Der Fall Combs: Das Ende von Metoo?
Klarer hätte Dawn Hughes es nicht sagen können. „Niemand möchte misshandelt werden“, fasste die forensische Psychologin die Beziehung der Sängerin Cassie Ventura zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten Sean „Diddy“ Combs für die Jury zusammen. „Nicht schuldig“, urteilten die Geschworenen in New York dennoch. Es ging um den Vorwurf der Bundesstaatsanwaltschaft, der Hip-Hop-Mogul habe fast 20 Jahre lang ein System unterhalten, um Ventura, eine als „Jane“ anonymisierte Frau und weitere seiner Begleiterinnen zum Sex mit männlichen Prostituierten zu zwingen, während Combs zusah und masturbierte.
Auch „Sexhandel“ mochte die Jury nicht erkennen. Die oft tagelangen Sexmarathons, die Combs laut Anklage verlangte, seien nicht gegen den Willen der Frauen erfolgt – Geschlechtskrankheiten, Harnwegsinfekte und das Urinieren in Mund und Gesicht inklusive. Nur in zwei der insgesamt fünf Anklagepunkten sprach die Jury den 55-Jährigen schuldig. Dass Combs seine Ex-Freundin, „Jane“ und die Sexarbeiter zur Prostitution von Bundesstaat zu Bundesstaat geflogen und dadurch die sogenannte Mann Act verletzt hatte, war einfach zu eindeutig für ein weiteres „not guilty“.
Dabei hatte die Gutachterin Hughes die Dynamik zwischen Täter und Opfern in jeder psychologischen Facette erklärt. Die von Combs‘ VerteidigerInnen zitierten Textnachrichten, durch die Ventura ihrem früheren Lebensgefährten ihre Liebe versicherte? Vor dem Hintergrund von Schlägen, blauen Flecken und Zwang zu Sex ein Versuch, Combs zu beschwichtigen. Der Drogenkonsum der 38-Jährigen? Eine Flucht vor den Perversitäten, die der Gründer des Labels Bad Boy Records ihr fast elf Jahre lang zumutete.
Die Psychologin analysierte auch das Machtgefälle zwischen Combs und Ventura. Die Sängerin hatte ihren vermeintlichen Mentor als 19-Jährige kennengelernt. Er bot der Nachwuchssängerin nicht nur ein Stück Glanz und Prominenz. Er versprach ihr auch einen Plattenvertrag. Sich aus dem Geflecht von Einfluss, finanzieller Abhängigkeit und Demütigung zu lösen, sei für ein von Familie und Freunden isoliertes Opfer wie Ventura kaum zu bewältigen. „Dass Frauen mit dem Täter zusammenbleiben, heißt nicht, dass sie nicht missbraucht werden“, stellte Hughes klar.
Psychologin Hughes analysierte auch das Machtgefälle zwischen Combs und Ventura
ProzessbeobachterInnen erinnerte Combs‘ Missbrauchsmuster an Harvey Weinstein, R. Kelly und Keith Raniere, den Gründer des Sexkults NXIVM. Auch bei ihren Strafprozessen hatte die Psychologin Hughes als Sachverständige ausgesagt. Mit ihrer Unterstützung wurde Raniere im Jahr 2019, knapp zwei Jahre nach dem ersten #MeToo-Aufschrei in der amerikanischen Unterhaltungsbranche, wegen organisierter Kriminalität und Sexhandel zu 120 Jahren Haft verurteilt. Zwei Jahre später trug Hughes dazu bei, R. Kelly als Serienvergewaltiger juristisch zur Strecke zu bringen.
Vor einigen Wochen sagte die Psychologin auch bei der Neuauflage des New Yorker Prozesses gegen den gefallenen Hollywoodmogul Weinstein aus, um die Jury über Traumata nach sexuellen Übergriffen und Vorhaltungen über angeblich zu spät angezeigte Vergewaltigungen aufzuklären. „Der Schuldspruch gibt mir Hoffnung, dass sich eine neue Sicht auf sexuelle Gewalt eingestellt hat und der Mythos des ,perfekten Opfers‘ verschwindet“, sagte die zu Oralsex gezwungene Miriam Haley, als das Gericht trotz des Versuchs der Täter-Opfer-Umkehr der Verteidigung gegen Weinstein urteilte.
Das vergleichsweise milde Urteil gegen Combs scheint nun die Uhr abrupt zurückzudrehen. Wenn ein Video wie das, das den Grammy-Preisträger im Jahr 2016 auf dem Flur eines Hotels in Los Angeles bei Tritten und Schlägen gegen Ventura zeigte, für einen Schuldspruch nicht reicht, bleiben Gesetze zu Hass-Verbrechen gegen Frauen und zum Aussetzen der Verjährungsfristen für Überlebende von Sexualtaten gut gemeinte, aber hohle Gesten. Ventura hatte ausgesagt, aus der Hotelsuite vor Combs und einem weiteren Sexmarathon, verharmlost als „Freak-Off“, geflüchtet zu sein. Der Rapper zahlte einem Wachmann des Hotels damals 100.000 Dollar für dessen Schweigen.
„Ich hatte mir mehr von dem Prozess erhofft. Aber viele Jurys haben ein Herz für Celebritys“, wagte der kalifornische Jurist Neama Rahmani einen Erklärungsversuch. Immerhin drohten Combs bei der für Anfang Oktober geplanten Strafmaßverkündung bis zu 20 Jahre Haft.
Auch die Genderforscherin Treva Lindsey fürchtet um das, was eine Psychologin wie Hughes den Jurys der #MeToo-Ära beigebracht zu haben glaubte. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Urteile zu #MeToo Einfluss auf Männer haben, besonders auf Männer mit Macht“, sagte die Mitgründerin der Black Feminist Night School. „Wir sind ein weiteres Mal dabei, Gewalt, Macht, Geld und Prominenz neu zu bewerten. Aber vielleicht haben wir mit dem Combs-Urteil schon den Backlash erreicht.“
CHRISTIANE HEIL