Der Fall Lindemann: Gewalt & Kitsch
Wir alle kennen die Geschichte vom bösen Wolf, der Rotkäppchen frisst. Aber war Rotkäppchen nicht trotz der Warnungen in den dunklen Wald gegangen? Und folgten die weiblichen Fans den schmeichelhaften Lockungen der Einladung zu einer After-Show-Party nicht trotz der offensichtlichen Zweideutigkeit? Und wie können Frauen überhaupt von der (sexual)gewaltverherrlichenden Band fasziniert sein?
Denn viele Inszenierungen und „Gedichte“ des Rammstein-Leaders zelebrieren ja regelrecht die Sexualgewalt, demonstriert in einer keineswegs selbstquälerischen, sondern triumphalen und grotesken Variante von Männlichkeit, inklusive Schaum-Sperma spuckender Kanone und penisverlängerndem Mikro vor dem Gemächt.
Und sowas wird auch nicht besser, wenn gleichzeitig von „Herzeleid“ und „Mutter“ die Rede ist. Im Gegenteil. Kitsch ist ja gerne die Schwester der Sexualgewalt („Ich liebe dich doch.“). So hat der sarkastische Cartoonist Jean-Marc Reiser nicht zufällig seinem Supermacho den Satz „Alles Fotzen außer Mutti“ in den Mund gelegt.
Küchenpsychologisch gesehen hat so ein Lindemann es wohl nötig, will sagen: Da fürchtet einer offenbar die Impotenz.
Da werden Frauen beim Sex geknebelt, werden von hinten oder im Schlaf gefickt
Der Spiegel hat sich die Zeit genommen, die seit 1995 erschienenen 92 Rammstein-Songs zu analysieren. In knapp der Hälfte geht es um: Sex, Gewalt, Sexualgewalt. Da werden Frauen beim Sex geknebelt, sie werden im Stehen von hinten genommen und sollen sich nicht umdrehen, sie werden „im Schlaf“, bzw. in einem durch K.o.-Tropfen leblos gemachten Zustand gefickt. Lindemann schreibt die Texte und seine Band mischt dann auch nochmal mit, heißt es.
Die Schweizer linke WOZ erinnert sich jetzt, dass der Rammstein-Gitarrist Richard Kruspe in einem Interview 1997 gesagt habe, alle Mitglieder von Rammstein hätten damals „Stress mit Frauen gehabt“, bis zum „blanken Hass“ sei das gegangen. Dieser Frauenhass sei die „Urkraft“ hinter Rammstein. Kein Zweifel, diese Männer dürften nicht nur in ihren düsteren Phantasien Probleme haben, lebendigen Frauen ins Gesicht zu sehen.
Seit die 24-jährige Irin Shelby Lynn nach einem Konzert in Vilnius ihre vermeintliche Geschichte im Netz öffentlich gemacht und Anzeige erstattet hat, melden sich immer mehr junge Frauen, die behaupten, etwas Ähnliches erlebt zu haben. Darunter die YouTuberin Kayla Shyx, die angibt, ähnliche Erfahrungen mit Rammstein gemacht zu haben. Und: Die Mehrheit der Medien nimmt die mutmaßlichen Opfer tatsächlich ernst. Das ist neu.
Lynn hatte erklärt, sie sei auf einem Rammstein-Konzert Backstage gewesen, habe Lindemann jedoch deutlich gesagt, dass sie keinen Sex mit ihm wolle. Darauf habe dieser „aggressiv“ reagiert. Stunden später sei sie aufgewacht und am ganzen Körper mit blauen Flecken übersät gewesen.
Rammstein-Gitarrist Richard Kruspe erklärte Frauenhass zur "Urkraft" hinter Rammstein
„Diese Vorwürfe sind ausnahmslos unwahr“, erklärte prompt Lindemanns Anwalt. Und er drohte: „Wir werden gegen sämtliche Vorwürfe dieser Art umgehend rechtliche Schritte gegen einzelne Personen einleiten.“
Shelby Lynn, offensichtlich ein Typ wie die Rächerin Lisbeth Salander in den Larsson-Krimis, ließ sich nicht einschüchtern und erklärte öffentlich: „Macht mich bankrott – ist mir egal! Bringt mich vor Gericht – ich habe keine Angst.“ Denn: „Ich habe nichts zu verlieren.“ Außer ihrem Ruf und ihrer Würde. Die Polizei in Vilnius will trotz ihrer Anzeige nicht ermitteln, die Irin kündigte an, sich gegen diese Entscheidung zu wehren.
Wir leben in einer Welt, in der Täter meist stärker sind als Opfer. Vor allem in Prozessen, in denen es um (Sexual)Gewalt gegen Frauen und Kinder geht. Studien, Polizei- und Kriminalstatistiken belegen etwas Schockierendes: In nur einem von hundert Fällen einer vorgeblich vergewaltigten Frau wird ein Täter auch verurteilt. Genauer: Bei Sexualdelikten sind die Falschanschuldigungen erwiesenermaßen besonders niedrig – allein schon, weil die mutmaßlichen Opfer sehr hart angegangen werden. Nehmen wir dennoch an, dass eine von zehn Frauen lügt – bleiben immer noch 89 von 90 Tätern, die nicht verurteilt werden.
Frauen konnten bisher kaum wagen, ihre eigene Ambivalenz einzugestehen
In einem Justizsystem wie dem deutschen, in dem ein mutmaßlicher Täter das Recht hat zu schweigen – und ein mutmaßliches Opfer sich rechtfertigen und psychologischen Gutachten zu ihrem ganzen Leben unterziehen muss, auch und gerade bei Sexualstraftaten, haben es Opfer nicht leicht.
Es wird also aufschlussreich sein, ob wieder einmal mutmaßliche Opfer zermürbt, ja zerstört werden, und mutmaßliche Täter zuguterletzt mit den Schultern zucken können. Oder haben wir es nach MeToo mit einer Zeitenwende in der Rezeption solcher Anschuldigungen zu tun?
Seitens der Frauen offensichtlich ja. Nie waren sie so mutig. Nicht nur Shelby Lynn. So sind zum Beispiel die zwei Dutzend Zeuginnen-Aussagen im Spiegel, anonym wie namentlich, erstaunlich selbstkritisch. Diese Frauen sprechen eigentlich kaum über den bösen vermeintlichen Täter, stattdessen vor allem über sich selbst.
Dass sie zwar ein Unbehagen gehabt, aber dennoch bis zu einem gewissen Punkt mitgemacht hätten. Dass sie sich nicht an alles erinnern, nicht zuletzt, weil man manchen der Frauen vermutlich K.o.-Tropfen ins Glas gegeben habe, sagen sie (was Lindemann bestreiten lässt). Dass einige sogar nochmal zu dem bösen Wolf gegangen seien und ihren Freundinnen erzählt hätten, es sei echt gut gewesen. Aber dass da dieses diffuse, immer bedrängender werdende Unbehagen gewesen sei: Was war da eigentlich wirklich los? Hat er was getan? Was habe ich getan? – Bis zu dem Tabubruch durch Shelby Lynn.
Nachdem der Skandal sehr schnell sehr hohe Wellen geschlagen hat und gar von einem systematischen Rekrutierungssystem von „Frischfleisch“ für Lindemann nach Konzerten die Rede ist, hat die Band Rammstein in einer Erklärung betont, sie verurteilten jede Form von Übergriffigkeit. Die Frauen hätten zwar ein Recht auf ihre Sicht der Dinge, die Band habe aber auch ein Recht darauf, nicht „vorverurteilt“ zu werden.
Werden die Drohungen von Lindemanns Anwalt die Medien einschüchtern?
Der Vorwurf der „Vorverurteilung“ hängt gerade bei dem Verdacht auf Sexualgewalt immer wie ein Damoklesschwert über mutmaßlichen Opfern und kritischen Medien. Frauen konnten bisher kaum wagen, in so eine Konfrontation zu gehen – und dabei gar noch ihre eigene Ambivalenz einzugestehen. Ihren Masochismus, in dem sie gelernt haben, Erniedrigung und Schmerz positiv zu besetzen, um es aushalten zu können. Doch auch für eine masochistisch geprägte Frau ist eine reale Vergewaltigung nochmal etwas ganz anderes als die phantasierte, in der sie das Geschehen inszeniert.
Der Blick auf solche Verhältnisse hat sich seit dem Weinstein-Prozess im Jahr 2020 geändert. In diesem Prozess wurde der Täter trotz des durchaus widersprüchlichen Verhaltens mancher Opfer verurteilt. Denn genau diese Ambivalenz, der „weibliche Masochismus“, ist Teil des Problems in dem Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen.
Frauen seien oft „selber schuld“, sie hätten „mitgemacht“, heißt es. Im Weinstein-Prozess analysierte die Gutachterin die Übermacht der Täter, in deren Herrschaftsbereich so manche Opfer auch nach der Tat bleiben. Sie seien „beschädigt“, fühlten sich wertlos, argumentierte die Psychiaterin. Entsprechend verhielten sie sich, biederten sich aus Hilflosigkeit und Angst sogar manchmal auch danach noch beim Täter an.
Wie wird es im Fall Lindemann weitergehen? Werden die Drohungen von Lindemanns Anwälten die Medien bei ihrer Recherche und Berichterstattung einschüchtern? Gerade warnte der Deutsche Journalisten-Verband davor, Medien bei einer angemessenen Verdachtsberichterstattung einzuschüchtern.
Und riskiert Rotkäppchen mal wieder Ruf und Würde und geht als gedemütigte „Schlampe“ aus der Affäre raus? Oder kommt diesmal alles ganz anders?