Frauen in Indien: Die eine zu viel!

Auf dem ganzen Kontinent gehen Frauen gegen Gewalt auf die Straße wie hier in Kalkutta. - Foto: Debarchan Chatterjee/imago images
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Sie greifen sich die Säuglinge ihrer Nachbarn und vergewaltigen sie, bis sie tot sind; sie entführen Schülerinnen und halten sie monatelang als Sexsklavinnen gefangen; sie überfallen Frauen, die vom Feld heimkehren, vergewaltigen sie und hängen ihre aufgeschlitzten Körper an Bäumen auf; sie zerren Großmütter aus ihren Hütten, vergewaltigen sie und zerschmettern dann ihr Gesicht, damit sie niemand mehr erkennt.

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Jeden Tag sind die Zeitungen in Indien voll mit solchen Berichten. „Warum machen sie das, Mama?“, fragt die achtjährige Tochter einer Freundin, als sie das liest. „Was soll ich ihr antworten?“, fragt die Mutter verzweifelt. „Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich fragt, was Vergewaltigung bedeutet? Soll ich ihr sagen, dass die Angst vor männlicher Gewalt, die Angst, vergewaltigt zu werden, uns Frauen hier unser ganzes Leben lang begleitet? Dass es unmöglich ist, ihr zu entkommen?“

Fast auf den Tag genau sind jetzt sieben Jahre vergangen seit der entsetzlichen Gruppen-Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin Jyoti Singh in einem fahrenden Bus in Delhi. Diese monströse Tat hat damals nicht nur ganz Indien, sondern die halbe Welt aufgeschreckt. Aber als wäre nichts geschehen, geht es seitdem munter weiter mit dem Vergewaltigen, der rohen Gewalt gegen Frauen, dem täglichen Missbrauch, den ständigen Belästigungen, den Säureanschlägen und Ehrenmorden. So als hätte sich Indien damit abgefunden.

Millionen gehen gegen die Gewalt auf die Straße

Umso erstaunlicher ist es, dass plötzlich zwei Gewalttaten die Nation in Aufruhr versetzten. Millionen und Abermillionen Frauen, aber auch viele Männer, demonstrieren in diesen Tagen überall im Land und schreien ihre Wut heraus: „Genug ist genug!“ - „Stoppt das Vergewaltigen!“ - „Hängt die Mörder, kastriert sie, lyncht sie!“

Der Mord an einer jungen Tierärztin in Hyderabad, die von einer belebten Straße weg in ein Gebüsch verschleppt wurde, wo sie vier Männer vergewaltigten, erdrosselten und verbrannten, scheint das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Einer der Männer, so wird berichtet, habe danach stolz seiner Mutter von seiner Tat berichtet. Die aber ging nicht etwa zur Polizei, sondern schickte ihren Jungen ins Bett. So, als wäre nichts geschehen.

So als ginge sie das nichts an, verhielt sich auch fast zur gleichen Zeit die Polizei im Norden, als sie frühmorgens den verzweifelten Anruf einer jungen Frau erhielt, die von fünf Männern bedroht wurde. Da Hilfe ausblieb, hatten die Männer Zeit genug, die Frau mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Warum? Die junge Frau war auf dem Weg zum Gericht, um als Zeugin in ihrem Vergewaltigungsprozess auszusagen. Einer ihrer Mörder war der Vergewaltiger, das konnte sie noch aussagen, ehe sie starb.

Mit Rosenblättern werden sie überschüttet, als Helden werden sie gefeiert, die Polizisten, die in einem Akt angeblicher Selbstverteidigung die vier festgenommenen Vergewaltiger von Hyderabad einfach erschossen. Selbstjustiz findet fast immer Beifall in einem Land, in dem die Justiz am Zusammenbrechen ist und die Frustration des Volkes wegen der Langsamkeit der Gerichte und der Unfähigkeit des Staates, Recht und Ordnung durchzusetzen, steigt.

Jede Minute wird in Indien eine Frau vergewaltigt

Im August 2019 lagen 160.989 unerledigte Fälle sexueller Vergehen allein gegen Kinder bei den Gerichten, bei jungen Mädchen und Frauen dürfte es ein Vielfaches sein. Denn in Indien wird laut Statistik alle 15 Minuten eine Frau vergewaltigt. Tatsächlich wird es wohl jede Minute sein, denn 95 Prozent aller Fälle werden nicht angezeigt. Nur ein Bruchteil der Täter wird verurteilt, weil sich die eingeschüchterten Opfer plötzlich nicht mehr erinnern können, sich die Verfahren über allzu viele Jahre hinziehen, oder es an Beweismitteln fehlt. Es gibt nur drei forensische Labore in ganz Indien, kein einziges in Delhi, wo man DNA-Analysen oder andere Untersuchungen durchführen könnte.

Indien ist nach einer Untersuchung der „Thomson Reuters Stiftung“ das gefährlichste Land für Frauen, noch vor Afghanistan und Pakistan. Seit Beginn der Aufzeichnungen 1971 ist die Zahl der bekannt gewordenen Sexualstraftaten um 1.200 Prozent gestiegen. Gruppenvergewaltigungen sind zu einem einträglichen Geschäft geworden. Je brutaler, desto besser verkaufen sich die davon aufgenommenen Videos.

Nach der bestialischen Gruppenvergewaltigung von Jyoti Singh, die in Indien Nirbhaya – die Furchtlose - genannt wird, wurden ein ganzes Bündel Maßnahmen und Gesetze beschlossen und ein milliardenschwerer Fonds aufgelegt für Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit von Frauen.

Doch was ist daraus geworden? Gewiss, nun können Täter, die Kinder nach einer Vergewaltigung ermorden, zum Tode verurteilt werden. Aber wo sind die mehr als tausend Schnellgerichte, die tätig werden sollten? „Wir sind dabei, sie einzurichten“, heißt es. Wo sind die zusätzlichen 66.000, vor allem weiblichen Polizisten für Delhi? „Liegt auf Wiedervorlage.“ Wo gibt es Rehabilitation und Entschädigung für überlebende Opfer? „Ist noch nicht umgesetzt.“ Wo sind Überwachungskameras, Nottelefone, bessere Straßenbeleuchtung? „Ist nicht bekannt“, so die offiziellen Antworten.

Indien muss begreifen: Frauen
sind auch Menschen!

„Ein Mädchen ist für eine Vergewaltigung mehr verantwortlich als derjenige, der sie vergewaltigt, denn ein anständiges Mädchen treibt sich nicht um neun Uhr abends auf der Straße herum“, sagte einer der Vergewaltiger von Jyoti Singh. Er wartet mit seinen zum Tode verurteilten Kumpanen seit sieben Jahren auf den Galgen. Es ist diese Mentalität, die Frauen in Indien zu einem Ding degradiert, mit dem Männer machen können, was sie wollen.

Politik und Justiz nehmen das als gegeben hin, denn auch dort wird in den jahrtausendealten patriarchalischen Strukturen gedacht. Und die Frauen? „Wir müssen dafür kämpfen, dass unsere Politiker, die nur daran denken, Indien zu einer Weltwirtschaftsmacht zu machen, ihre Prioritäten ändern. Indien muss begreifen, dass Frauen auch Menschen sind, gleichberechtigte Menschen“, sagt die Vorsitzende der Frauenkommission von Delhi. Es klingt entschlossen, aber auch ein bisschen verzagt.

Gabriele Venzky

Die Autorin war 20 Jahre lang Asien-Korrespondentin der ZEIT. Sie hat im September 2009 "LIFT e.V - Zukunft für indische Mädchen" mitgegründet, ein Verein, der „Anugraha", ein Mädchenheim im indischen Südstaat Karnatataka unterstützt. Venzky besucht das Heim regelmäßig. Spenden sind mehr als willkommen: LIFT e.V., KTO 1009 300 003, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50.

 

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Massenproteste in Indien halten an

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Drei Wochen nach der bestialischen Vergewaltigung einer jungen Frau in Delhi halten die Proteste des jungen, modernen Indien auf den Straßen der großen Städte an. Das ist die gute Nachricht. Doch nach dem Tod der 23-Jährigen, die von einer verängstigten Regierung noch eilends zum Sterben nach Singapur geschafft worden war, gehen die Vergewaltigungen überall im Lande weiter, so als sei nichts geschehen. Das ist die schlechte Nachricht. Eine Vierjährige hier, eine Zwölfjährige dort, eine 40-Jährige, die das Pech hatte, als Angehörige der Dalits, der so genannten Unberührbaren, einem höherkastigen Mann über den Weg zu laufen, eine Gruppe junger Mädchen, die einem Trupp Soldaten gerade recht kam – kein Tag vergeht, ohne dass die Zeitungen nicht voll sind mit solchen Berichten. Hunderte ähnlicher Fälle werden wie eh und je verschwiegen, weil die Ehre der Familie, die Ehre des Mannes angekratzt werden könnte, oder weil sich das Opfer umbrachte aus Scham über die Schande. Viele der jungen Frauen und, zum ersten Mal, auch der jungen Männer, die mit dem Ruf nach Gerechtigkeit für Frauen auf die Straße gehen, glauben, dass Indien nicht mehr so weiter machen kann wie bisher.

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Denn die aufstrebende, moderne Mittelklasse der Städte hat sich weder durch Wasserwerfer einschüchtern, noch durch die bislang immer wieder funktionierende Hinhaltetaktik des Staates einlullen lassen. Überall sind schließlich Städte die Motoren des Wandels. Doch die große Masse der InderInnen lebt nach wie vor auf dem Dorf, 800 Millionen Menschen, und jede Inderin, jeder Inder trägt nach wie vor das Dorf „seiner Ahnen“ mit sich herum, auch in die Slums der Städte, wo ständig neue kleine Dörfer entstehen.

Aus solch einem Slum kamen die Vergewaltiger der jungen Frau, von denen drei am Freitag vor Gericht auf nichtschuldig plädieren wollen, weil die Polizei sie ohne Beisein von Anwälten verhört und Beweise manipuliert habe, ja, weil es noch nicht einmal gelungen sei, das richtige Alter des jüngsten Beschuldigten festzustellen, der behauptet 17 zu sein und deshalb mit einer Höchststrafe von drei Jahren davonkommen könnte, während die Demonstranten für alle die Todesstrafe verlangen.

Dass sich mit Hinrichtungen gesellschaftlicher Wandel nicht erreichen lässt, zeigen freilich Beispiele aus der ganzen Welt. Indien befindet sich in einer Phase gewaltiger Umwälzungen, jetzt, da es den Anschluss an das globale Zeitalter sucht. Aber so, wie Indien „tickt“, kann das nicht gelingen. Das schöne, zauberhafte, harmonische Indien mit seinen Gurus und Heiligen mag für die Werbung vom „Incredible India“ taugen.

Indische Realität dagegen präsentiert sich anders: Ein Staat, der kein Interesse daran hat, seine BürgerInnen zu schützen oder gar für deren Wohlergehen zu sorgen; Politiker, die nur die eigene Selbstbereicherung im Auge haben; eine überwältigende Korruption, für die Familien ein Drittel ihres Einkommens ausgeben müssen; eine selbstgefällige Bürokratie, die vor allem den Armen jede Chance auf ein besseres Dasein nimmt; Gerichte, die nicht Recht sprechen; eine Polizei, die ihre Aufgabe darin sieht, sich bei Politikern und wichtigen Herrschaften beliebt zu machen, aber nicht, die Menschen - schon gar nicht Frauen - zu schützen.

Wer in Indien Macht, Geld und Einfluss hat, für den gelten die Gesetze nicht. Die Masse der Inder dagegen ist recht- und machtlos. Das ganze System ist total verrottet, dieses System, das auf Diskriminierung aufbaut, dass diejenigen schikaniert, die auf der sozialen, vor allem aber Kasten-Leiter tiefer stehen. Ganz unten stehen die Frauen.

Die Frage ist, wie verändert man ein System, das von über einer Milliarde Menschen bisher ohne Revolution hingenommen wurde – wohl auch, weil ihre Religion sie glauben macht, dass im nächsten Leben alles besser werden kann? In erschreckender Weise wird deutlich, dass sich die Dörfer in den patriarchalischen und kastenhierarchischen Strukturen derzeit verhärten, offenbar eine Antwort auf die moderne Welt der Städte.

Die Antwort ist einfach, ihre Verwirklichung jedoch schwer und langwierig. In den Köpfen der Menschen auf dem Lande muss ein neues Denken einziehen, bei Männern, aber auch bei Frauen, denen man einredet, dass nur Söhne etwas wert sind. Weil die Männer kaum freiwillig auf ihre Privilegien verzichten, müssen Frauen die traditionelle Gesellschaft von der Männerdominanz befreien. Das geht nur, wenn Mädchen und Frauen Bildung und Ausbildung erfahren, wenn sie selbstbewusst und selbstständig sind.

Die Autorin unterstützt mit dem Anugraha-Projekt von LIFT e.V. genau dieses Ziel. Denn die dort geförderten Mädchen haben bereits begonnen, ihre Umwelt zu verändern. Sie sind die Hoffnungsträger für ein menschlicheres Indien.

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