Wir Role-Models

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EMMA: Warum hast du die MarVie-Stiftung gegründet?
Marvy Rieder: Weil ich in meiner Zeit als Model in New York viele 16-jährige Mädchen getroffen habe, die allein dort in dieser Modelwelt lebten, von nichts eine Ahnung hatten und ohne jede Hilfe mit ihren Ängsten da standen. Da habe ich beschlossen: Ich muss etwas tun, um diesen Mädchen zu helfen.

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Wie bist du selbst zum Modeln gekommen?
Da war ich 19. Ein Fotograf hatte mich gesehen und gefragt, ob er mich fotografieren dürfte. Und meine Mutter sagte: Warum versuchst du’s nicht einfach? Ich habe das eineinhalb Jahre gemacht und mich dann entschieden aufzuhören. Ich habe mich einfach nicht wohl gefühlt: Du lebst ja als junger Mensch in einer Erwachsenenwelt, die nicht deine ist. Dann bin ich also zurück nach Holland und habe Kommunikationswissenschaften studiert. Nach zwei Jahren holte mich dann alles wieder ein: Ich wurde das Gesicht von Guess. Und dann war ich plötzlich sehr angesagt. Die Agentur wollte mich nach New York schicken. Und ich habe mich entschieden, es nochmal zu probieren.

Und ging es dir diesmal besser in der Modewelt?
Zuerst ja. Bevor ich nach New York gegangen bin, hatte ich drei Monate Zeit, um mich vorzubereiten. Ich bin ins Fitnessstudio gegangen und ich hab mich wirklich sehr gut gefühlt, war zufrieden mit meinem Aussehen und meinem Körper. Ich dachte: Ich sehe gut aus, ich fühle mich gut, los geht’s!

Das blieb aber nicht lange so …
Nein, denn sie sagen dir: „Marvy, du bist super, du siehst toll aus – aber du musst dringend ins Fitnessstudio gehen!“ Da war ich schon überrascht. Aber gut, ich bin wieder ins Studio gegangen und hab trainiert, trainiert, trainiert. Es war mir bewusst, dass das nicht okay war, aber du hast lauter Mädchen um dich rum, die alle noch viel dünner sind als du selbst. Man wird davon regelrecht infiziert. Und ich sollte auch andere Dinge an mir verändern: Meine Zähne, alles mögliche. Es gab immer irgendeinen Kommentar. Sie haben ihre Vision von einem Ideal und versuchen, dich in diese Form zu pressen.

Auf welches Gewicht hast du dich trainiert und gehungert?
Ich habe bei einer Größe von 1,77 Metern noch 50 Kilo gewogen. Schließlich habe ich meine Periode nicht mehr bekommen. Da bin ich ganz aufgeregt zu einer Kollegin gegangen und habe gesagt: „Stell dir mal vor, ich kriege meine Tage nicht mehr!“ Und sie hat geantwortet: „Mach dir darüber keine Gedanken. Das ist bei allen Topmodels so.“

Bist du denn in die Magersucht oder Bulimie gerutscht?
Nein, das glücklicherweise nicht. Ich habe schon noch gegessen, aber natürlich so wenig, dass es total ungesund war.

Und wie bist du aus alledem wieder rausgekommen?
Nach sieben Monaten musste ich nach Holland zurück, um mein Visum zu erneuern. Mein damaliger Freund war schockiert über meinen Zustand, meine Eltern fragten besorgt, ob mit mir alles in Ordnung wäre. Meine Blutwerte waren schlecht, mein Immunsystem war im Keller. Mein Körper hat mir gesagt: Marvy, du musst damit aufhören! Ich habe erst mal zwei Wochen am Stück geschlafen und dann angefangen, wieder ein bisschen normaler zu essen. Und das war ein richtiger Kampf, weil du so daran gewöhnt warst, ständig aufs Essen zu achten. Aber ich habe auf meinen Körper gehört und mir die Zeit genommen, wieder gesund zu werden. Und dann habe ich beschlossen, dass ich etwas tun will.

Wie wird die MarVie-Foundation arbeiten?
Sie soll die Models informieren. Wir arbeiten gerade an der Website www.marVie.org, außerdem möchten wir Workshops und Seminare anbieten, in denen ExpertInnen – von der Ernährungswissenschaftlerin bis zum erfahrenen Model – versuchen zu vermitteln: Wie kann ich ein Model sein, ohne dabei meine Gesundheit zu ruinieren? Viele dieser Mädchen sind 15 oder 17 Jahre alt, und sie haben einen solchen Stress, wenn sich ihre schmalen Mädchenkörper in Frauenkörper verwandeln. Anstatt stolz darauf zu sein, dass sie Hüften bekommen und eine Frau werden, was eine wunderschöne Sache ist, werden sie verrückt vor Angst. Wir möchten auch Gesundheits-Checks anbieten, denn diese Kontrollen nützen natürlich nur etwas, wenn sie von einer unabhängigen Stelle durchgeführt werden – nicht von den Agenturen oder den Kunden.

Wer ist denn „wir“? Gibt es MitstreiterInnen?
Ich bin Mitglied im Beirat der amerikanischen Academy for Eating Disorders, AED, die hat mich sehr unterstützt. So kann ich nun auf ein weltweites Netzwerk aus PsychologInnen, ÄrztInnen und Ernährungswissenschaftlerinnen von New York bis London zurückgreifen, die die Arbeit der Stiftung unterstützen wollen.

Ist es überhaupt realistisch, dass ein Model zu seiner Agentur sagt: „Sorry, aber ich nehme nicht ab“?
Viele Agenturen stehen natürlich eher auf der Seite des Kunden, den sie ja nicht verlieren wollen. Aber wenn es eine gute Agentur ist, kannst du mit ihr eine Strategie entwickeln, mit welchen Kunden du arbeiten willst, passend zu der Person, die du bist. Und es gibt tatsächlich Agenturen, die das tun. Meine Mutteragentur Modelmasters in Holland zum Beispiel hat sich mit mir zusammengesetzt, und sie haben mich gefragt: „Okay, Marvy, du bist der und der Typ mit der und der Größe. Was willst du machen? Womit fühlst du dich wohl?“ Und meine Agentur unterstützt auch meine Initiative. Es ist also möglich. Die Agenturen und die Kunden müssen begreifen, dass sie am Ende davon profitieren, wenn sie mit körperlich und seelisch gesunden Models arbeiten.

Hat die MarVie-Foundation schon begonnen zu arbeiten?
Die meisten Models fühlen sich als Einzelkämpferinnen. Deshalb hätte ich gern bei Shows in New York, London oder Paris ein Head-Office, das ich mir als eine Art Wohnzimmer wünsche. Die Mädchen sollen dorthin kommen und sich ein bisschen zu Hause fühlen können. Mit der Londoner Fashion Week sind wir dazu gerade im Gespräch. Und vor ein paar Wochen habe ich eine Aktion gemacht mit der Website „Go Supermodel“. Das ist eine Seite, auf der Mädchen zwischen acht und 14 virtuell ihr eigenes Model kreieren können. Sie haben für einen einstündigen Chat ein bekanntes Model gesucht. Und ich habe gesagt: ‚Okay, ich mache das, aber im Sinne der MarVie-Foundation.‘ Ich habe also mit den Mädchen den ersten Online-Workshop über Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gemacht. Einen Monat lang haben sie jede Woche eine Aufgabe bekommen. So etwas wie: Stell dich vor den Spiegel und finde dich schön, so wie du bist! Es haben über 3.000 Mädchen daran teilgenommen. Und ich habe so viele tolle Rückmeldungen von den Mädchen bekommen, die mir geschrieben haben: „Danke Marvy, das hat mir so geholfen!“ Oder: „Es ist super zu hören, dass du nicht so dünn sein musst!“ Die Mädchen sind ja so verunsichert, wenn sie die ganzen dürren Frauen in den Medien sehen.

Gibt es denn bei den Models ein Problembewusstsein dafür?
Noch nicht. Aber ich möchte den Models begreiflich machen, dass wir Role-Models sind. Und dass wir einen enormen Einfluss haben.

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