Die vergessenen Heldinnen

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Christel Schlüter erinnert sich noch genau, was sie damals zum Vorstellungsgespräch mitgebracht hat: „Ein Kopfkissen mit Hohlsaum und eine Schürze. Natürlich alles von Hand genäht!“ 67 Jahre ist es jetzt her, dass die damals 16-Jährige im Jahr 1955 bei der Turf Herrenwäschefabrik in Recklinghausen vorstellig wurde, um sich für eine anderthalbjährige Ausbildung als Näherin zu bewerben. „Weil ich so gerne handarbeite und am liebsten an der Nähmaschine nähe, und weil ich nicht so lange lernen brauche und mehr Geld verdiene als in einer dreijährigen Lehrzeit.“

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So steht es in sauberer Handschrift mit blauer Tinte in dem Berichtsheft, das die Lehrmädchen führen mussten. Dann geht es weiter mit den Wochenberichten: „Montag: Rockform gesteckt. Dienstag: Kragen vorgenäht, abgesteppt und angenäht. Mittwoch: Stäbchentaschen angenäht.“ Ein winziges Miniaturhemd klebt auf einer Seite, auf einer anderen hat das Lehrmädchen Christel akkurat den Querschnitt einer Baumwollkapsel gezeichnet.

Christel Schlüter hat alles aufbewahrt. Sie strahlt - wie immer, wenn es ums Nähen geht

Christel Schlüter hat ihre Berichtshefte von damals alle aufbewahrt. Jetzt liegen sie auf dem runden Tisch in ihrem Esszimmer und die gelernte Näherin blättert sie mit der des Nähens gänzlich unkundigen Reporterin durch. „Ist das ein Hemdsärmel?“ – „Ja, mit Schlitzbesatz!“, erklärt Frau Schlüter strahlend, weil sie immer strahlt, wenn es ums Nähen geht, und zeigt auf ein kleines, eingeklebtes Stoffstück.

Ihr Prüfungszeugnis kann sie leider nicht zeigen. Es wurde bei einem Einbruch gestohlen, weil die Einbrecher das in Stoff eingebundene Büchlein wohl für ein Sparbuch hielten. Es war glücklicherweise keins, aber für die passionierte Näherin ist auch das geklaute Zeugnis ein herber Verlust. „Ich hatte die Prüfung mit sehr gut bestanden. Ich war so stolz!“

Näherin Christel Schlüter zu Hause auf ihrem Sofa: "Ich war so stolz!"
Näherin Christel Schlüter zu Hause auf ihrem Sofa: "Ich war so stolz!"

Stolz ist das Stichwort. Wenn die Industrie-Geschichte des Ruhrgebiets erzählt wird, dann geht es fast immer um stolze Männer. Bergmänner und Stahlarbeiter sind die muskulösen Helden der Region zwischen Duisburg und Dortmund, und so heroisch sie den Ruhrpott nach oben malocht haben, so heldenhaft gingen sie auch unter, als das Zechensterben losging und die Stahlwerke dichtmachten. Der so entschlossene wie verzweifelte Kampf der Männer um ihre Arbeitsplätze ist fester Bestandteil der Geschichte des Ruhrgebiets, zu der das Bild vom weinenden Bergmann, der zum letzten Mal in seine Zeche einfährt, so fest dazugehört wie der Bergmannsgruß „Glück auf!“.

340.000 Frauen arbeiteten an Nähmaschinen, jede Dritte von ihnen im Ruhrgebiet

Auch die „Route der Industriekultur“, die auf 400 Kilometern an 52 Orte des Ruhrgebiets führt, huldigt nur der Männer-Industrie. Die 25 „Themenrouten“ tragen Namen wie „Dreiklang – Kohle, Stahl, Bier“ oder „Chemie, Glas, Energie“.

Und die Frauen? Fehlanzeige. Dabei war der Ruhrpott nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs nur Zentrum der Montanindustrie. „Das Ruhrgebiet zählte seit 1945 zu den regionalen Standorten der bundesdeutschen Bekleidungsindustrie, doch ist dies in der Region selbst kaum bekannt.“ So lautet die nüchterne Feststellung der Historikerinnen Birgit Beese und Brigitte Schneider, die mit ihrem Buch „Arbeit an der Mode“ eine der wenigen Forschungsarbeiten zum Thema vorgelegt haben. 340.000 Frauen arbeiteten in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren nicht in Zechen oder an Hochöfen, sondern an den Nähmaschinen – jede Dritte davon im Ruhrgebiet.

Die März/April-EMMA. Portofrei im EMMA-Shop: emma.de/shop
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„Diese Frauen sind aus dem kollektiven Gedächtnis völlig verschwunden. Dabei hat hier in Recklinghausen jeder eine Tante oder eine Mutter, die als Näherin gearbeitet hat“, klagt Gabriele Thiesbrummel. Seit ihrer Pensionierung arbeitet die ehemalige Leiterin der „Regionalstelle Frau & Beruf“ mit im „Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte“.

Gabriele und ihre drei Mitstreiterinnen wollen dem kollektiven Gedächtnis auf die Sprünge helfen. „Von Schnittmustern, Nähmaschinen und Plätteisen – Frauen in der Bekleidungsindustrie in Recklinghausen“, so heißt die Ausstellung, mit der der Arbeitskreis noch bis zum 29. April im Institut für Stadtgeschichte an die vergessenen Frauen erinnert. Doch die Exponate für die Ausstellung zu finden, war eine regelrechte Detektivinnenarbeit.

EMMA-Redakteurin Chantal Louis hat die Macherinnen der Ausstellung, die ein Stück Frauengeschichte sichtbar gemacht haben, und Christel Schlüter, eine der Heldinnen an der Nähmaschine, besucht. Was sie dabei erlebt hat, könnt ihr ausführlich in der März/April-Ausgabe lesen. Hier im EMMA-Shop. Portofrei!

 

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