Es bleiben gefährliche Zeiten

Noch-Präsident Donald Trump spricht am 6. Januar zu seinen AnhängerInnen. - Foto: imago images/UPI Photo
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Man muss nicht Psychiater sein, um zu erkennen, dass Donald Trump ernsthaft gestört ist. Aber bereits zum Zeitpunkt seiner Wahl sahen sich viele Experten auf dem Gebiet von Psychologie und Psychiatrie in der Pflicht, die Öffentlichkeit an unserem Fachwissen teilhaben zu lassen, ein Wissen, das möglicherweise ein Licht auf seine mentale Instabilität werfen könnte.

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In einer Ansprache, die er kürzlich vor der American Psychoanalytic Association gehalten hat, wies mein Kollege Robert Jay Lifton darauf hin, dass der autoritäre Führer die Kontrolle über die Realität anstrebt und den Anspruch erhebt, im Besitz der Wahrheit über die Realität zu sein. Die Wahrheit ist, was der Sektenführer für wahr erklärt.

Die grandiosen Ansprüche des Führers basieren auf der Vorstellung, Reinigung und Erneuerung mit Gewalt herbeiführen zu können, eine Phantasie, die bei seinen Anhängern – in der Mehrheit Menschen, die sich benachteiligt und zu kurz gekommen fühlen – ein dankbares Echo findet. Im Fall von Donald Trump, dessen Slogan auf einer roten Schirmmütze, „Make America Great Again“, zu einem Symbol der Sektenzugehörigkeit wurde, sind die Benachteiligten und Zukurz-Gekommenen überwiegend weiße Männer. Sie sehnen sich zurück nach einer Zeit, in der Frauen und Schwarze noch wussten, wo sie hingehörten.

Trumps Steigbügelhalter – diejenigen, die es eigentlich besser wissen müssten, aber einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, um ihn an der Macht zu halten – sind Menschen und Konzerne, die über ungeheuren Reichtum verfügen und ihrerseits Fantasien in Bezug auf die Beherrschung der Welt haben.

Wie jeder, der sich in der deutschen Geschichte auskennt, wohl weiß, ist diese Konstellation absolut grauenerregend: ein charismatischer Sektenführer; Anhänger, die sich benachteiligt und zu kurz gekommen fühlen, sowie einflussreiche Unterstützer, die ihm zur Macht verhelfen. Zusammen mit einigen Kollegen habe ich schon bald nach der Wahl im Jahre 2016 einen Brief an den damaligen Präsidenten Obama geschickt, weil wir angesichts der Tatsache, dass Trump Zugang zu Atomwaffen bekommen würde, äußerst beunruhigt waren. In diesem Brief warfen wir die Frage auf, ob nicht von Mr. Trump noch vor seiner Amtseinführung ein Gutachten verlangt werden könne, das über seinen Gesundheitszustand befindet, sowohl aus medizinischer als auch aus psychiatrischer Sicht.

Leidet Trump an Paranoia oder manipuliert er die Medien ganz bewusst?

Ein solches Gutachten wurde leider niemals erstellt. Unsere Gesetze sehen nicht vor, dass ein gewählter Präsident sich einer derartigen Untersuchung unterziehen muss. Der Brief jedoch breitete sich aus wie ein Lauffeuer, und Gloria Steinem las ihn beim Women’s March im Januar 2017 vor, am Tag nach Donald Trumps Amtseinführung.

In ihrer Rede wies Steinem unter anderem auf eine Botschaft hin, die unsere MitstreiterInnen in Deutschland an den neuen Präsidenten geschickt hatten: „Mit Mauern erreicht man nichts. Das wissen wir.“ (In Mr. Trumps Phantasiewelt ist die „Beautiful Wall“, die er an der Grenze zu Mexiko zu bauen versprach, eine magische Verteidigungslinie gegen „Eindringlinge“, „schlechte Männer“, „Vergewaltiger“, „Drogenhändler“ – und jetzt irgendwie auch gegen das neue Coronavirus.)

Mein Brief erregte auch die Aufmerksamkeit von Bandy Lee, forensische Psychiaterin an der Yale University School of Medicine. Auch sie war der Auffassung, dass Psychiater die Verpflichtung hätten, die Öffentlichkeit auf drohende Gefahren aufmerksam zu machen. Sie lud mich als Rednerin bei einer der von ihr organisierten öffentlichen Anhörungen ein. Auch viele andere Experten aus den Bereichen von Psychologie und Psychiatrie nahmen teil; offensichtlich teilten sie unsere Sorge.

Ermutigt von dieser Welle an Unterstützung übernahm Bandy Lee die Initiative, ein Buch herauszubringen, mit dem Titel „The Dangerous Case of Donald Trump: 27 Psychiatrists and Mental Health Experts Assess a President“, das im Herbst 2017 in den USA erschien und ein Bestseller wurde. (Das Buch erschien 2018 auf Deutsch im Psychosozial-Verlag unter dem Titel „Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus Psychiatrie und Psychologie“, A. d. Ü.)

Was also ist los mit diesem Mann? Einige Kapitel in dem Buch beschäftigen sich mit den verschiedenen Persönlichkeitszügen, an die man im Verlauf einer differentialdiagnostischen Abklärung denken könnte: Ist er ein bösartiger Narzisst? Eine soziopathische Persönlichkeit? Ist er psychotisch? Leidet er an einer kognitiven Behinderung? Ist er „crazy like a fox“ (schlau, berechnend und von der Überzeugung durchdrungen, dass die Wahrheit nur dann gesagt werden sollte, wenn sie zufällig den eigenen Zielen dient; A. d. Ü.) oder ganz einfach verrückt? Will sagen, weiß er, dass er lügt, oder glaubt er seine eigenen Lügen? Wenn er wilde Anschuldigungen vorbringt oder rechtsextreme Verschwörungstheorien verbreitet, ist das ein Beweis dafür, dass er wirklich an Paranoia leidet, oder manipuliert er die Medien ganz bewusst?

Ist er ein Narzisst? Eine soziopathische Persönlichkeit? Ist er psychotisch?

Meine persönliche Antwort auf all diese Fragen wäre wohl zu allem: Ja. Am Ende können wir keine tragfähige Aussage über seinen tatsächlichen Geisteszustand machen; er ist auf jeden Fall oszillierend, wechselt zwischen den verschiedenen Stadien hin und her.

Die diagnostische Beurteilung einer Figur des öffentlichen Interesses aus der Ferne ist nicht nur unmöglich, sie widerspricht eigentlich auch unserem Berufsethos. Aber wir müssen Trumps tatsächlichen Geisteszustand auch gar nicht kennen, und wir müssen keine ausgefeilte Diagnose stellen, um von unserer Seite aus seine Gefährlichkeit einschätzen zu können. James Gilligan, forensischer Psychiater und Experte für die Erforschung von Gewalt, schreibt: „Wenn wir über die zahlreichen Fälle schweigen, in denen Donald Trump wiederholt mit Gewalt gedroht, zu Gewalt angestachelt oder mit seiner eigenen Gewalttätigkeit geprahlt hat, unterstützen wir passiv den gefährlichen Irrtum, ihn so zu behandeln, als ob er ein ‚normaler‘ politischer Führer wäre. Das ist er nicht. Es ist unsere Pflicht, das zu sagen und es öffentlich zu sagen. Er ist beispiellos und abnorm gefährlich.“

Dr. Lee und ich haben gemeinsam das Vorwort zu diesem Buch geschrieben; unsere Sorge galt ganz besonders der Frage, in welcher Weise die Psychopathologie des Präsidenten, wie auch immer wir sie definieren wollen, durch seinen Zugang zur Macht verstärkt werden könnte. Wir hatten die Befürchtung, die Sprechchöre seiner Anhänger und ihre kritiklose Bewunderung genauso wie die beharrliche Schmeichelei seiner mächtigen Unterstützer könnten seine Größenfantasien noch steigern, bis hin zu grotesken Wahnvorstellungen.

Und genau das erleben wir jetzt. Er hält verbissen an seiner Überzeugung fest, er sei der Herrscher über die Realität und könne ihr vorschreiben, dass die Pandemie „verschwinden“ und die Wirtschaft „mit einem Knall“ wieder Fahrt aufnehmen werde. Nur, weil er es befiehlt.

Vielleicht wird er das Land oder die ganze Welt mit in den Untergang ziehen.

Wir befürchteten auch, sein soziopathisches Verhalten und seine Neigung zur Gewalt würden immer eklatanter hervortreten, nachdem er wiederholt festgestellt hätte, dass er die Regeln des Rechts ungestraft brechen konnte. Und genau das erleben wir jetzt. Er stachelt bewaffnete Milizen zum Eingreifen auf, sympathisiert offen mit der White-Power-Bewegung und macht sich nicht identifizierbare paramilitärische Kräfte zunutze, die friedliche Demonstranten vor dem Weißen Haus angreifen und auseinandertreiben.

Die preisgekrönte Journalistin Masha Gessen beschreibt diese Verhaltensweisen in ihrem Buch „Surviving Autocracy“ als Versuch eines Möchtegern-Autokraten, auszutesten, wie weit er gehen kann bei dem Versuch, demokratische Regeln außer Kraft zu setzen. Als Immigrantin aus Putins Russland weiß sie aus unmittelbarer Erfahrung, wovon sie spricht.

Was mich angesichts der vielfältigen Katastrophen, von denen wir bedroht sind, trotz alledem ermutigt, ist die Massenmobilisierung gegen die sehr reale Gefahr einer rassistischen, frauenfeindlichen und tödlichen politischen wie gesellschaftlichen Entwicklung.

Da mittlerweile deutlich geworden ist, dass das Schicksal unserer Demokratie auf dem Spiel steht, erleben wir ein ungeahntes Engagement von Farbigen, Frauen und jungen Menschen, die friedlich in einer gerechten, von Nachhaltigkeit geprägten Welt leben wollen und dafür in nie da gewesener Weise Verantwortung übernehmen.

Was mir am meisten Angst macht, je näher dieses Endspiel auf uns zukommt, ist das Potenzial unseres „geliebten Führers“ zu geradezu apokalyptischer Selbstzerstörung – je mehr er in die Isolation gerät und spürt, dass ihm die Macht entgleiten könnte. Vor kurzem versuchte der Präsident, die Massenversammlungen wiederzubeleben, die seine fragile Egomanie bisher gestützt haben. Das verdammte Virus! Der Präsident war nicht nur wütend, sondern auch gedemütigt, als statt der „Hunderttausende“, die er erwartet hatte, nur etwa 6.000 Unterstützer gekommen waren und jeder sehen konnte, dass das Stadion nicht einmal halbvoll war.

Offenbar hatte sich eine beträchtliche Zahl von Unterstützern, die unter gewöhnlichen Umständen in der Menge ganz gern „Trump, Trump, Trump!“ oder „Bau die Mauer!“ und „Steck sie ins Gefängnis!“, gebrüllt hätten, genügend Realitätssinn bewahrt. Sie waren nicht bereit, ihr Leben zu riskieren – in einer vollgestopften Halle, wo treu ergebene Anhänger sich weigerten, Masken zu tragen, als Zeichen ihrer Loyalität zum Führer.

Das Potenzial unseres „geliebten Führers“ ist die apokalyptische Selbstzerstörung

Auch für seine Entscheidung, das Militär gegen friedliche Bürger aufmarschieren zu lassen, ist der Präsident sowohl von früheren als auch von gegenwärtigen militärischen Amtsträgern öffentlich gerügt worden.

Umfragen zeigen regelmäßig, dass eine Mehrheit der US-Bürger genug von diesem Präsidenten hat. Es besteht die Gefahr, dass er die Wahl verliert, und Verlieren ist etwas, das narzisstische Persönlichkeiten nicht ertragen können. Abgesehen davon verfügt der Präsident wohl immer noch über einen ausreichenden Realitätssinn, um zu wissen, dass er, sobald sein Amt ihn nicht mehr schützt, für jede Menge von Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden wird.

Was wird er tun, wenn er die Wahl verliert? Wie viele andere Diktatoren unter diesen Umständen wird vielleicht auch er versuchen, das Land oder die ganze Welt mit in den Untergang zu ziehen.

Machen Sie sich auf gefährliche Zeiten gefasst.

JUDITH L. HERMAN

Übersetzung: Irmela Köstlin. - Die amerikanische Psychiaterin Judith Lewis Herman lehrt Klinische Psychologie an der Harvard Medical School. Sie schrieb die epochale Analyse: „Die Narben der Gewalt“, über die Mechanismen und Folgen der „privaten“ Männergewalt. 2017 veröffentlichte sie mit 26 KollegInnen die Anthologie „Wie gefährlich ist Donald Trump?“, eine Warnung vor dem Psychopathen.

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