Hotpantsverbot: Prüderie vs. Würde?

Bianca Brissaud Foto: Maria Hopp/ dpa
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Was Bianca Brissaud in den letzten Tagen in den (sozialen) Medien über sich lesen musste, war, gelinde gesagt, heftig. „Mittelalterlich“ sei sie, sie wolle ihre Schülerinnen „sexualisieren“ oder solle doch an ihrer Schule „gleich die Burka einführen“. Die Medien ließen sich die Chance auf Skandalisierung nicht entgehen. „Schülerinnen werden zwangsbekleidet“, titelte SpiegelOnline; „Aufreizend? Am Arsch!“, pöbelte die taz. Bild zeigte die 37-jährige Schulleiterin, die mit ihrem hellblonden Kurzhaarschnitt so gar nicht in das Klischee der verknöcherten Moralapostelin passen wollte, gar mit tiefen schwarzen Augenringen. „Die haben sie reinretuschiert“, spottet Brissaud.

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Die Reaktionen auf Bianca Brissauds Brief waren durchweg positiv

Was war passiert? Vor gut einer Woche hatte die Leiterin der Werkrealschule Horb-Altheim bei Tübingen an die Eltern geschrieben: „In letzter Zeit müssen wir gehäuft feststellen, dass Mädchen der Werkrealschule sehr aufreizend gekleidet sind. Diese Entwicklung stimmt uns nachdenklich“, erklärte Brissaud und kündigte an: „Wir werden gemeinsam mit Schülerinnen, Schülern, aber auch Eltern eine Kleiderordnung erstellen, die dann in die Hausordnung aufgenommen werden wird.“ Bis es soweit sei, gelte die Regel: "Wer zu aufreizend gekleidet ist (zum Beispiel bauchfreies Shirt, Hotpants...), der bekommt von der Schule ein großes T-Shirt gestellt, das er/sie sich bis zum Schultagsende anziehen muss." Die Schulleiterin stellte klar: „Es geht uns dabei nicht um die Unterdrückung der Individualität Ihres Kindes. Wir wollen damit ein kleines Stück zu einem gesunden Schulklima beitragen, in dem sich alle wohlfühlen und in dem gesellschaftliche und soziale Werte gelebt und gefördert werden.“

So weit, so nachvollziehbar. Oder? Anscheinend nicht. TV-Teams samt Übertragungswagen stürmten den Horb-Altheimer Schulhof, es hagelte Schlagzeilen. Und obwohl der Vorstoß der Schulleiterin in den Medien weitgehend ausgewogen debattiert wurde, schallte ihr unter dem Hashtag #hotpantsverbot ein harsches „Geht gar nicht!“ entgegen. Vorwurf Nr. 1: Prüderie: „Das letzte Hotpants-Verbot habe ich bei einem Southern Baptists Camp in Oklahoma erlebt“, heißt es da, oder: „Bald wird vor der Schule mit einem Zollstock die Länge von Hosen und Röcken kontrolliert… die 50er Jahre lassen grüßen“.

Vorwurf Nr. 2 wird vor allem von so genannten Netzfeministinnen erhoben. Er lautet: Doppelter Standard für Mädchen und Jungen. „Anstatt ein Kleidungsstück zu verbieten, sollten Eltern ihren Jungs beibringen, dass der weibliche Körper kein Sexobjekt ist“, twittert zum Beispiel Effi. „Müssen wir Kindern schon in der Grundschule erklären, dass die Gesellschaft sie als schuldig empfindet, wenn Männer sie geil finden?“ klagt Stevie Schmiedel, Initiatorin der Initiative „Pinkstinks“ gegen sexistische Werbung. Und argumentiert: „Wenn jemand unsere Töchter als sexuell attraktiv definieren sollte, nur weil sie Hotpants tragen, ist das nicht unser Problem.“

Auch #Aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek ist gegen ein Hotpants-Verbot: „Mädchen wird auf diese Weise eingeredet, dass es nicht okay ist, wie sie rumlaufen und mit ihrem Körper umgehen - oder im schlimmsten Fall sogar noch Schuld daran wären, wenn es zu Übergriffen oder ähnlichem kommen würde“, sagt sie und wiegelt ab: „Mädchen werden zu Sexualobjekten degradiert, obwohl es nur um bequeme Kleidung bei heißen Temperaturen geht.“ Hier irrt mal wieder die Netzfeministin, für die ja auch die Burka nur „ein Stück Stoff“ ist und daher weiter kein Problem darstellt. Denn die einzigen Alternativen für Mädchen können ja nicht Entblößung oder Verhüllung sein.

Schließlich geht es in der Debatte keineswegs „nur um bequeme Kleidung“ bei heißem Wetter, sondern um etwas sehr Grundsätzliches. Nämlich die Frage, ob man Mädchen in einer Gesellschaft, die die Entblößung des weiblichen Körpers in Werbung & Popkultur, in Pornografie & Prostitution zum Programm erhoben hat, mit diesem  Schlamassel allein lässt – oder ob man sie dabei unterstützt, sich das Problem a) klarzumachen und b) gegenzuhalten.

Die Mädchen selbst sind schließlich nicht verantwortlich. Die angesagten Popstars machen es leider vor: von Beyoncé über Lady Gaga bis Rihanna. Die Ladys des Porno-Pop produzieren, um es mit Annie Lennox zu sagen, „Pornos mit musikalischer Untermalung“, und es ist den Mädchen nicht zu verdenken, wenn sie diesen Vorbildern nacheifern. Dazu kommen Heidi Klum und eine milliardenschwere Industrie, die auf der Suche nach Marktlücken inzwischen schon Achtjährige mit Stringtangas versorgt. Umso wichtiger, den Mädchen klarzumachen, dass es auch anders geht. Dass Sexyness etwas anderes ist als sexuelle Verfügbarkeit. Die nicht nur von Netzfeministin Wizorek verharmloste Verhüllung des weiblichen Körpers via Kopftuch oder Burka ist dabei ja nur die andere Seite der Sexualisierungs-Medaille. 

Es geht nicht darum, den entblößten Mädchen die Schuld im Falle blöder Sprüche oder Übergriffe zu geben. Das sieht selbstverständlich auch Schulleiterin Brissaud so. „Diese Debatte ist wichtig“, sagt die Pädagogin und Mutter einer Tochter, eines Sohns plus eines Stiefsohns im Gespräch mit EMMA. „Natürlich darf es für niemanden ein Aufruf sein, selbst wenn eine Frau nackt herumläuft.“ Ihr und ihren KollegInnen sei es vor allem darum gegangen, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, was in einem nicht-privaten Raum wie der Schule „angemessene Kleidung“ ist. Gerade an ihrer Werksrealschule, die häufig mit Betrieben kooperiert, sei es wichtig, dafür ein Gespür zu haben. „Das gehört für uns zur Vorbereitung aufs Berufs- und überhaupt das Erwachsenenleben dazu“, sagt die studierte Mathematik- und Hauswirtschafts-Lehrerin. Und das gelte natürlich genauso für die Jungen: Auch Baggypants-Träger, deren tiefhängende Schlabberhose bisweilen den Blick auf die gesamte Unterhose freigibt, fallen bei ihr in die Abteilung „unangemessen“.

Bianca Brissaud ist übrigens nicht die erste Schulleiterin, die mit ihrem Versuch, der Entblößung im Klassenzimmer Einhalt zu gebieten, die Nation aufrüttelte. Schon 2003 berichtete EMMA über Helga Akkermann, Schulleiterin im niedersächsischen Sehnde, die ebenfalls einen Brief an Eltern und SchülerInnen verfasst hatte. Nachdem eine Siebtklässlerin an einem heißen Junitag plötzlich im Bustier in der Klasse gesessen hatte, bat Akkermann darum, am Arbeitsplatz Schule entsprechende Kleidung zu tragen: „Bauchfreie, rückenfreie, tief dekolletierte Shirts oder auch sehr kurze Röcke, die den Po kaum bedecken, sind als Arbeitskleidung nicht angebracht.“ Der Sturm, der daraufhin lostobte, ist dem aktuellen durchaus vergleichbar. Dabei hatte der Elternrat der Sehnder Schule erklärt, er stünde voll und ganz hinter der Schulleitung.  

Brissaud ist übrigens nicht die erste Schulleiterin, die so die Nation aufrüttelte

Auch an der Realschule von Horb-Altheim waren die Reaktionen auf Bianca Brissauds Brief „durchweg positiv“. So sei die Anregung zum Elternbrief nicht nur aus dem Kollegium gekommen, sondern von Schülerinnen und Schülern selbst. Die Eltern hätten ebenfalls positiv reagiert. Deshalb lässt der Vorwurf der Prüderie „mich völlig kalt“, erklärt die Schulleiterin. „Denn hier an der Schule wurde mein Vorstoß total verstanden und akzeptiert.“ 

Und wie geht es jetzt weiter? Das Thema soll nun in den Klassen behandelt werden. Die werden dann kleine Teams bilden, die eine Art Hausordnung zum Umgang mit angemessener Kleidung verfassen. Darüber wird die gesamte Schule dann abstimmen. „Es ist mir wichtig, dass das Ergebnis von allen Schülerinnen und Schülern mitgetragen wird“, sagt Bianca Brissaud. Das Ganze wird also nicht nur ein Lehrstück in Sachen angemessene Kleidung, sondern auch eins in Sachen Demokratie.

Es darf bezweifelt werden, dass Bild, taz und Netzfeministinnen über den Fortgang der Geschichte berichten werden.

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