Ein selbstbestimmtes Leben

Monireh Kazemi
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Ich bin in den 60er Jahren im Iran geboren und stamme aus einer relativ liberalen Familie, doch der grundsätzliche kulturelle Konservatismus jener Zeit ging auch an mir nicht vorbei: Obwohl ich schon als Mädchen im Freibad oder am Kaspischen Meer im Badeanzug schwamm, hatte ich bis ins Erwachsenenalter hinein ein verkrampftes Verhältnis zu meinem eigenen Körper. Ich fühlte mich mit ihm schlicht nicht verbunden.

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Dieses Spannungsverhältnis zwischen liberaler Familie und konservativer Kultur nahm 1979 ein jähes Ende: Sofort nach der Machtergreifung der Islamisten im Iran führten sie die Scharia-Gesetze ein und propagierten die islamische Frauenrolle.

Nach mehreren politischen Zwischenfällen verließ ich Mitte der 1980er Jahre mit 24 Jahren meine alte Heimat und begab mich auf die Suche nach einer neuen. Ich fand sie in Deutschland.

Auch hier machte ich wieder eine prägende Erfahrung. Ausgerechnet im Schwimmbad, dem Ort, der symbolisch so zentral geworden ist für den Konflikt zwischen westlichem
und islamischem Frauenbild. Als ich in der kleinen Stadt in NRW, in der ich angekommen war, zum ersten Mal in ein Schwimmbad ging, wäre ich am liebsten unsichtbar geworden.
Doch ich sah, wie die deutschen Mädchen und Frauen sich ungezwungen und versöhnt in ihren Körpern bewegten. Dies beeindruckte mich nachhaltig.

1988 schließlich, ein Jahr vor der Wende, immatrikulierte ich mich an der TU Berlin für Ingenieurwissenschaft. Ich fand schnell ein Zimmer in einer gemischten WG, und weil die meisten der Kommilitonen in meinem Studiengang Männer waren, erlebte ich es zum ersten Mal, frei und ungezwungen mit Männern auf Augenhöhe zu reden.

Ich hörte die Musik, die ich wollte; ich las unzensierte Bücher, die ich selbst auswählte; ich äußerte frei kritische Meinungen zu Religion, Politik und Kultur. Und ja, ich konnte auch ins Bett gehen, mit wem ich wollte.

Vor allem aber, und darauf läuft all dies hinaus, konnte ich offen als Atheistin auftreten und die Religion verwerfen, die meine alte Heimat schrittweise in ein repressives Land verwandelt hatte. Ich lernte, dass meine Würde von einem säkularen Staat garantiert wird und von keiner Institution und keiner Privatperson angetastet werden darf. All dies schenkte mir Gelassenheit und emotionale Sicherheit.

Parallel dazu vollzog sich jedoch eine besorgniserregende Entwicklung in der akademischen Welt des Westens: Postkoloniale und postmoderne Theorien, ursprünglich das Metier obskurer neomarxistischer Literaturwissenschaftler, wurden in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vorherrschend und verunmöglichten nachhaltig jede Kritik an den menschenverachtenden Auswüchsen archaischer Kulturen.

Im selben Zuge setzte sich der Multikulturalismus als Leitbild im öffentlichen Diskurs durch: War es etwa für die Exiliranerinnen meiner Generation noch ganz selbstverständlich gewesen, die westlichen kulturellen Normen anzunehmen und sich zu integrieren, wurde nach und nach von linker und grüner Seite die Herausbildung islamischer Parallelwelten kulturrelativistisch gerechtfertigt und zum Teil sogar gutgeheißen.

Diese Veränderungen fanden und finden auf dem Rücken der Mädchen und Frauen in den islamisch geprägten Communities statt. Sie führen dazu, dass Frauen – ganz wie in den Ursprungsländern – auch hier ein selbstbestimmtes Leben verwehrt wird.

Gewalttäter erhalten vor deutschen Gerichten mildere Strafen mit dem Argument, sie handelten aufgrund ihrer Kultur oder Religion. Darunter sind Täter, die ihre Töchter, Schwestern, Ehefrauen, Freundinnen, ja sogar Nichten und Cousinen geschlagen, gefoltert, eingesperrt, ermordet oder in den Suizid getrieben haben. In den Frauenhäusern suchen heute überwiegend Frauen Unterschlupf, die vor der totalitären Religiosität ihrer Familien fliehen.

Obwohl die meisten Muslime aus islamischen Ländern geflohen sind, werden die kulturellen Werte und Normen ihrer Heimatländer hierzulande von staatlicher Seite im Namen der Vielfalt und der Minderheitenrechte unter Artenschutz gestellt. Insbesondere die Frauen werden mit dem traditionellen Patriarchat und unter der Ideologie der aus ihren Herkunftsländern importierten Imame allein gelassen. Es sind Imame aus diesen Ländern, die Geschlechterapartheid, Misogynie und identitäre Parallelgesellschaften predigen.

Generationen von Frauen werden niemals die Erfahrungen eines selbstbestimmten Lebens machen können, die bei mir in der Damenumkleide Mitte der 1980er Jahre begannen und mein Leben bis heute prägen.

MONIREH KAZEMI

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