Zwischen Natur und Mythos

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Naomi Wolf analysiert den Schönheitsmythos als direkte Reaktion auf die Emanzipation der Frauen: vom 19. bis zum 21. Jahrhundert.
Wir befinden uns mitten in einer heftigen reaktionären Rückschlagsbewegung gegen den Feminismus, und die politische Waffe gegen das Vordringen der Frauen ist der Schönheitsmythos. In dem Maß, wie es den Frauen gelang, sich vom Weiblichkeitswahn frei zu machen, übernahm der Schönheitsmythos dessen Funktion als Instrument sozialer Kontrolle.
„Was habe ich davon“, sagte die Suffragette Lucy Stone im Jahr 1855, „wählen zu dürfen, Eigentum zu besitzen usw., wenn ich über meinen eigenen Körper und seine Funktionen nicht absolut frei verfügen kann.“ 80 Jahre später, nachdem die Frauen das Wahlrecht errungen hatten, schrieb Virginia Woolf, dass es noch Jahrzehnte dauern würde, bis Frauen die Wahrheit über ihren Körper sagen könnten. Inzwischen hat eine Revolution stattgefunden, die alles verändert hat. Und doch ist da noch immer ein uneingefordertes Recht, das noch nicht einmal einen Namen hat.
Der Schönheitsmythos erzählt uns, dass es eine Qualität namens „Schönheit“ gäbe, die objektiv und universell ist. Frauen müssten danach streben, sie zu besitzen. Männer müssten danach streben, Frauen zu besitzen, die sie besitzen. Doch Schönheit ist weder eine universelle, noch eine unveränderliche Größe, auch wenn die westlichen Kulturen gern so tun, als leiteten sich alle Ideale weiblicher Schönheit von der einen platonischen Idealfrau her. Die Maori bewundern eine fette Vulva, die Padung schätzen Hängebrüste. Bei den nigerianischen Woodabe, wo die ökonomische Macht bei den Frauen liegt, spielt männliche Schönheit eine große Rolle. Die Woodabe-Männer verbringen viele Stunden damit, sich gemeinsam herauszuputzen, und stellen sich dann – aufreizend bemalt und gekleidet und um verführerisches Mienenspiel bemüht – einer Schönheitskonkurrenz, bei der die Frauen die Jury sind.
Es gibt also keine stichhaltige historische oder biologische Begründung für den Schönheitsmythos. Wenn der Schönheitsmythos aber nichts mit Evolution, Sex, biologischen Geschlechtsmerkmalen, Ästhetik oder Gott zu tun hat, worauf beruht er dann? Er behauptet, eng mit Liebe, Sexualität und Leben verwoben zu sein. Er gibt sich als Zelebration des Weiblichen. Doch in Wahrheit sind seine Haupttriebfedern die Kontrolle von Emotionen und sexuelle Repression sowie politische und finanzielle Interessen.
Der Schönheitsmythos hat wenig mit Frauen und Weiblichkeit zu tun, sondern viel mit Institutionen und Macht. Er schreibt in Wahrheit Verhaltensmuster vor und nicht äußere Qualitäten. Die Konkurrenz unter den Frauen ist Teil dessen, was der Mythos verordnet, weil sie spaltend wirkt. Jugend (und bis vor kurzem Jungfräulichkeit) gehört zum weiblichen Schönheitsideal, weil sie für allgemeine und sexuelle Unerfahrenheit stehen. Älterwerden gilt bei Frauen als „unschön“, weil es einen Zuwachs an Stärke bedeutet. Und, weil so die Bande zwischen den Generationen zerrissen werden: Ältere Frauen fürchten die jüngeren, die jüngeren fürchten die älteren.
Das Entscheidende aber ist, dass die Frauen ihre Identität auf „Schönheit“ gründen und so von äußerer Anerkennung abhängig bleiben und die Sensoren, die ihr Selbstwertgefühl regeln, immer hübsch nach außen richten. Der Schönheitsmythos in seiner modernen Form ist eine relativ neue Erfindung. Er entfaltete sich erst, nachdem sich die materiellen Fesseln der Frauen bedenklich gelockert hatten.
Die Gedanken und Gefühle im Hinblick auf „Schönheit“, wie wir sie kennen, datieren im großen und ganzen nicht weiter zurück, als bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit ermöglichten es neue technische Errungenschaften erstmalig, Idealbilder weiblicher Schönheiten zu reproduzieren: dank Daguerreotypie, Ferrotypie und Kupfertiefdruck. Die ersten Aktfotografien von Prostituierten entstanden in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, und zehn Jahre später erschienen die ersten Werbeanzeigen unter Verwendung von Bildern „schöner“ Frauen. Kopien berühmter Kunstwerke, Postkarten mit Damen der Gesellschaft und des Hoflebens, Currier & Ives-Drucke und Porzellanfigurinen überschwemmten die Welt, auf die die Mittelschichtsfrauen beschränkt waren. Um die gleiche Zeit kam auch ein Verständnis von Kindheit und Erziehung auf, das ständige mütterliche Aufsicht zur Notwendigkeit erklärte.
Diese zeit- und energieabsorbierenden Fiktionen von der „natürlichen Rolle der Frau“ tauchten auch nach dem Zweiten Weltkrieg in der modernisierten Form des Weiblichkeitswahns wieder auf. Die endlose Sisyphusarbeit an der eigenen Schönheit ersetzte die endlose Sisyphusarbeit im Haushalt. In dem Maß, wie Frauen sich im öffentlichen Bereich – Arbeitsleben, Recht, Religion, Sexualmoral, Bildung und Kultur – einen gleichberechtigten Platz erzwangen, kolonialisierte gleichzeitig der Schönheitsmythos ihr Bewusstsein.
Das Sperrfeuer von Bildern „schöner“ Frauen wird zwar gern als Ausdruck einer kollektiven sexuellen Fantasie hingestellt, aber in Wahrheit hat es mit Sexualität überaus wenig zu tun. Es entspringt der Angst vor der zunehmenden Freiheit der Frauen – und es fällt auf den fruchtbaren Boden der Schuldgefühle und Ängste, die dieser Emanzipationsprozess in den Frauen selbst auslöst, weil sie untergründig das Gefühl haben, sie könnten womöglich zu weit gehen.
Der Schönheitsmythos ist eine kollektive reaktionäre Halluzination, geboren aus den Köpfen von Männern und Frauen, die der rasche Wandel des Geschlechterverhältnisses verwirrt und ratlos zurückgelassen hat. Dabei ist die massenhafte Beschwörung der „schönen“ modernen Frau ein Widerspruch in sich. Während die Frauen heute dabei sind, sich zu entfalten und zu entwickeln und ihre Individualität auszuleben, ist die „Schönheit“, um die es hier geht, statisch, zeitlos, und generisch. Die unbewusste Halluzination wird durch bewusste Manipulation millionenfach reproduziert und nach Kräften verstärkt. Mächtige Industrien – die Diätmittelindustrie, die Kosmetikindustrie, die Schönheitschirurgie und die Pornoindustrie – nähren sich mittlerweile von diesen unbewussten Ängsten und sind daher natürlich daran interessiert, sie zu schüren. Das Ergebnis ist eine gewaltige Wachstumsspirale.
Die Illusion, die daraus resultiert, wird allerdings für die Frauen rasch zur materiellen Gewalt: Sie bestimmt, wie sie zu leben und wie sie nicht zu leben haben. Sie wird zur „Eisernen Jungfrau“. Dieses mittelalterliche Folterinstrument bestand aus einer aufklappbaren eisernen Hohlfigur, geformt wie ein menschlicher Körper und außen als schöne lächelnde junge Frau bemalt. Sie wurde langsam um das arme Opfer geschlossen, das sich nicht mehr rühren konnte und elend verhungerte, wenn es nicht einen schnelleren Tod fand, weil es von den im Inneren angebrachten eisernen Stacheln durchbohrt wurde. Die moderne Halluzination, in die die Frauen eingesperrt werden oder sich selbst einsperren, ist ähnlich starr und grausam und scheint auf den ersten Blick genauso harmlos und hübsch.
Unsere Kultur lenkt alle Aufmerksamkeit auf die lächelnde Maske der „Eisernen Jungfrau“, während die Gesichter und Körper der wirklichen Frauen wegzensiert werden. Woher rührt dieser Drang unserer Gesellschaft, die wirklichen Frauen, ihre Gesichter, Stimmen und Körper nicht wahrhaben zu wollen und „die Frau“ auf diese formelhaften und endlos reproduzierten „schönen“ Bilder zu reduzieren? Unbewusste Ängste der Individuen spielen zwar eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Lebenslügen, aber was letztlich ihre Aufrechterhaltung garantiert, sind ökonomische Interessen.
Unsere gegenwärtige Ökonomie ist davon abhängig, dass die Frau dem Schönheitsmythos unterworfen und entsprechend dargestellt wird. Nachdem es nicht mehr möglich ist, der Frau tugendhafte Häuslichkeit als obersten Wert zu verordnen, setzte der Schönheitsmythos etwas Neues an ihre Stelle: die Erlangung tugendhafter Schönheit. Ein neuer Konsum-Imperativ löste den alten ab, als sich die neue emanzipierte Frau dem nicht mehr beugen wollte.
Gleichzeitig mit der „Eisernen Jungfrau“ verbreitete sich noch eine Halluzination: die Karikatur des „hässlichen Blaustrumpfs“, die dazu diente, der Frauenbewegung Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Dieses Zerrbild ist keine neue Erfindung. Es wurde bereits im 19. Jahrhundert beschworen, um die Frauenrechtlerinnen lächerlich zu machen.
Doch der Schönheitsmythos der Gegenwart ist heimtückischer als alle früheren Formen des Weiblichkeitswahns. Vor einem Jahrhundert kehrte Nora dem Puppenheim den Rücken. Vor einer Generation verließen Scharen von Frauen den Konsumhimmel des isolierten, mit vielfältigsten Geräten ausgestatteten Vorortheims. Aber das Gefängnis, in dem wir jetzt sitzen, hat keine Tür, die wir hinter uns zuschlagen könnten. Der Schönheitsterror ist in uns, er zerstört die Frauen körperlich und laugt sie seelisch aus. Wenn sie es schaffen wollen, sich von diesem Ballast zu befreien, benötigen sie dafür nicht Stimmzettel, Lobbys oder Transparente: Die Frauen müssen vor allem auf eine neue Weise sehen lernen.

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Der Text ist ein Auszug aus „Der Mythos der Schönheit“ (Rowohlt TB).

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