In der aktuellen EMMA

Mal was Neues über Testosteron

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"Das hier ist wie 2016 auf Testosteron“, tönte Donald Trump Jr. bei einer Wahlkampfveranstaltung im Herbst 2020 in Pennsylvania. Wenig später rief er via Twitter zum „totalen Krieg“ für seinen Vater auf, der gerade dabei war, diese Wahl zu verlieren. Nun, dieser verspätete Versuch, einen totalen Krieg zu führen, ging zum Glück in die Hose. 

Nicht aus der Hose kommt die Aggressivität des polternden Präsidentensohns. Das Hoden-Hormon Testosteron kann nichts dafür. Eher handelt es sich um eine Vergiftung des Denkens, Soziologen sprechen von „toxischer Männlichkeit“.

In Wissenschaft und Medien wird uns hingegen eine Geschichte erzählt, die Geschlechtsunterschiede rein aus der Biologie erklärt. In dieser Geschichte ist Testosteron das alles entscheidende Männerhormon, Östrogen dagegen das Hormon der Weiblichkeit. 

„Mit dem Konzept des Sexualhormons werden Testosteron und sein ‚Partner‘, das Östrogen, zu einem heteronormativen Paar erklärt: binär, dichotom und exklusiv, jedes entweder dem einen Geschlecht oder dem anderen zugehörig und gefangen in einem unvermeidlichen und natürlichen ‚Krieg der Geschlechter‘“. So beschreiben die Medizinsoziologin Rebecca Jordan-Young und Kulturanthropologin Katrina Karkazis das überholte Konstrukt aus Wissenschaft und Mythos. Sie haben es „T-Talk“ getauft, „Testosteron-Geschwätz“. Beide Frauen sind tief in der Genderforschung verwurzelt, sie kennen sich sowohl bei den Hormonen bestens aus als auch beim Geschwätz darüber. Ihr Buch ist inzwischen auch auf Deutsch erschienen: „Testosteron. Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt“.

Es ist eine uralte Story. Sie reicht zurück ins 19.  Jahrhundert, als das Molekül Testosteron biochemisch noch gar nicht entschlüsselt war. Sie beginnt mit dem Leiden eines alten weißen Mannes. Charles Édouard Brown-Séquard (1817–1894) war ein international tätiger Wissenschaftler, ein experimentell arbeitender Physiologe und Neurologe. Sein Vater war Amerikaner, die Mutter, deren Namen er dem väterlichen anhängte, war Französin. Doch mit Anfang 60 fühlte sich der Forscher alt. So schlapp sei er geworden, notierte er, „dass ich mich nach einer halben Stunde Arbeit im Labor hinsetzen musste“.

Brown-Séquard wollte das nicht hinnehmen. Er startete zunächst eine Reihe von Tierversuchen und dann einen berühmten Selbstversuch: Über drei Wochen hinweg injizierte er sich Extrakte aus den Hoden von jungen Hunden und Meerschweinchen. Dabei beobachtete er durchschlagende Wirkungen: Die Kraft im Unterarm nahm zu, genauso die Denkkraft. Auch das Wasserlassen und die Darmentleerung klappten wieder besser. Etwa einen Monat hielt die Wirkung der „spermatischen“ Kur an, dann versiegte der Jungbrunnen wieder.

Im Jahr 1889, da war er allerdings schon 72, hatte Brown-Séquard den Mut, auf einer Biologenkonferenz über sein Experiment zu berichten. Richtig ernst genommen wurde er in der Fachwelt nicht. Eine seriöse Medizinzeitschrift warnte vor dem „Sommerloch“, das Scharlatane und Quacksalber auf den Plan rufe, und stellte klar: „Je rascher das breite Publikum und vor allem die Siebzigjährigen begreifen, dass es keine geheimen Verjüngungskuren, kein Elixier ewiger Jugend gibt, desto besser.“ Doch die kritischen Zwischenrufe verhallten. 

Doping mit Testosteron – heute nicht mehr aus Hundehoden gewonnen, sondern im Internet bestellt – ist im 21. Jahrhundert beliebter denn je. EMMA hat im September 2016 erstmals über diesen Retro-Trend berichtet („Das Testosteron kann nix dafür“), und auch über den mehrmonatigen Selbstversuch eines Spiegel-Redakteurs mit T-Spritzen. Seine Motivation war exakt die gleiche wie bei Urvater Brown-Séquard: Angst vor dem Älterwerden, der Traum von mehr Kraft, Energie und einem attraktiven Äußeren. Erwähnt wurden auch die Nebenwirkungen derartiger Rosskuren (insbesondere das Versiegen der eigenen Testosteron-Produktion), und dass Fachleute, Endokrinologen, vor der Einnahme warnen. 

Alterserscheinungen beim Mann, so der aktuelle Forschungsstand, haben rein gar nichts mit einem Testosteron-Mangel zu tun. Sie haben andere Ursachen, etwa einen bewegungsarmen Lebensstil. Und die wundersamen Veränderungen, die manche T-Nutzer an sich beobachten, lassen sich am besten mit dem Placebo-Effekt, also mit Wunschdenken erklären. Doch die kritischen Stimmen verhallen weiterhin. Und der globale Markt für Testosteron wächst weiter: 1,8 Milliarden Dollar betrug er 2011, zehn Jahre zuvor waren es noch 150 Millionen gewesen. Nach einer aktuellen Marktstudie lag allein der Umsatz mit injizierbarem T im Jahr 2022 bei 2 Milliarden Dollar, ein Anstieg auf 5 Milliarden wird bis 2035 erwartet. Wer bei Amazon „Testosteron“ in die Suchmaske eingibt, dem werden statt Fachliteratur Fläschchen und Tiegel mit Kapseln angeboten: mit Namen wie „TestoMax“, „Turbo Testo Blaster“ oder „Heldenkraft“, heute vor allem als vegane Variante aus der Maca-Pflanze. Dabei hat Amazon einmal als Buchhandlung angefangen – und nicht als Online-Apotheke.

Hat sich die Drüsenforschung in den letzten zwei Jahrhunderten also gar nicht weiterentwickelt? Gibt es nichts Neues über das Testosteron und seine biochemische Verwandtschaft zu erzählen? Oh doch! Hören wir einer neuen Geschichte zu.

„Dwyn Harben war glücklich als Single, aber sie wünschte sich ein Kind, und mit ihren fast 43 Jahren wusste sie, dass ihr die Zeit davonlief, wenn sie ihre eigenen Eizellen verwenden wollte.“ Diese Geschichte einer mittelalten weißen Frau erzählen uns Jordan-Young und Karkazis gleich im zweiten Kapitel ihres Buches. 

Harben wandte sich an einen Spezialisten, den New Yorker Reproduktionsmediziner Norbert Gleicher. Der stimulierte ihre Eierstöcke, um möglichst viele Eizellen zu gewinnen. Die Geschäftsfrau Dwyn Harben wollte sie einfrieren lassen, bis sie sie zur Erfüllung ihres Kinderwunsches wirklich brauchte. Dummerweise vermasselte sie ihren ersten Zyklus im Jahr 2003, wie sie den Autorinnen erzählte: Sie produzierte nur eine einzige Eizelle, obwohl sie die maximale Stimulationsdosis bekommen hatte. 

Doch der Fehlschlag entmutigte Harben nicht. Sie informierte sich im Internet, was es an weiteren Optionen für Frauen in ihrer Lage gab. Bald fand sie eine kleine Studie mit vielversprechendem Ergebnis: Bei Frauen, die vor der ovariellen Stimulation mit Dehydroepiandrosteron (DHEA), einem schwachen Androgen („Männerhormon“), behandelt worden waren, waren mehr Eizellen gereift. 

Harben besorgte sich das Mittel, nahm es ein, erzählte ihrem Arzt jedoch nichts davon. Der wurde erst stutzig, als seine Patientin im zweiten Stimulationsversuch drei Eizellen produzierte, im dritten fünf – und im vierten sogar sieben. Nach dem sechsten Versuch (13 Eizellen) klärte sie ihn auf.

„In unserer Ausbildung“, so erklärte Dr. Gleicher später den Genderforscherinnen, „haben meine Kollegen und ich in der Regel gelernt, dass Androgene schlecht für Frauen sind, die versuchen, schwanger zu werden. Aber die herrschenden Meinungen sind nicht immer richtig.“ Gleicher begann nun selbst zu forschen und kam zu dem Schluss: Der echte Star dieser Geschichte ist gar nicht DHEA, sondern Testosteron!

Inzwischen zeichnet sich folgendes Bild ab: Wochen bevor ein Eisprung stattfinden kann, müssen sich im Eierstock der Frau erst einmal aus Vorläuferzellen sogenannte „Primärfollikel“ bilden. Wie das vonstatten geht, war bisher ziemlich unklar. Doch neuere Forschungen lassen darauf schließen, dass Androgene bei dieser „Rekrutierung“ von Follikeln eine wichtige Rolle spielen. Der Körper der Frau bildet aus dem eigenen oder dem verabreichten DHEA so viel Testosteron, wie für die Reifung der Follikel nötig ist. Kann sie DHEA nicht in T umwandeln, kann es auch sinnvoll sein, mit ein wenig T nachzuhelfen. (Vor Selbstversuchen ist allerdings zu warnen, auch wenn bei Dwyn Harben alles gut ausgegangen ist.)

Gibt es einen plausibleren Beweis dafür, dass mit dem Konzept der dichotomen „Sexualhormone“ etwas nicht stimmt? Man hätte schon früher darauf kommen können. Schließlich bilden ja nicht nur Männer das T-Hormon in ihren Hoden, auch Frauen produzieren es – in ihren Eierstöcken und ebenso wie Männer in ihren Nebennieren. Und beide Geschlechter haben Rezeptoren, also Andockstellen, für das Hormon in diversen Körpergeweben, etwa in den Muskeln, den Blutgefäßen, in der Haut und im Gehirn. Deshalb sind auch die Wirkungen des T vielfältig – aber oftmals ganz anders als gedacht.

Im Jahr 2000 hatte die Studie einer Psychologin aus Neufundland Aufsehen erregt. Gemeinsam mit ihrem Forscherteam hatte Anne Storey 34 Paare, die Nachwuchs erwarteten, als Versuchspersonen gewonnen. Sie hatte den werdenden Eltern vor und nach der Geburt mehrfach Blut abgenommen und die Hormonspiegel bestimmt. Das Ergebnis: Nicht nur bei den Müttern, was zu erwarten war, sondern auch bei den Vätern veränderten sich die Werte für die Hormone Cortisol, Prolaktin und – Testosteron.

„Die Unterschiede bei den Frauen waren drastischer“, sagte die Forscherin, „aber das Muster war bei den Männern ganz ähnlich.“ Der Spiegel des lange Zeit nur als „Milchbildungshormon“ bekannten Prolaktins, das bei Frauen die Milchproduktion stimuliert, stieg bei den werdenden Vätern in den drei Wochen vor der Geburt um 20 Prozent. Der T-Gehalt im Blut hingegen sank nach der Geburt um durchschnittlich ein Drittel; und je stärker er fiel, desto fürsorglicher benahmen sich die Männer – oder umgekehrt.

Storeys Messungen wurden mehrfach bestätigt, 2011 auch in einer großen Studie auf den Philippinen, an der der Anthropologe Lee Gettler beteiligt war. Gettler, ein Schüler der feministischen Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy, war begeistert, denn sein Weltbild wurde bestätigt: Seiner Ansicht nach zeigten die Hormonbefunde, dass Männer schon früh in der Menschheitsgeschichte an der Kinderaufzucht beteiligt waren, nicht etwa nur als Jäger unterwegs, die das Fleisch nach Hause bringen. „Wäre es beim Menschen nicht in den letzten mindestens 100.000 Jahren die Norm gewesen“, sagt er, „gäbe es keinen Grund, diesen Rückgang des Testosterons zu erwarten.“ Männer seien sozusagen „biologisch verdrahtet“, bei der Kinderversorgung mitzuwirken.

Jordan-Young und Karkazis berichten im sechsten Kapitel ihres Buchs ausführlich über diese wissenschaftliche Diskussion – und auch, wie sie inzwischen weitergegangen ist. Die amerikanische Psychologin Sari van Anders, die jetzt in Kanada forscht, hat die Theorie der „biologisch verdrahteten“ Elternschaft erweitert zu einer Theorie der sozialen Bindungen, unabhängig von Geschlecht und Nachkommenschaft. Nach ihrer Überzeugung sind Steroidhormone (wie das Testosteron) und Peptidhormone (wie das Prolaktin) mit zwei separaten physiologischen Systemen verbunden: einem, das Fürsorge fördert und einem, das Sexualität unterstützt.

Und diese Verhaltensweisen sind bei beiden Geschlechtern eben nicht so fest „verdrahtet“, dass sie andauernd und stereotyp abgerufen würden. Nein, es kommt auf den sozialen Kontext an: So steigt bei Männern, die ein Baby schreien hören, der T-Wert. Gelingt es ihnen, das Kind zu trösten, sinkt er wieder. In van Anders’ Konzept kommt dem Testosteron die Rolle zu, zwischen Fürsorge-Verhalten (niedriges T) und Kampf-Verhalten (hohes T) hin- und herzuschalten.

Das sind interessante Überlegungen. Und wir dürfen gespannt sein, ob sie sich in neurowissenschaftlichen Untersuchungen, die verhaltenssteuernde Nervennetzwerke unter die Lupe nehmen, bestätigen werden oder nicht. Verabschieden sollten wir uns auf jeden Fall vom überholten Konzept der „Sexualhormone“. Schluss damit! Moleküle haben kein Geschlecht.

 

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