Pazifistinnen mitten im Kriegstaumel

1926: Treffen der Internationalen Frauenfriedensliga in Washington
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Im Mai 1899 fanden in 20 Ländern in der ganzen Welt gleichzeitig 565 öffentliche Versammlungen statt, von Schweden bis Russland, von Kanada bis Japan: 565 Frauenversammlungen gegen den allgemeinen Rüstungswahn. Ab dem 18. Mai tagte in Den Haag eine angebliche „Internationale Abrüstungskonferenz“. Doch die wirklichen Friedensfrauen wurden als „vaterlandslos“ und „internationalistisch“ beschimpft. Pazifistinnen – das war ohnehin ein Schimpfwort. Nach Deutschlands Kriegserklärung 1914 waren sie vollends isoliert. Deutschland verfiel in eine regelrechte Kriegseuphorie.

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Auch die Intellektuellen und Schriftsteller waren einem kriegsbegeisterten Hurra-Patriotismus verfallen und meldeten sich massenhaft als Freiwillige. Ein Thomas Mann jubelte in der Neuen Rundschau im September 1914: „Deutschlands ganze Tugend und Schönheit – wir sahen es erst jetzt – entfaltet sich erst im Kriege.“ 69 Intellektuelle, darunter die Professoren Max Planck und Wilhelm Röntgen, der Künstler Max Liebermann und der Theaterdirektor Max Reinhard, verwahrten sich in einem Aufruf „An die Kulturwelt“ gegen die Kritik, Deutschland führe einen Angriffskrieg. Der aggressive deutsche Militarismus diene nur dem Schutze deutscher Kultur. Und alle Parteien, inklusive der Sozialisten, im Reichstag billigten die fünf Milliarden Kriegskredite.

Auch Thomas Mann jubelte für den Krieg

Wirklich abrüsten wollte also niemand. Nur die Pazifistinnen, vor allem die Deutschen, dort tönte es zu der Zeit nämlich besonders militaristisch. Kaiser Wilhelm wollte Englands Herrschaft der Meere brechen; in China tobte der „Boxeraufstand“, mit dem die Chinesen versuchten, sich gegen europäische und amerikanische Fremdherrschaft zu wehren; und Deutschland rüstete sich für eine Militär-Expedition nach Asien, um seine Wirtschaftsinteressen mit Waffen zu sichern. Kommt uns das bekannt vor?

Da initiierten zwei Frauen aus München eine weltweite Friedensaktion: Margarete Selenka, Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft, sprach Anita Augspurg (1857–1943) an, Juristin und Feministin. Die war international vernetzt, nur sie konnte schaffen, innerhalb kurzer Zeit eine weltweite Anti-Kriegs-Aktion auf die Beine zu stellen. Nur sie war unabhängig genug, sich gegen patriotische Großmannssucht zu wenden. Augspurg sagte Ja und warb in Minna Cauers Zeitschrift Frauenbewegung im Februar 1914 für die Idee: „Wir wollen statt all jener verschwendeten Milliarden Förderung von Kunst, von Wissenschaft, von Erziehung und Gesundheit, von Volkswohl und Menschenrecht! Wenn die Frauen mit diesem einheitlichen Rufe in die internationale Politik eintreten, so wird man sie nicht zurückweisen können.“

Augspurgs Aufruf erschien in Frauenzeitschriften in aller Welt, Briefe wurden durch ganz Europa geschickt. Schnell fanden die Pazifistinnen Verbündete. Ohne E-Mail und Telefon, per Brief und Telegraphenamt lösten sie in kurzer Zeit eine gewaltige Bewegung aus. Prompt meldeten sich aus Europa, Amerika, Asien zahlreiche Gruppen, die mitmachen wollten. Auch Bertha von Suttner (1843–1914), die 1904 den noch heute berühmten pazifistischen Roman „Die Waffen nieder“ veröffentlicht hatte, war selbstverständlich dabei. Ihr Anti-Kriegs-Buch war erst ein Skandal, dann ein Welterfolg geworden – und ein mächtiger Anstoß für die Friedensbewegung. Die Autorin und Agitatorin gründete eine pazifistische Zeitschrift, die ebenfalls Die Waffen nieder hieß. Heftig wurde sie bekämpft, in Zeitungen karikiert, als Friedensbertha, rote Bertha oder Judenbertha beschimpft (weil sie gegen Antisemitismus eintrat). 1905 hatte Bertha von Suttner selber den von ihr angeregten Friedensnobelpreis erhalten.

Es war Frauen noch verboten, sich in Politik einzumischen

Zehn Jahre später trat der befürchtete Ernstfall ein: Es drohte Krieg. Allein in Amerika fanden über 200 Frauen-Friedens-Meetings statt, oft mit Tausenden von Teilnehmerinnen. Das viel kleinere England stand mit 116 Veranstaltungen auch nicht schlecht da, in Norwegen waren es immerhin 30. In Deutschland aber nicht mehr als sechs, alle organisiert von den so genannten „Radikalen“, dem universalistischen Flügel der Frauenbewegung. Den anderen Frauenvereinen war Politik oder gar Pazifismus zu heikel. Damals verboten die deutschen Vereinsgesetze noch, dass sich Frauen in Politik einmischten. Die meisten Frauenvereine waren entsprechend vorsichtig. Die eigene Regierung, gar den Kaiser zu kritisieren! Ganz im Gegenteil meldete sich ein halbes Jahr später der große Allgemeine deutsche Frauenverein zu Wort, mit dem Aufruf, die deutsche Kriegspolitik zu unterstützen.

Lida G. Heymann (1868–1943), die Organisatorin der Hamburger Friedensveranstaltung, bemühte sich darum, mit ihren Begrüßungsworten nicht gleich die Zögerlichen zu verschrecken: „Wir deutschen Frauen verlangen ebenso wenig wie die Frauen anderer Länder eine einseitige Machtreduction und Schwächung der Wehrkraft unseres Vaterlandes, aber wir glauben, mit Recht behaupten zu dürfen, daß die blutigen Gewaltthaten des Krieges sich in großem Widerspruch mit unserer heutigen Cultur befinden.“ Sodann arbeitete sie heraus, dass diese Versammlung „den Grundgedanken der internationalen Frauenbewegung, dem Recht die Herrschaft über die Gewalt zu verschaffen“, transportiere.

Dem Recht die Herrschaft über die Gewalt verschaffen – in der Beziehung der Staaten wie in der Beziehung der Geschlechter. Bertha von Suttner und Margarete Selenka fuhren zu der kriegsentschlossenen „Abrüstungskonferenz“ nach Den Haag und überbrachten den tagenden Staatsmännern die gesammelten Resolutionen der weltweiten Protestbewegung. Vergeblich. Die Konferenz endete wie befürchtet: Ohne Beschlüsse zur Abrüstung. Doch immerhin gründete sie den Haager Schiedshof, der internationale Streitigkeiten schlichten sollte, und verabschiedete die heute noch gültige (und heute noch missachtete) Haager Landkriegsordnung zum Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg.

Die allererste öffentliche Stimme in Deutschland gegen den Krieg erhob sich Anfang September 1914 in der Zeitschrift Frauenbewegung. Titel: „Recht unter den Völkern – Faustrecht“. Verfasserin: Lida G. Heymann. Man kann sich ausmalen, welch ungeheurer Mut dazu gehörte. Mitten in der allgemeinen Kriegseuphorie wagte es die Feministin zu schreiben: „Wir Frauen aller Nationen, die wir keinen Teil am Völkerkrieg, an Zerstörungen, Morden und Hinschlachten hatten, wir sind dazu berufen, in Zukunft die Träger wahrer Kultur zu sein. Uns Frauen beseelt kein Völkerhass, wir vergaßen nicht einen Augenblick, was die jetzt kämpfenden Völker einander an höchster geistiger Kultur, an wirtschaftlichem Fortschritt schulden. Das Gefühl von Mensch zu Mensch, gleichviel welcher Nation er angehört, ist in den Frauen um nichts verringert worden. Wir reichen den Frauen aller Nationen, die mit uns gleichen Sinnes sind, die Hand.“ Die Reaktion: Empörung und Hass.

Mai 1915 - ein
Friedens-Kongress
mitten im Krieg

Doch die Pazifistinnen ließen sich nicht einschüchtern. Sie setzten alles daran, die internationale Zusammenarbeit nicht abreißen zu lassen. In Briefen und Zeitungen flogen Solidaritätsadressen über die Grenzen. Briefe ins Ausland wurden beschlagnahmt, kamen zu spät oder gar nicht an. Mitten im Krieg bereiteten sie einen internationalen Friedenskongress vor: für Mai 1915 in Den Haag, in der Stadt der scheinheiligen Friedenskongresse. Lida Heymann entwarf ein Flugblatt und verteilte ihren dramatischen Aufruf über die wenigen verbliebenen Freundinnen in ganz Deutschland: „Frauen Europas, wann erschallt euer Ruf!“

Das bayerische Kriegsministerium beschlagnahmte das Flugblatt, wo immer es auftauchte. Die Polizei durchsuchte Heymanns Münchener Wohnung, fand aber nichts – die Blätter waren schon verteilt. Minna Cauer wurde in Berlin wegen Heymanns Text zum Zensor auf das Heeres-Oberkommando bestellt. Sie bekam die Auflage, in Zukunft ihre Druckfahnen vor Veröffentlichung dem Zensor vorzulegen.

Die Pazifistinnen waren stark, aber sie waren wenige und wurden nicht nur von Regierung und Presse, sondern auch von Frauen boykottiert. So teilte vor Beginn des Friedenskongresses in Den Haag Gertrud Bäumer, die Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine (also des Dachverbands aller organisierten Frauengruppen) ihren Mitgliedern mit: „Der Vorstand ist der Meinung, dass der Besuch des Kongresses nicht nur den nationalen Verpflichtungen der deutschen Frauen auf das Entschiedenste widersprechen würde, sondern dass die Teilnahme eine große Gefahr für die Zukunft der deutschen Frauenbewegung darstelle. Es wird als eine unbedingte Pflicht und Solidarität innerhalb der deutschen Frauenbewegung bezeichnet, dass ihre Mitglieder dem Kongress fernbleiben.“

Über tausend Frauen aus 15 Ländern kamen

Dennoch kamen weit über 1.000 Frauen aus 15 Ländern im Mai 1915 nach Den Haag, von Norwegen bis Italien, von Kanada bis Ägypten. Nur 28 kamen aus Deutschland; mehr wollten teilnehmen, hatten aber keinen Pass bekommen. Darüber entschied die Militärbehörde. Aus England wollten 180 Frauen fahren – aber Winston Churchill als Chef der Marine verfügte, dass zum Kongreßbeginn der Schiffsverkehr über den Kanal eingestellt wurde. So konnten nur fünf teilnehmen, die zufällig schon vorher auf dem Kontinent gewesen waren. Sogar das amerikanische Schiff mit den 40 amerikanischen Delegierten wurde von der britischen Marine in Dover aufgehalten. Aber nur kurz – diplomatische Verwicklungen mit Amerika wollte England nun doch nicht.

Verblüffenderweise bekamen die Belgierinnen von der deutschen Besatzungsmacht in Brüssel nicht nur Pässe, sondern sogar ein Auto, das sie nach Den Haag brachte. Was bedeutete das? Wünschten inzwischen auch die Militärs an der Front, die wussten, wie es auf den Schlachtfeldern aussah, den Frieden?

Gleich am ersten Tag benannte Lida Heymann das größte Tabu aller Kriege: „Wir wissen, dass Frauen vergewaltigt werden, und wir protestieren dagegen, denn schlimmer als der Tod, schlimmer als die Hölle, schlimmer als alle Teufel ist Vergewaltigung für Frauen. Wir wollen nicht länger hören, dass wir Frauen durch den Krieg beschützt werden. Nein, wir werden durch den Krieg vergewaltigt!“ Rasender Beifall. Endlich sprach eine aus, was alle wussten und niemand zugeben wollte.  Ganz am Anfang der Beschlüsse dieses Kongresses, gleich nach dem Protest gegen den Krieg, „der nutzlos Menschenleben fordert“, stand dann auch der Protest „gegen die entsetzlichen Vergewaltigungen von Frauen, welche die Begleiterscheinung jedes Krieges sind“.

Die Versammlung entlarvte die patriotische Lüge, Soldaten im Feld verteidigten Frauen und Kinder. Im Gegenteil – Frauen und Kinder waren Opfer des Krieges, sie litten Hunger, sie mussten erleben, wie ihre Häuser geplündert oder zerstört würden, sie waren Opfer der Bomben, die in diesem Krieg zum ersten Mal eingesetzt wurden. Sie wurden Opfer von Vergewaltigung.

Kriege dienen nicht dem Volk oder der Nation, sondern den Eroberungs- und Wirtschaftsinteressen, analysierten die Frauen. Sie forderten die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und internationale Kontrolle des Waffenhandels. Und wandten sich gegen Annexionsgelüste: „Dass kein Gebiet ohne die Einwilligung seiner männlichen und weiblichen Bevölkerung übertragen werde.“ Es war ja bekannt, dass sich Deutschland einen Teil Frankreichs und Belgiens einverleiben und auch im Osten zulangen wollte.

Die todesmutigen Pazifistinnen setzten auf demokratische Kontrolle der Außenpolitik statt Geheimdiplomatie – wobei demokratisch auch hieß: gleichberechtigt gewählte Frauen und Männer. Internationale Streitigkeiten sollten in Zukunft durch ein Schiedsgericht geregelt werden; über ein Land, das im Streitfall zu den Waffen greift, anstatt Schiedsspruch anzurufen, sollten soziale, moralische und wirtschaftliche Maßregeln verhängt werden. Eine Vorwegnahme der UNO.

Der Kongress wählte eine Gruppe Frauen aus neutralen Ländern, die alle Regierungen aufsuchen sollte, um dort die Beschlüsse vorzustellen und zu diskutieren: darunter die Organisatorin Aletta Jacobs, Jane Addams aus Amerika, Rosika Schwimmer aus Budapest und zwei weitere. Überall in Europa wurden die Frauen vom Ministerpräsidenten oder anderen hochrangigen Politikern empfangen: in Norwegen von Regierung und König, in Rom auch von Papst Benedict, der sich anderthalb Stunden für das Gespräch nahm. In Berlin wurde die Delegation vom Staatssekretär des Auswärtigen Amtes empfangen. Der befand die Vorschläge für vernünftig – und undurchführbar, solange Kanzler und Kaiser strikt auf Krieg und Sieg setzten. In Wien antwortete ihnen der Außenminister, das seien die ersten vernünftigen Worte seit Kriegsbeginn. Aber die Militärs seien zu mächtig, als dass Vernunft sich durchsetzen könnte.

Schließlich fuhren sie nach Amerika und stellten Präsident Wilson ihre Vorschläge vor. Der fand sie nicht nur politisch klug und zukunftsweisend. Er übernahm den größten Teil und präsentierte das Ganze ein Jahr später den Kriegsparteien als „14 Punkte – für einen Frieden ohne Sieger und Besiegte“.

Von der Polizei bespitzelt, zensiert und überwacht

Nur in Deutschland war es so gut wie unmöglich, die Ergebnisse des Kongresses auch nur öffentlich zu machen. Ein erstes, in Holland gedrucktes Flugblatt war schnell vergriffen, weitere Auflagen wurden verboten. Minna Cauer wollte in der Zeitschrift für Frauenstimmrecht einen ausführlichen Artikel über Den Haag bringen, der Zensor verbot ihn. Heymann gab bei einer Münchener Druckerei weitere Exemplare des Flugblattes in Auftrag. Der Drucker hatte nichts Eiligeres zu tun, als das dem Kriegsministerium zu melden. Heymann wurde im Wiederholungsfall mit einem Jahr Gefängnis bedroht. Außerdem wurde ihr untersagt, in Versammlungen aufzutreten – und über diese Verfügung zu sprechen.

Nun gründeten die Teilnehmerinnen des Haager Kongresses in allen Ländern „Frauenausschüsse für den dauernden Frieden“. In Deutschland musste das heimlich geschehen. Heymann und Augspurg organisierten eine Gruppe in München, Frieda Perlen in Stuttgart, Gertrude Baer in Hamburg. Ende 1915 gab es Gruppen oder auch einzelne Mitarbeiterinnen in 18 Städten – immer von der Polizei überwacht, mit Versammlungs- und Publikationsverboten mundtot gemacht und dennoch nicht kleinzukriegen. Da sie nicht drucken durften, schrieben sie mit der Hand oder der Schreibmaschine die Haager Beschlüsse ab und verteilten sie weiter. Einige Tausend kamen so unter die Leute.

Die Polizei verhinderte Treffen, bespitzelte die Mitglieder, zensierte den privaten Briefwechsel, überwachte Telefongespräche. Sie trafen sich in Privatwohnungen, tarnten ihre Versammlungen als Teestunden und schrieben sich codierte Berichte in Form von Familiengeschichten. Die Militärbehörde war der „alte Onkel“ oder der „Papa“, der an chronischem Gehirnschwund, Podagra und sonstigen Senilitäten litt. Auch über Versammlungen konnte man sich so veständigen: „Unsere Familienmitglieder kommen in Frankfurt ganz in der Stille zusammen.“

Jede pazifistische Tätigkeit wurde verboten

Je länger der Krieg dauerte, desto drastischer wurde die Einschüchterung. Jede pazifistische Tätigkeit wurde verboten, Reisen erschwert oder ganz untersagt. Die Hamburgerin Lida G. Heymann wurde aus Bayern ausgewiesen und musste sich bis Kriegsende auf dem Land verstecken. Aber es stießen immer neue Frauen dazu. Constanze Hallgarten aus angesehener Münchener Familie, befreundet mit Familie Mann, arbeitete im „Frauenausschuss für dauernden Frieden“ mit. Daraufhin stellte Thomas Mann seine Besuche bei Hallgartens ein – und Thomas’ Tochter Erika schloss sich den Friedensfrauen an.

Die Frauen schickten unerschüttert Eingaben an den Reichstag, „alle Mittel zu ergreifen, die zur Beendigung des grauenvollen Krieges führen. Den Weg dazu erblicken die Frauen darin, dass die Regierung klar ausspricht, was die deutschen Kriegsziele sind, insbesondere erklärt, dass sie einem Frieden zustimmt ohne Annexionen. Die Völker haben das unbedingte Recht zu verlangen, dass endlich ein Weg zur Verständigung gefunden werde“.

Der Erste Weltkrieg kostete zehn Millionen Menschen das Leben, 20 Millionen wurden verwundet. Die Kriegskosten wurden auf 950 Milliarden Goldmark geschätzt. Nach dem Krieg, als Militärs, Monarchisten, Reaktionäre, Rüstungsindustrie und Nazis gegen die Weimarer Republik scharfmachten, hielten die Pazifistinnen dagegen. Sie hatten ihre Organisation in Frauenliga für Frieden und Freiheit umbenannt, durften endlich öffentlich auftreten, sprachen für Völkerverständigung, veranstalteten internationale Sommerschulen.

Doch auf jeder Veranstaltung tauchten neuerdings lärmende junge Männer mit Hakenkreuzen auf, brüllten Altdeutsche und Chauvinisten ihre Parolen, störten Antisemiten lauthals. In München waren schon Anfang der 20er Jahre die Nazis allgegenwärtig. Sie lachten, wenn die Versammlungsleiterin sie aus dem Saal weisen wollte, begannen Raufereien, verhinderten Diskussionen. 1920 machte die Frauenliga gemeinsam mit anderen Friedensgruppen eine Eingabe an den bayerischen Landtag und fragte: „Welche Maßnahmen sollen ergriffen werden, um die unerhörten Ordnungsstörungen und Gewalttaten in München abzustellen?“

Brauner Terror beherrschte die Straßen

Drei Jahre später, als die Bedrohung durch gewalttätige Nazis noch drastischer geworden war, sprachen Frauen der Frauenliga, der Friedensgesellschaft und vom Katholischen Frauenverein im Februar 1923 beim bayerischen Innenminister vor. Sie forderten, Regierung und Polizei müsse Versammlungs- und Meinungsfreiheit schützen und dürfe nicht länger tatenlos zusehen, wie brauner Terror die Straßen beherrschte. Und sie verlangten: Adolf Hitler, der Österreicher und Kopf dieses Terrors, muss aus Bayern ausgewiesen werden! Unvorstellbar, was Deutschland und der Welt erspart geblieben wäre, hätte man auf die Frauen gehört.

Nach Hitlers Machtantritt 1933 wurden diese Frauen gnadenlos verfolgt. Manchen gelang die Flucht ins Exil, manche wurden ins KZ verschleppt. Die Büros der Liga wurden verwüstet, Dokumente vernichtet. Aus dem Exil versuchten Pazifistinnen wie Anita Augspurg und Lida Heymann weiter, die Welt vor den Nazis zu warnen. Sie hatten ja in Deutschland die braune Gewalt von nahem erlebt. In Pax International, der Zeitschrift der Frauenliga, die auf Englisch erschien, schrieb Heymann Ende 1933 (!): „Wer den Faschismus gewähren lässt, lässt zu, dass man selbst mit gebundenen Händen und gestopftem Mund in den nächsten Holocaust getrieben wird. Frauen steht auf: Gegen Faschismus und gegen Krieg!“

So früh war nicht nur der Feministin Heymann klar, dass Hitler Krieg und „Holocaust“ (wörtlich) bedeutete. 1934 legten Heymann und Baer der Liga ein Papier vor, um diese Gewissheit der Welt mitzuteilen: „Faschismus ist gleichbedeutend mit Krieg. Unter faschistischer Diktatur wird Leib und Seele des Menschen militarisiert, von der Wiege bis zum Grabe auf Gewalt und Krieg gedrillt. Ein Volk, dessen Männer und Frauen so militärisch verseucht sind, muss sich, um überhaupt weiter existieren zu können, kriegerisch betätigen.“ Wie weitsichtig …

Dem englischen Vertreter beim Völkerbund in Genf überreichten Lida Heymann und Gertrud Baer im selben Jahr ein Papier, das Hitlers geheime Aufrüstung genau dokumentierte. Mühsam hatten sie sich die Unterlagen von deutschen Liga-Mitgliedern über Deckadressen beschafft. Ihr Gesprächspartner nahm es zur Kenntnis und ließ höflich durchblicken, dass seiner Meinung nach die beiden Damen stark übertrieben. Ohnmächtig mussten die Pazifistinnen zusehen, wie Deutschland in Europa einen neuen Krieg entfesselte.

Hitlers Spur der Verwüstung hinterließ 52 Millionen Tote: ermordete Juden und politische Gegner; getötete Soldaten, zerbombte, verbrannte, verhungerte Frauen, Männer und Kinder an der „Heimatfront“. Und eine fast gänzlich ausradierte Frauenbewegung.

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Frauen, wann erschallt euer Ruf!

Lida Gustava Heymann: "Frauen Europas, wo bleibt Eure Stimme?"
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In des Sommers Herrlichkeit schlug der Blitz des grausigsten aller Kriege und setzte ganz Europa in Flammen. Frauen aller kriegführenden Staaten gaben gehobenen Hauptes und mutigen Herzens ihre Gatten zum Schutze des Vaterlandes her. Mütter ließen Söhne, Mädchen die Verlobten ohne Wimperzucken hinaus in den Tod und Verderben ziehen. Rast- und ruhelos schufen und schaffen die Frauen daheim, um der seelischen, körperlichen und wirtschaftlichen Not zu steuern, die diese Zeit heraufbeschworen.

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Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden?

Der Sommer ist dahin, der Herbst kam und ging, wir stehen im Winter. Millionen Männer blieben auf dem Felde, sie sehen die Heimat niemals wieder. Andere kehrten heim, zerschlagen und krank an Leib und Seele, Städte höchster Kultur, Stätten trauten Menschenglückes sind vernichtet, Europas Boden raucht von Menschenblut, – Menschenblut, Menschenfleisch wird zum Nährboden für die wogenden Kornfelder der Zukunft auf deutscher, französischer, belgischer und russischer Erde.

Millionen Frauenherzen flammen auf in wildem Weh. Keine Sprache der Erde ist reich genug, um so viel Leid in seiner ganzen Tiefe zu schildern. Und weiter tobt der völkerverhehrende Krieg!

Frauen Europas, wo bleibt Eure Stimme? Seid Ihr nur groß im Dulden und im Leiden?

Kann die vom Menschenblut rauchende Erde, können die Millionen von zerschundenen Leibern und Seelen Eurer Gatten, Verlobten und Söhne, können die Greuel, die Eurem eigenen Geschlecht widerfahren, Euch nicht zu flammendem Protest erheben?

Schon traten im Süden Europas Männer zusammen, um Friedensworte zu tauschen. Schon tagten im Norden Europas Männer, um Frieden zu wirken. Frauen Europas, wo bleibt Eure Stimme, um Frieden zu säen? Lasst Euch nicht abhalten durch jene, die Euch, weil Ihr den Frieden wollt, der Schwäche zeihen, die da sagen, Ihr werdet durch Euren Protest den blutigen Gang der Geschichte nicht aufhalten.

Versucht zum mindesten dem Rad der Zeit, menschlich, mutig und stark, würdig Eures Geschlechtes in die bluttriefenden Speichen zu greifen. Protestiert kraftvoll gegen den völkermordenden Krieg und bereitet den Frieden vor, kehret heim, jede in ihr Vaterland und wiederholt den Ruf. Erfüllet Eure Pflicht als Frauen und Mütter, als Hüterinnen wahrer Kultur und Menschlichkeit.

Lida Gustava Heymann, 1915

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