Ein Psychogramm aus Istanbul

Die verschleierte Putzfrau Meryem trifft auf die Psychiaterin Peri.
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Erbittert wird in den sozialen Netzwerken gestritten: Diese Netflix-Produktion wird mit überwältigendem Zuspruch, aber auch mit extremer Missgunst kommentiert. Erstaunlich ist dabei, dass Gefallen und Missfallen quer durch alle politischen Lager verläuft. Linke und Feministinnen, konservative Muslime und Säkulare, sie sind sich auch untereinander uneins. „Eine große Niederträchtigkeit“, titelt die islamistische Zeitung Yeni Akit. Sie verurteilt den Angriff auf die „nationalen und geistigen Werte“ und fordert die türkische Zensurbehörde auf, einzugreifen. Andere wiederum loben die Netflix-Produktion „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“, weil sie gegen die Islamophobie Partei ergreife.

„Anti-Feminismus reloaded“, befürchtet eine Feministin. Während eine andere „feministische Momente“ zu erkennen glaubt. Die Säkularen würden verspottet, kritisieren die einen, während andere Säkulare meinen, die Serie bringe das Problem Islam und Kopftuch auf den Punkt. Es gibt Linke, die klagen, die soziale Frage und Klassenzugehörigkeit würde zugunsten eines Kulturalismus ausgeblendet. Während andere gerade den sozialen „Realismus“ dieser Serie preisen.

Die hitzigen Debatten offenbaren, dass die Netflix-Produktion den Finger auf die offenen Wunden der Gesellschaft legt. Und dies gilt offenbar nicht nur für die Türkei. Auch in Ägypten, Jordanien, Libanon, Saudi-Arabien, Katar, Oman, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Marokko ist die Serie unter den Netflix-Top-10.

Berkun Oya, Drehbuchautor und Regisseur, porträtiert acht IstanbulerInnen quer durch alle sozialen und kulturellen Schichten. Da ist die verschleierte Putzfrau Meryem, die aus der konservativen, dörflichen Peripherie zur Arbeit in die Haushalte der Reichen in der City aufbricht. Sie lebt bei ihrem älteren Bruder Yasin, verheiratet mit der als junges Mädchen vergewaltigten Rukiye. Er hat einst in einem „Sonderkommando“ der türkischen Armee gedient, arbeitet nun als Wachmann in einem Nachtclub und ist unterschwellig hoch aggressiv. Die traumatisierte Rukiye wird in ihr Dorf zurückfahren und den Täter stellen – mit einem überraschenden Resultat.

Mit Mühe bestreiten Yasin und Meryem ihr Leben. Die moralischen Richtlinien holen sie beim Dorfgeistlichen Ali Sadi ein, dem Hodscha, Imam der Moschee, dessen Tochter Hayrinüsa heimlich Electro-Musik hört und auf ihre Freundin steht. Und da ist Peri, die Psychiaterin aus dem reichen, säkularen Elternhaus. Sie ist stark, solo und könnte auch mühelos CEO eines Großkonzernes sein.Da sind die verfeindeten kurdischen Geschwister Gülbin und Gülan, deren Familie aus Kurdistan nach Istanbul gezogen ist. Gülbin hat Medizin studiert, ist Psychiaterin; während die verschleierte Gülan sich ihren sozialen Aufstieg durch eine gute Heirat und Anpassung an die herrschenden politischen Verhältnisse gesichert hat.

Da ist Melisa, Schauspielerin einer türkischen Soap im Fernsehen. Sowie Sinan, der reiche Playboy, der in einer Residenz wohnt und bei dem Meryem putzen geht. Und da ist der Nachwuchsgeistliche Hilmi, der ganz erfüllt von dem Analytiker Carl Gustav Jung ist und auf Hayrinüsa steht.

Die Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft, die politischen Konfliktlinien – die Kurden, die Rolle des Islam, das Kopftuch als Symbol politischer Identität, die extreme soziale Ungleichheit: Regisseur Oya zeigt wagemutig alles, vieles in Therapiesitzungen von Meryem verlegt. Meryem ist mehrfach in Ohnmacht gefallen, wird im Krankenhaus untersucht und schließlich in die Psychiatrie überwiesen. Sie sitzt nun auf der Couch der Pychiaterin Peri gegenüber. Kopftuchträgerinnen sind für Peri Gestalten, die einem UFO entstiegen sein könnten. Sie war im Urlaub in Peru. Selbst mit den fernen PeruanerInnen habe sie leichter kommunizieren können als mit diesen Kopftuchfrauen.

Zunächst beiderseitige Sprachlosigkeit. Doch der Versuch, miteinander ins Gespräch zu kommen, markiert vielleicht den roten Faden dieser Serie.

Die fromme Meryem soll sich, so will es der autoritäre Bruder, vom Hodscha die Erlaubnis holen, um weiter zur Therapie gehen zu dürfen. In der Serie wird nicht nur die Therapeutin der Klientin helfen, sondern auch die so naive wie kluge Klientin der Therapeutin. Irgendwann fragt Meryem, wie lange man studieren müsse, um Ärztin zu werden. Und stellt fest: „Du hast wirklich nicht umsonst studiert. Du schaffst es, alles zurechtzubiegen und auf den Punkt zu bringen.“

Der Publikumserfolg der Serie ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Charaktere wie Menschen aus Fleisch und Blut wirken, denen wir überall in Istanbul begegnen. Die Furore, die die Serie entfacht hat, zeigt, dass die Menschen sich in den Charakteren wiedererkennen; ebenso der Missmut, den sie bei manchen auslöst.

Didaktik und einen erhobenen Zeigefinger wird man in „Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“ vergebens suchen. Moralische Urteile sind dem Drehbuchautor und Regisseur fremd. Stattdessen wird langsam und behutsam erzählt. Und man fragt sich am Ende: Ist das, was wir in der Türkei Gesellschaft nennen, vor allem eine Ansammlung marginalisierter und von Traumata geplagter Menschen? Tragikomische Figuren, die einfach nicht klarkommen mit den gewaltigen politischen und kulturellen Umbrüchen? Doch vielleicht gibt es noch einen Weg, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Diese Serie ist ein Psychogramm nicht nur von acht Menschen, sondern der ganzen Türkei – ja vielleicht der ganzen muslimischen Welt und des Zusammenpralls von Occident und Orient. Spannend und Augenöffnend.

ÖMER ERZEREN

„Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul“ (Netflix). Mit: Öykü Karayel, Fatih Artman, Funda Eryiğit. Regie: Berkun Oya, Drehbuch: Berkun Oya und Ali Farkhonde.

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