Ukraine: Europas Fatale Rolle

Foto: Theophilos Papadopoulos, flickr CC BY-NC-ND 2.0
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Europa, das einstige Friedensprojekt, ist im Krieg! Wer hätte sich das noch vor Kurzem vorstellen können? Selbst wenn noch kein Staat der Europäischen Union formal im ukrainisch-russischen Krieg Kriegspartei ist, dominiert das dortige Kriegsgeschehen die Berichterstattung, die Politik und die gesellschaftlichen Entwicklungen in ganz Europa seit Monaten. Ein aktives Eingreifen der EU-Staaten im Rahmen der NATO in den Krieg wird diskutiert, in Teilen sogar forciert.

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In Großbritannien werden Soldaten und Angehörige bereits durch die Presse auf ein Eingreifen vorbereitet. Der Premierminister sei bereit, den „nuclear button“ zu drücken. Annalena Baerbock freut sich darüber, dass deutsche Kinder beim Frühstück über die NATO reden, „Kriegsmüdigkeit“ ist ein moralisches Vergehen. Wer vom Frieden redet oder Verhandlungen fordert, ist schnell ein Lumpenpazifist. Was für ein Verrat am Wesenskern Europas!

Europa, das hieß 70 Jahre lang: Nie wieder Krieg! Alle Menschen werden Brüder!

Denn Europa, das hieß 70 Jahre lang: Nie wieder Krieg! Und Alle Menschen werden Brüder! Jene Liedzeile aus der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller, vertont von Ludwig van Beethoven, ist heute die „Europa-Hymne“. Wie oft wurde diese Sinfonie auf europäischen Festen aller Art gespielt? Aber ist es überhaupt noch erlaubt, die Russen zu den Menschen zu zählen?

Während auf jedem Balkon die blaue Europafahne mit den zwölf gelben Sternen hängt und die EU eine europäische Friedenskonferenz einberufen müsste, nimmt Europa derzeit undifferenziert Partei für eine geeinte ukrainische Nation, die es in dieser Form nie gab, noch gibt, sondern die wie alle Nationen in Europa ein multi-nationales und multi-ethnisches Produkt der Geschichte ist, eine „imaginierte Gemeinschaft“, die zu überwinden Europa im letzten Jahrhundert angetreten war. Peter Scholl-Latour, befragt zum ukrainischen Maidan 2014, sagte als ersten Satz: „Man hat gar nicht zur Kenntnis genommen, dass die Ukraine kein geeintes Land ist“, für das zu kämpfen und zu frieren – koste es, was es wolle – Europa heute aber aufgewiegelt wird?

„U-kraine“ heißt etymologisch so etwas wie „an der Grenze“. Die Krim war in der Geschichte immer entweder ottomanisch oder russisch. Kiew, eine der ältesten Städte Europas, gilt in Erzählungen als „Mutter der Rus“. Odessa wurde später zum kulturellen und religiösen Melting-Pot, wie die meisten europäischen Städte, sei es Prag, Triest oder Wien. Galizien, die Westukraine, also Lemberg, gehörte bis 1918 zum Habsburger Reich. 

Die „geeinte ukrainische Nation mit anti-russischer Identität“ ist eine mit enorm viel amerikanischem Geld geförderte Erzählung der letzten Jahre. Wie schnell das Friedensprojekt Europa, die EU, mithilfe einer sagenhaften Kriegspropaganda seit Februar 2022 zu einer Drehscheibe für den „Ringtausch schwerer Waffen“ wurde, einem Zirkus gleich, kann nur noch fassungslos, wütend und traurig zugleich machen.

Europa brüllt sich erschütternd kriegslüstern in einen Krieg hinein

Seit einem halben Jahr brüllt sich Europa erschütternd kriegslüstern und geschichtsvergessen in diesen Krieg hinein, der Russe ist wieder da, ganz als ob Europa auf einen Feind gewartet habe, um sich endlich zu einen. Kämpfen gilt wieder als chic, vor allem in den Mündern jener Politiker oder Journalisten, die ihre eigenen Kinder niemals in den Krieg schicken würden. Es geht fast nur noch um den militärischen Sieg, es geht wieder um Imperialismus und Einflusszonen – amerikanische hier, russische dort: Europa müsse nun in Kiew verteidigt werden, so wie damals am Hindukusch, heißt es im Überschwang der politischen Erregung. 

Es ist ganz so, als hätte Europa sich entschieden, noch einmal alle Elemente der Kriegspropaganda zu wiederholen, wie die belgische Historikerin Anne Morelli sie für den Ersten Weltkrieg aufgeschrieben hat: Wohin man schaut, überschwängliche Parteinahme für die Ukraine, völlige Dämonisierung des Gegners, Reduzierung des Feindes auf eine Person (Putin), fehlende Kontextualisierung, klare Teilung in Gut und Böse, empörte Abwehr von Mitverantwortung. Moral statt Geostrategie. 

Der Gegner ist allein für alle Gräuel verantwortlich, man selbst verteidigt ein edles Ziel und keine Interessen. Nur der Feind begeht Grausamkeiten, eigene Fehler passieren unabsichtlich, der Feind benutzt unerlaubte Waffen. Wer die eigene Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter, in diesem Fall ein „Russlandversteher“ oder Ähnliches. Die Psychodynamik der Kriegshetzer erinnert an 1914. Europa in der kompletten Regression!

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Derweil, diese Zeilen werden Mitte September 2022 geschrieben, gehen durch Tod oder Verwundung mindestens 1.000 Soldaten pro Tag verloren, die meisten davon Ukrainer. Durchgestochene Dokumente der ukrainischen Regierung, die auf den 21. April datiert sind, lassen sogar noch viel höhere Opferzahlen erahnen. Mitunter sind die Verluste in einer einzelnen Brigade so hoch, dass die verbleibenden Soldaten desertieren. „Herr Präsident, ich möchte keinen Krieg machen, ich bin nicht auf Erden, um einfache Leute zu töten“, so sang der Franzose Boris Vian im Februar 1954. „Wenn Sie Blut geben wollen, dann geben Sie Ihr eigenes, Monsieur le Président!“ Wer kennt das Lied überhaupt noch? Es ist ein europäischer Erinnerungsort!

Der anachronistische Krieg, geführt mit schweren Waffen im Zeitalter der Drohnen, des Cyberwars und des neurological warfare, geführt um nationale Grenzen im Zeitalter der Entgrenzung, mutet an wie ein Krieg des letzten Jahrhunderts, zumindest in Europa. Ein Relikt aus der Zeit vor 1949, das jetzt wie ein Dämon noch einmal auftaucht. Seit jeher war Europa das Territorium – um nicht zu sagen: das Schlachtfeld – für Weltkriege. Die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts nahmen von Europa aus ihren Lauf. Die Soldatenfriedhöfe von Verdun bis Riga erinnern daran. „Was wir teilen, ist, dass wir alle zugleich Schlächter und Opfer waren“, schreibt Laurent Gaudé in seinem großartigen Epos „L’Europe, Banquet des Peuples“. Wollen wir wieder damit anfangen?

Was treibt Europa in diese historische Selbstvergessenheit und Selbstschädigung?

Der ganze Wahnsinn der ahistorischen Betrachtungsweise dieses Krieges zeigt sich allein in der fast gebetsmühlenartigen Betonung des „russischen Angriffskrieges“ vom 24. Februar 2022. Als sei dieser Krieg punktgenau an diesem Tag plötzlich vom Himmel gefallen. Seit Februar wird den europäischen Fernsehzuschauern eingebläut, dass der aktuelle ukrainisch-russische Krieg, der im Herbst 2022 – zum kolossalen Schaden Europas – als Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland zu entgleisen droht, an diesem und erst an diesem Tag angefangen hat. Und dass es dafür nur einen Schuldigen gibt: Putin. Mit dem man nicht reden könne und der deswegen militärisch besiegt werden müsse.

Was treibt Europa in diese historische Selbstvergessenheit, seine Selbstschädigung gar? Verteidigt wird ein Nationalstaat, obgleich Europa die Überwindung des klassischen Nationalstaates sein sollte. Was als Verteidigung europäischer Werte deklariert wird, ist im Grunde deren Perversion: Krieg für einen Nationalstaat ist das Vokabular des letzten Jahrhunderts, des „dreißigjährigen Krieges von 1914 bis 1945“ (Philipp Blom), als gekämpft wurde um Eupen-Malmedy, das Elsass, Schlesien oder Ostpreußen. Und heute um den Donbass oder die Krim? Was soll dieser Rückfall ins 20. Jahrhundert, nachdem die EU als größtes Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts genau aus diesen Erfahrungen lernen und Europa alle seine Staaten und Völker in eine gesamteuropäische Friedensordnung einbetten wollte?

„Putin“ mag der Auslöser sein für die aktuelle Kopflosigkeit europäischer Politik, der Grund oder der Vorwand gar, greift aber als Antwort zu kurz. Denn „Putin“ lenkt vom Eigentlichen ab! Das Eigentliche ist, dass die beiden europäischen Großprojekte, die 1989 am Ende des Kalten Krieges – am vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) – die Hoffnungsträger für eine Neugestaltung des europäischen Kontinentes waren, gescheitert sind. Daran ist nicht „Putin“ schuld, sondern Europa allein, das sich behaglich und geschichtsvergessen in einen „Westen“ gebettet hat, den es längst nicht mehr gibt, anstatt nach 1989 an seiner Emanzipation zu arbeiten.

Das eine europäische Großprojekt im Moment des Mauerfalls von 1989 war die Ever Closer Union, eine immer engere Europäische Union, besiegelt durch den Maastrichter Vertrag von 1992. Europa sollte eine politische Union und Föderation werden. Von einem europäischen Bundesstaat war die Rede. Das andere war der Aufbau einer kooperativen, kontinentalen Friedensordnung, jenes „europäische Haus von Lissabon bis Wladiwostok“, von dem Michail Gorbatschow stets sprach. Jener Michail Gorbatschow, der Deutschland die Wiedervereinigung schenkte, im selben historischen Moment, in dem Helmut Kohl das Versprechen abgab, dass deutsche und die europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille seien. 

Was wir erleben ist auch die Zerstörung Europas als Idee

Die immer engere Europäische Union fand bis heute, rund dreißig Jahre später, nicht statt. Ihre Umsetzung ist gescheitert. Die EU ist bestenfalls ein Phantom dieses geeinten Europas, wie Régis Debray es noch 2019 in einem fulminanten Essay beschrieben hat. Der augenblickliche Krieg in und um die Ukraine ist darum nicht nur ein weiterer blutiger Krieg. Er ist auch und vor allem die Zerstörung des politischen Europas als Idee!

Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend Verlag)
Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel Europa (Westend Verlag)

In den 1990er Jahren gab es noch das Bemühen, dieses politische Europa voranzutreiben, doch dieses versandete spätestens nach dem Versuch einer Europäischen Verfassung von 2003. Ein neuer Anlauf für eine Verfassung wurde nicht gewagt. Vertiefung und Erweiterung der EU, die in den 1990er Jahren noch zusammen gedacht wurden, drifteten ab 2004 auseinander. Die EU-Osterweiterung glückte, die sogenannte Vertiefung oder Demokratisierung der EU aber ist bis heute nicht gelungen.

Übrig von den Projekten der 90er Jahre blieb 2002 der Euro, der aber ohne politisches Dach und europäische Sozialpolitiken zum trojanischen Pferd für eine Neoliberalisierung der Europäischen Union werden konnte. Eine politisch ungeeinte und institutionell fragile Europäische Union geriet dann ab 2008 in den Strudel der Bankenkrise, die der Auslöser für eine europäische Krisendekade wurde, von der sich die EU bis heute nicht erholt hat und wohl auch nicht mehr erholen wird.

Zwischen 2010 und heute gab es in loser Folge Austeritätspolitik, die Spaltung Europas in Nord und Süd, linken Populismus im Süden, rechten im Norden, Flüchtlingskrise, Populismus, Nationalismus, dann den Brexit 2016, dazu Regionalismus in Schottland und Katalonien, soziale Spaltung nie gekannter Dimension in ganz Europa, dann eine semi-autoritäre Corona-Politik der EU und jetzt wieder heißen Krieg. Europa, du Schöne, wo bist du?

Der Text ist ein Auszug aus "Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist - und wie wir wieder davon träumen können" von Ulrike Guérot und Hauke Ritz (Westend Verlag).

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