern“ erschien ein Buch von Clara Zetkin „Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands“, im Nachwort schnarrte KD Wolff (später der Verleger der Werke von Friedrich Hölderlin) im Juni 1971: „Nicht von der bornierten und ständischen Interessenvertretung der bürgerlichen Frauenbewegung der Jahrhundertwende unterscheiden sich die Initiativen westdeutscher Bildmagazine und ihrer Schauspielerklientelen zur Abschaffung des § 218. Wer von Frauenbewegung redet und den Zusammenhang im antikapitalistischen Kampf nicht einmal berührt, hätte besser geschwiegen.“
Wenig später machten die Genossen eine 180-Grad-Wendung. Nun erklärten sie den § 218 zu einer „der Hauptblockaden auf dem Weg in die Frauenbefreiung im Spätkapitalismus“.
Doch viele der linken Frauen brauchten diesen Segen nicht mehr. Sie hatten erkannt: Auch der Sieg des Sozialismus würde nicht automatisch ihre Probleme lösen, siehe die realsozialistischen Länder. Und auch die eigenen Genossen waren Machos. Den Frauen wurde klar: Die spezifische Unterdrückung der Frauen ist – jenseits von Klassen, Kulturen oder Ethnien – universell.
Anfang 1972 machte ich das erste einer Serie von Interviews mit Simone de Beauvoir, die mit ihrem Essay „Das andere Geschlecht“ weltweit die prägende Vordenkerin der neuen Frauenbewegungen war. Selbst sie hatte 1949 noch geschrieben, sie sei keine Feministin und hoffe auf den Sieg des Sozialismus, der dann ja automatisch auch die Frauen befreien würde. Inzwischen war Beauvoir von uns jungen Feministinnen kontaktiert worden und wurde zur „Wegbegleiterin“ der Strömung der „Radikalen“ im MLF (Mouvement de Libération des Femmes).
In dem Gespräch, das ich mit ihr 1972 führte, distanzierte sie sich von ihrer früheren Position und erklärte nun unumwunden: „Ich bin Feministin!“ Sie plädierte für eine autonome Organisation von Frauen und kritisierte scharf die patriarchale Linke. Das Gespräch wurde weltweit veröffentlicht und kursierte in zahllosen Frauengruppen als Raubdruck. Viele linke Frauen sahen sich nun bestärkt in ihrem erstarkenden feministischen Bewusstsein.
Kommt uns das im Jahr 2020 alles irgendwie bekannt vor? Ja. Die Parallelen sind unübersehbar. Nur: Was früher „Klassenkampf“ hieß, heißt heute „Anti-Rassismus“. Denn der internationalen Linken ist inzwischen das Proletariat verloren gegangen, also stürzt sie sich auf neue „Verdammte dieser Erde“ (Fanon), darunter die Muslime. Wieder einmal wird Stellvertreterpolitik betrieben. Die einst von der Linken als „bürgerlich“ diskriminierten Feministinnen gelten heute als „privilegierte Weiße“.
Dabei war die Frauenbewegung vor einem halben Jahrhundert aufgebrochen, weil sie verstanden hatte: Alle Frauen sind Opfer des Patriarchats: weiße wie schwarze; bürgerliche wie proletarische; christliche wie muslimische und jüdische oder nichtgläubige. „Frauen gemeinsam sind stark!“ lautete die alle einende Parole. Doch in den letzten Jahren hat sich weltweit ein gegenteiliger Trend verschärft: Nicht mehr das Einende wird betont, sondern die Differenz. Nicht Gleichheit und Gemeinsames werden angestrebt, sondern Unterschiede und Abgrenzungen. Die vor allem im akademischen und linken Milieu grassierende „Identitätspolitik“ versucht, dem Ideal der Aufklärung, dem alle einenden Universalismus – gleiche Rechte und Chancen für alle! – den Garaus zu machen.
Nicht nur sozial (gender), sondern auch biologisch (sex) soll es nun überhaupt keine Frauen und Männer mehr geben, ergo auch keine patriarchalen Machtverhältnisse. Die Frontlinie verläuft nicht mehr zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Frauen. Die einen, die „Cis“-Frauen, stehen dazu, weiblichen Geschlechts zu sein – mit all den Folgen, die das in einer patriarchalen Welt hat. Die anderen halten das biologische Geschlecht für relativ und leugnen die sozial-psychologischen Folgen des Frauseins. Wieder einmal wird das Trennende betont, statt auf das Gemeinsame zu setzen. Es ist eine uralte Strategie: Frauen spalten.
Doch zurück in das Jahr des Aufbruchs. In dem Bericht, den ich begleitend zu dem Appell der 374 für den Stern geschrieben habe, hatte ich sehr bewusst meine Rolle bei der Aktion verschleiert. Ich wollte, dass es aussieht wie eine kollektive Frauenaktion – was es ja auch war. Und nachdem der Stern erschienen war und die Lawine rollte, ging ich zurück nach Paris, wo mein Leben, meine Arbeit und meine Frauenbewegung mich erwarteten.
Rasch aber erkannte ich, dass nach der ersten Euphorie etwas schieflief in der deutschen Debatte über das Abtreibungsverbot. Plötzlich redeten nur noch Männer: Kirchenmänner, Bevölkerungsexperten, Gynäkologen (damals noch ein Männerberuf). Und die Journalisten? Auch die, selbst die Liberalen und Linken, geißelten die Aktion der 374 als „Exhibitionismus“ (Süddeutsche Zeitung), „Konsumwahn“ und „Vernichtung unwerten Lebens“ (Frankfurter Rundschau). Stern und Spiegel waren pro, Bild für eine Einerseits/Andererseits-Strategie: eigentlich konservativ und gegen das Recht auf Abtreibung, andererseits als Boulevardblatt am Puls des Volkes – und das war pro.
Also versuchte ich, von Paris aus in den Sendern und Zeitschriften, in denen ich bisher problemlos noch jeden kritischen Text über Frankreich veröffentlichen konnte, nun über Abtreibung zu schreiben. Vergebens. Da ging die Klappe runter. „Das ist doch durch“, hieß es. Oder: „Ihr Frauen seid viel zu parteiisch. Da müssen jetzt Männer objektiv drüber berichten.“
Die folgenden Jahre waren für mich eine Art Doppelleben zwischen Deutschland und Frankreich. Drei Jahre lang pendelte ich zwischen Seine und Rhein, veröffentlichte in Deutschland erste Bücher über Frauen, um die Zensur der Medien zu umgehen, und blieb gleichzeitig Korrespondentin in Paris und aktiv in der Pariser Frauenbewegung. Im Gegensatz zur deutschen Frauenbewegung war die französische sehr bunt und divers in Alter, Lebenslagen und Herkunft. Zu meinen besten Freundinnen zählten eine Brasilianerin, eine jüdische Algerierin und Anne Zelensky, eine in Afrika geborene Russin. Auch etliche Künstlerinnen und Schriftstellerinnen waren aktiv, darunter die Schauspielerin Delphine Seyrig sowie die Schriftstellerin Monique Wittig (von der Judith Butler sich stark hat inspirieren lassen).
Im August 2020 haben die Französinnen den 50. Jahrestag ihrer Bewegung gefeiert und mich, „l’allemande“, dazu geladen. Ich war gerührt. Wir waren damals in Frankreich knapp ein Jahr vor den Deutschen gestartet.
Auch an der Sorbonne hatten die Studentinnen bereits im Mai 68 ein gewisses Unbehagen gehabt. Es folgten, ganz wie in Deutschland, Theoriegruppen wie „Marxismus-Feminismus“, in denen lange und leidenschaftlich diskutiert wurde. Doch den Schritt über die akademische Szene hinaus machten auch die Französinnen erst am 26. August 1970. Da schritt ein knappes Dutzend Frauen, darunter Monique Wittig, feierlich zum „Grab des unbekannten Soldaten“, das unter dem Arc de Triomphe liegt, und legte einen Kranz nieder: „Für die unbekannte Frau des unbekannten Soldaten“. Die Medien berichteten über die pfiffige Aktion. Der Startschuss für das „Mouvement de Libération des Femmes“ (MLF) war gefallen. Ein paar Wochen später waren wir schon zwei, drei Dutzend, darunter ich; zwei, drei Monate später schon Hunderte, die sich jeden Mittwoch in der Mensa der Beaux Arts trafen; wenig später Tausende im ganzen Land.
Meinen Taschenkalendern aus den Jahren entnehme ich, dass ich zwischen Sommer 1971 und Sommer 1974 mindestens einmal im Monat in Deutschland war. Nicht nur, um wie bisher Sendungen im Rundfunk aufzunehmen oder mit Redaktionen zu verhandeln, sondern auch, um zu recherchieren.
Im Herbst 1971 erschien in der edition suhrkamp mein erstes Buch: „Frauen gegen den § 218“, im Herbst 1973 das zweite: „Frauenarbeit – Frauenbefreiung“. Für die beiden Bücher hatte ich mit je 18 bzw. 15 Frauen gesprochen, ausgewählt so repräsentativ wie möglich. Ich wollte, dass eine maximale Anzahl von Leserinnen sich identifizieren konnte. Die Frauen in dem §-218-Buch hatten zusammen 41 Kinder und 43 Abtreibungen hinter sich, elf (!) von ihnen waren Hausfrauen, die meisten engagiert in der „Aktion 218“. Auch die Frauen in dem Arbeitsbuch waren ganz „normale“ Frauen.
Ich gab den Frauen eine Stimme, verdichtete die Gespräche zu Monologen (Protokollen) und stellte den analytischen Teil hintan. Es waren diese Gespräche, die mich radikalisiert haben. Diese Verzweiflung. Diese Abhängigkeit. Diese Sprachlosigkeit. So schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt. Für mich taten sich Abgründe auf.
Ich erinnere mich bis heute an den Satz der Ehefrau eines Arbeiters am Münchner Nockherberg. Am Anfang hatte sie ungefragt zu mir gesagt: „Ich bin glücklich.“ Ich habe ihr nicht widersprochen. Und eine halbe Stunde später hat sie es fast rausgeschrien: „Was soll ich denn tun? Ich habe vier Kinder und kein eigenes Geld! Ich kann gar nicht gehen. Soll ich aus dem Fenster springen?“ Oder die Hausfrau, die über den Sex mit ihrem Mann gesagt hat: „Währenddessen denke ich nur daran“, an die Angst, schwanger zu werden.
Ich engagierte mich also verstärkt, schrieb über die Verzweiflung und Revolte der Frauen und versuchte, so auch zur Frauenbewegung in der Bundesrepublik beizutragen. In meinem zweiten Buch 1973 (und später auch im „Kleinen Unterschied“) veröffentlichte ich im Anhang alle mir bekannten Adressen von Frauengruppen in der BRD und Westberlin, die ich via Rundschreiben „an alle“ gesammelt hatte, die in Österreich und der Schweiz gleich dazu. Allein in Westdeutschland waren es 1973 genau 44, zwei Jahre später 74 Gruppen.
Schon die Namen der Gruppen verraten, woher diese frühe Frauenbewegung kam und wie vielfältig sie war. Für manche Städte steht da nur die Privatadresse einer einzelnen Frau, für andere „Frauen im revolutionären Kampf“ (Frankfurt), „Frauenzentrum“ (Berlin) oder „Interessengruppe Frauenemanzipation“ (Wiesbaden). Die meisten Gruppen aber hießen schlicht „Aktion 218“. Zu den wiedererwachten Genossinnen und überwinterten Frauenrechtlerinnen waren nun die empörten Frauen von nebenan gestoßen.
Tonangebend allerdings wurden rasch die politerfahrenen Genossinnen. Sie führten in Deutschland eine in den internationalen Frauenbewegungen eher unbekannte Rigidität und Bürokratismus ein. Ich erinnere mich, wie ich im Februar 1972 aus Neugierde zum ersten „Delegiertentreffen“ in Sachen Abtreibung nach Frankfurt gefahren war (nachdem ich den Stern-Appell angezettelt und das Buch über Abtreibung veröffentlicht hatte). In dem kleinen Raum drängelten sich etwa drei Dutzend Frauen aus der ganzen BRD und Westberlin. Es wurde berichtet und diskutiert. Doch als ich die Hand hob, um etwas beizutragen, wurde ich beschieden: Du hast kein Rederecht, Alice, du bist keine „Delegierte“.
Bei der Gelegenheit lernte ich auch, was es bedeutet, wenn eine zwei Hände hebt: Das ist eine Meldung zur Geschäftsordnung, da kommt man gleich dran und nicht erst, wenn das Thema, zu dem man etwas beitragen will, schon lange durch ist. Ich erinnere mich noch genau: Als ich so dasaß und zuhörte, packte mich plötzlich eine unbändige Lust: Und wenn ich jetzt auf den Tisch springe und einen Striptease mache? – Ich war und bin einfach hoffnungslos anarchisch.
In den deutschen Frauenzentren ging es sehr unterschiedlich zu. Es gab Zentren, die waren homogener, eher studentisch wie Aachen oder eher proletarisch wie Dortmund, und es gab Zentren, die zerriss es fast wegen ihrer Heterogenität. Meist hatten die politikerfahrenen Frauen die Zentren gegründet – doch dann kamen die „Frauen von nebenan“ dazu. Die trugen keine Jeans mit Parka, sondern kamen in Rock und Bluse. Und nicht nur die Kleidung unterschied sich, auch die Sprache. Gleichzeitig taten sich beide Lager schwer, als Frauen öffentlich die Stimme zu erheben, hatten beide schon mal abgetrieben oder waren als Kind missbraucht, als Frau vergewaltigt worden. Manche Frauenzentren schafften es, fast alle zu integrieren – bei anderen blieben die „Frauen von nebenan“ irgendwann auf der Strecke.
Ich war im Berliner Frauenzentrum in Kreuzberg, Hornstraße 2, auch eher exotisch. Ich war 31 Jahre alt, voll im Beruf, hatte zwei Bücher veröffentlicht und arbeitete für Funk und Fernsehen. In Paris war ich unter Gleichaltrigen und Älteren gewesen, darunter auch bekannte Schriftstellerinnen oder Stars. Hier in Berlin waren die meisten noch Studentinnen oder kamen aus der alternativen, linken Szene. Das passte nicht immer zusammen.
Ich erinnere mich an die Szene mit Regula, die mit den mattblonden Zöpfen. Wir schreiben das Jahr 1974. Es ging um die Strategie beim Kampf gegen den § 218. Ich warf spontan – wie ich es aus Paris gewohnt war – etwas ein. Da maßregelte mich Regula: „Alice, du bist noch gar nicht dran. Und überhaupt: Immer weißt du alles besser.“ Ich schwieg. Zunächst. Dann sagte ich quer durch den Raum zu Regula: „Und was ist, wenn ich es wirklich besser weiß, Regula?“ – „Dann sollst du auch den Mund halten!“, herrschte Regula mich an.
Das gab mir zu denken. Ich habe nichts gegen die Regulas dieser Welt, aber ich will auch nicht werden wie sie. Ich war nicht in der Frauenbewegung, um mich mit den Frauen auf dem kleinstmöglichen Nenner zu treffen. Ich war für die größtmögliche, gemeinsame Herausforderung!
Sehr bald regten sich nach der anfänglichen Frauen-gemeinsam-sind-stark-Euphorie die ersten Differenzen. Das Gift des Schwesternstreits schlich sich ein. Die Motive dafür waren vielfältig: von politischen Differenzen bis zu persönlichen Rivalitäten. Sozialistinnen gegen Autonome, Mütter gegen Nicht-Mütter, Lesben gegen Heteras.
Und auch ich geriet ins Visier. Denn in der Tat: Meine Situation war durchaus ambivalent. Ich war eine erfolgreiche Journalistin und schrieb nun auch über Frauen und die Frauenbewegung. Das konnte nicht jeder gefallen, vor allem denen nicht, die politische Differenzen mit mir hatten. Schließlich war ich unter anderem eine scharfe Kritikerin der patriarchalen Linken und auch fernab jeglicher esoterischen Schwärmerei. Es gab die ersten Gehässigkeiten und „Offenen Briefe“ gegen mich. Doch da waren gleichzeitig auch meine neuen Freundinnen, mit denen ich zusammenarbeitete, und die vielen, vielen Frauen, die Hoffnungen in uns Feministinnen setzten.
Im Sommer 1974 kehrte ich endgültig zurück nach Deutschland. Ich zog nach Berlin. West-Berlin. Dort wohnte meine neue Freundin Ursula. Mit ihr zettelte ich in den Jahren 1974 bis 1976 so manche Aktion an. Zum Beispiel die Aktion „Letzter Versuch“, mit der wir 1974 die Fristenlösung erkämpfen und die zögernde SPD auf unsere Seite zwingen wollten.
Dazu initiierten wir, gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiterinnen, vom Hinterhof in Kreuzberg aus mit Matrizen-Abzügen und zum Postamt getragenen Briefen (es gab noch nicht einmal Faxe, vom Internet ganz zu schweigen) eine Selbstbezichtigungsaktion von 329 ÄrztInnen, veröffentlicht im Spiegel; meinen TV-Beitrag am 11. März in Panorama über einen provokant öffentlich angekündigten Schwangerschaftsabbruch mit der in Deutschland bis dahin noch unbekannten, schonenden Absaugmethode; sowie einen bundesweiten Protesttag am 16. März von Tausenden von Frauen in der ganzen Bundesrepublik und Westberlin.
Unsere Rechnung ging auf. SPD-Chef Herbert Wehner persönlich trieb die Genossen zum Jagen. Er hatte begriffen: Ohne die Frauen würde die SPD die nächste Wahl verlieren.
Am 5. Juni 1974 bekamen wir unsere Fristenlösung (wenn auch nicht für lange). Nur ein Sozialdemokrat hatte während der Abstimmung den Saal verlassen: Kanzler Willy Brandt. Begründung: Er sei unehelich geboren – und mit einem Recht auf Abtreibung für die Frauen gäbe es ihn nicht.
Damals arbeitete ich als freie Mitarbeiterin für das wichtigste politische TV-Magazin, für Panorama, geleitet von Peter Merseburger. Ihm hatte ich den Beitrag über die Abtreibung vorgeschlagen. Der unerschrockene Merseburger sagte Ja. Ich gestehe, ich verschwieg, dass ich nicht nur die Berichterstatterin war, sondern auch die Initiatorin. Bis heute habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber ich konnte es Merseburger einfach nicht sagen, er hätte dann meinen Beitrag abblasen müssen.
Die öffentlich angekündigte Abtreibung wurde in Berlin gedreht, unter dramatischen Umständen. Doch alles ging gut. Mein Beitrag wurde am späten Sonntagabend vor der Ausstrahlung am Montag als „korrekt“ von Merseburger und dem NDR-Intendanten Neuffer abgenommen. Doch am Montagmittag wurde die Ausstrahlung überraschend in letzter Minute gestoppt. Die ARD-Intendanten hatten sich in einer Telefonkonferenz kurzgeschlossen und die Ausstrahlung untersagt. Daraufhin zog Merseburger die ganze Sendung zurück und strahlte 45 Minuten lang ein leeres Studio aus. Welcher TV-Journalist würde heute noch so etwas wagen?
Das Verbot der Panorama-Sendung war der bis heute eklatanteste Fall von Zensur in der Geschichte der ARD. Die internationalen Medien berichteten. Dem vorausgegangen war ein tagelanges Trommelfeuer gegen den Bericht in den deutschen Medien, allen voran in Bild, munitioniert von der katholischen Kirche.
Als Nächstes zettelten wir – Ursula, Roswitha, Monika und ich – das „Rockfest im Rock“ an, am Muttertag, dem 11. Mai 1974. Gegen den Widerstand der Wortführerinnen im Berliner Frauenzentrum Hornstraße. Die warnten, „die Basis“ würde ein Fest von Frauen nur für Frauen nicht verstehen. Es kamen über 2.000 Frauen in die Mensa der TU, sie tanzten bis vier Uhr nachts.
Im Sommer darauf fuhren wir in das legendäre feministische Frauenferienlager Femø (das feiert gerade seinen 50. Jahrestag!). Wir wohnten eine strahlende Sommerwoche lang in riesigen Armeezelten, aßen dänisch und nur einmal gut (als die Italienerinnen kochten), faulenzten, diskutierten, tanzten. Es war ein Sommer des Übermutes. Und der Spiegel titelt anzüglich mit der „neuen Zärtlichkeit“ unter Frauen.
Neben meinen journalistischen Arbeiten und den Recherchen für den „Kleinen Unterschied“ initiierte ich 1974 mit Ursula den „Frauenkalender“ – 25 Jahre lang ein subversiver, bis zum Jahr 2000 jährlich erschienener Taschenkalender im lila Einband, der Tag für Tag feministische Ideen und Informationen lieferte, ein heimlicher Bestseller. Außerdem hatte ich für das Wintersemester 1974/75 sowie das Sommersemester 1976 einen Lehrauftrag bei den Soziologen in Münster angenommen, Thema: „Frauenbewegung und Sexualität“. Etwas leichtfertig. Es war der Wunsch von Studentinnen gewesen, und ich hatte noch von Paris aus zugesagt. Es wurde eine der ersten „Women‘s Studies“ in Deutschland.
Im Juni 1974 gab es in der „Evangelischen Akademie Loccum“ eine historische Begegnung: Da treffen sich 120 Frauen, darunter ein paar Männer, unter dem Stichwort „Emanzipation der Frau“. Drei Tage lang wird referiert und diskutiert. Und erstmals begegnen sich zwei Generationen: die traditionellen Frauenrechtlerinnen und die neuen Feministinnen. Unter den Frauenrechtlerinnen ist auch die damalige Vorsitzende des „Deutschen Frauenrates“, Irmgard von Meibom, Mitglied der CDU. Von da an sollten wir, sie mit ihrem – in den Karteikästen zehn Millionen Mitglieder zählenden – Dachverband aller Frauenorganisationen und ich, so manches Mal hinter verschlossenen Türen gemeinsame Sache machen, nicht nur 1978 beim „Stern-Prozess“.
Auch die zu den Älteren zählende Journalistin Inge Sollwedel ist in Loccum dabei und schreibt anschließend in der Frankfurter Rundschau: „Auftakt am nächsten Morgen: Alice Schwarzer mit dem etwas global geratenen Thema ‚Emanzipation in unserer Gesellschaft‘. Aber was sie daraus macht. Eine blitzgescheite junge Frau erzählt. Sie nennt die Dinge beim Namen, die Unterdrückung wie die Freude, verzichtet auf programmatische Verkündungen, akzeptiert sich selbst und ihr ganzes Geschlecht. Die Älteren – gestern noch fast feindlich – begreifen: Was sie gefordert, erkämpft und geleistet haben – die jungen Frauen leben das nun. Das ist neu für Frauen. Ihr Recht auf Träume zu proklamieren.“
Ja, das war neu für Frauen in Deutschland: dieser Schulterschluss zwischen traditionellen Frauenrechtlerinnen und autonomen Feministinnen. Jetzt sollte es wirklich eng werden für die Männer.
Was war geschehen? Esther Vilar hatte ein Buch geschrieben, das aus der Feder eines Mannes wohl kaum gedruckt worden wäre, aus der Feder einer Frau aber „pikant“ war. Auf dem Höhepunkt der Frauenbewegung vertrat Vilar in ihrem Buch „Der dressierte Mann“ die These, dass die Frauen die „armen Männer“ ausbeuten und am liebsten den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und Pralinen reinstopfen, kurzum, nicht mehr seien als „ein Loch“.
Hätte sie Vergleichbares über Schwarze oder Juden geschrieben, wäre das Buch wohl wegen Rassismus bzw. Antisemitismus verboten worden. Aber es ging ja nur gegen Frauen. Und das auch noch aus der Sicht einer Frau. Die muss es ja wissen. Dieser Trick – Frau gegen Frau – ist seither längst zur Masche verkommen. Kein Mann, der einigermaßen auf sich hält, würde noch öffentlich Feministinnen dissen. Er weiß ja, dass wir recht haben und er sich nur ins Unrecht setzen kann. Dafür werden Frauen vorgeschickt. Und so manche tut es willfährig – etliche Frauen-Karrieren in den Medien beruhen auf eilfertig geliefertem Anti-Feminismus.
Schon in den Jahren vor der Vilar-Sendung, als ich noch in Paris lebte, war ich von mehreren Zeitungen gefragt worden, ob ich nicht den „Dressierten Mann“ rezensieren wolle. Ich wollte nicht. Ich fand es zu durchschaubar provokant und irgendwie kläglich. Nun aber lebte ich wieder in Deutschland und begriff: Das Buch von Esther Vilar machte Furore bei den Männern, in Redaktionen wie an Stammtischen, und war eine regelrechte Waffe gegen uns Frauen. Und die Frauen? Die waren sprachlos und sehr, sehr gekränkt.
Als ich nun die Anfrage vom WDR bekam, begriff ich zunächst nicht, dass das Ganze als Karnevalsscherz programmiert war. In Berlin, wo ich zu der Zeit lebte, wusste man nicht, dass der 6. Februar 1975 in Köln der Tag von Weiberfastnacht war. Ich nahm aber die Sache ernst und fasste einen Entschluss: Ich würde in die Sendung nicht als erfahrene Journalistin gehen, sondern als betroffene Frau. Sozusagen stellvertretend für die vielen Frauen, die von Vilar so beleidigt worden waren und ohnmächtig die Fäuste ballten.
Und genau das war richtig. Ich lachte nicht über den Quatsch, den Vilar da verzapft hatte. Ich fand das auch gar nicht lustig. Ich stellte sie ernsthaft zur Rede. Was mein Gegenüber aber nur leicht aus der Fassung brachte, im Prinzip blieb sie 45 Minuten lang auffallend ruhig. So ruhig, dass ich mir am Ende die Frage stellte, ob sie mit Tranquilizern nachgeholfen hatte. Ich aber war wütend! So wütend wie die Zuschauerinnen.
Als ich an dem 6. Februar 1975 gegen 16 Uhr das Studio betrat, machte mich das mit einem Schlag zur öffentlichen Person. Von da an war die Hölle los „Die Frauen waren für Alice – die Männer für Esther“, schrieb Hörzu. Und Bild titelte mit der „Hexe mit dem stechenden Blick durch die Brille“. Eine ganze Nation diskutierte: Für oder gegen Vilar? Für oder gegen Schwarzer? Den WDR erreichten Waschkörbe von Briefen, ja ganze Petitionen aus Betrieben, die forderten, dass die am Nachmittag gelaufene Sendung wiederholt würde (es gab ja noch keine Mediatheken). Tatsächlich aber wurde die Sendung, die „Fernsehgeschichte gemacht hat“, bis heute nicht ein einziges Mal im 1. Programm ausgestrahlt. Dafür ist sie mittlerweile auf Youtube zu sehen.
Sechs Monate später erschien „Der kleine Unterschied“. Seither bin ich „Die Feministin“. Öffentlich lange nur die eine. Doch in einem Kontext von tausenden, wenn nicht Millionen Frauen im Aufbruch.
ALICE SCHWARZER
Der Text ist ein gekürzter Auszug aus: „Lebenswerk“ (Kiepenheuer & Witsch)