Kapitänin Rackete ist wieder frei

Kapitänin Carola Rackete wurde umgehend verhaftet, nachdem sie mit der Sea Watch 3 im Hafen von Lampedusa angelegt hatte.
Artikel teilen

Kein Ort nirgends. Wohin mit Menschen, die niemand will? Menschen, die seit drei Wochen auf dem Meer treiben, nur noch Reis und Bohnen zu essen haben und immer weniger Wasser. Menschen, die in libyschen Lagern gefoltert, versklavt wurden; Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden. Menschen, die kurz vorm Durchdrehen sind.

Anzeige

Als die Situation sich zuspitzte, handelte die Kapitänin

In den Stunden vorm Anlegen in Lampedusa hatte sich die Situation immer mehr zugespitzt. Viele der Flüchtlinge glaubten nicht mehr an eine Aufnahme. Sie wollten lieber ins Meer springen, als zurück nach Libyen zu fahren. Kapitänin Carola Rackete hatte, kurz bevor sie gegen alle Order in italienische Hoheitsgewässer fuhr, erklärt: „Ich bin, wie alle anderen, völlig übermüdet. Alle Geretteten sind traumatisiert. Und ich kann schlecht einschätzen, wann die Situation außer Kontrolle gerät. Es ist unglaublich frustrierend, dass vom italienischen Staat nichts kommt. Und ich ärgere mich, dass mit dem Leben dieser Menschen so gespielt wird. Dann muss man die Lösung selbst herbeiführen.“

Das hat sie nun getan. Als sie und die Flüchtlinge am Samstag bei Sonnenaufgang das Schiff verließen, wurde die Kapitänin  umgehend festgenommen. Sollte der Vorwurf „Widerstand gegen ein Kriegsschiff und Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ belegbar sein, müsste die 31-Jährige mit einer Gefängnisstrafe zwischen drei und zehn Jahren rechnen.

Rackete wusste, auf was sie sich bei dieser Fahrt mit der „Sea-Watch 3“ eingelassen hat. „Jeder weiß, dass es einen selbst treffen kann.“ Vor allem seit der „Kriminalisierung“ der Seenotretter und dem Fall des deutschen Rettungsschiffs „Iuventa“. Das Schiff wurde im August 2017 beschlagnahmt, gegen die Crew wurde unter anderem wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung ermittelt. Auch die deutsche Kapitänin Pia Klemp muss sich demnächst in Italien vor Gericht verantworten.

Hinzu kommt: Rackete hat einen mächtigen Gegenspieler. Noch dazu einen, der sich in seiner Männerehre gekränkt fühlt: Italiens Innenminister Matteo Salvini von der rechten Lega-Partei. Das Verbot, italienische Häfen anzulaufen, ist der Kern von Salvinis Migrationspolitik. Er nennt sich selbst „Il Capitano“, Kapitän und Anführer einer ganzen Nation. Mit Rackete hat der Rechtspopulist nun Konkurrenz bekommen. Sie wird in Italien als „La Capitana“ und als mutige Frau gefeiert.

Salvinis Image als starker Mann ist angekratzt

Rackete begründet ihr Engagement für Flüchtlinge mit einer moralischen Verpflichtung, die aus ihrem privilegierten Leben erwachse :„Ich bin weiß, deutsch, in einem reichen Land geboren und mit dem richtigen Pass.“ Italiens Innenminister Matteo Salvini twitterte daraufhin: „Nicht jeder, der weiß, reich und deutsch ist, muss losziehen, um Italien auf die Eier zu gehen. Hilf lieber den Kindern in Deutschland.“ Und der Minister riet der Kapitänin, sich doch besser um „Alte und Behinderte“ zu kümmern, statt Schiffe zu lenken.

Diese Art von Machosprüchen sind noch nett gegen die Forderung der Chefin der Rechtspartei Fratelli d'Italia, Giorgia Meloni. Sie erklärte, die „Sea-Watch 3“ müsse „versenkt“ werden. Für den Hardcore-Innenminister ist das Ganze ein Präzedenzfall. Sein „Sicherheitsdekret“ sieht Geldstrafen bis zu 50.000 Euro für Hilfsorganisationen vor, wenn sie unerlaubt Italien anlaufen. Und er wird wohl alles dransetzen, seinem Image als starker Mann gerecht zu werden.

Doch wer ist diese 31-jährige Frau, die nicht nur Italien, sondern ganz Europa herausfordert? Auf Schiffen kennt sie sich aus. Nach dem Abitur 2007 studierte sie Nautik an der Seefahrtschule Elsfleth, wo sie 2011 ihr Studium abschloss. Sie fuhr für Kreuzfahrtreedereien zur See und setzte 2015 bis 2018 noch in England ein Studium des „Conversation Management“ drauf. Bevor Rackete sich dann bei Sea-Watch engagierte, stand sie für Greenpeace und das Alfred-Wegener-Meeresforschungsinstitut auf der Schiffsbrücke, da ging es um Polarforschung.

Rackete: "Ich
bin weiß, reich, deutsch - darum helfe ich."

Geboren wurde Carola Rackete in Preetz bei Kiel. Mit ihren wohlsituierten Eltern wohnte sie zwei Jahre in Heikendorf. „Danach sind wir durch die Welt gezogen und schließlich in Hambühren gelandet“, erzählt ihre Mutter nun den Medien.

Sea-Watch-AktivistInnen müssen sich immer wieder mit dem Vorwurf des sogenannten „Pull-Effekts“ auseinandersetzen: Ihre Arbeit würde Menschen regelrecht zur Flucht animieren, weil sie die Überfahrt nach Europa sicherer machen. Während der dramatischen Tage, in denen das Schiff von Rackete drei Meilen vor Lampedusa lag und nicht anlegen durfte, gingen übrigens gleichzeitig über 200 Flüchtlinge auf der italienischen Insel an Land, die mit kleineren Booten gekommen waren, berichtete die französische Tageszeitung Le Monde. Inzwischen haben sich vier Länder – Deutschland, Portugal, Frankreich und Luxemburg – bereit erklärt, die von Rackete Geretteten aufzunehmen und das strapazierte Italien zu entlasten.

Kapitänin Rackete sitzt zurzeit in Untersuchungshaft. Ob und wie Europa auch ihr helfen kann, ist noch ungewiss.

Aktualisierung am 3.5.2019: Inzwischen wurde der Hausarrest für Carolia Rackete aufgehoben. Die italienische Ermittlungsrichterin erklärte, die Kapitänin habe "in Erfüllung ihrer Pflicht gehandelt". Ein Dekret, das die Einfahrt von Schiffen in italienische Hoheitsgewässer verbietet, könne nicht auf Notfälle und Rettungsaktionen angewendet werden. Rackete bedankte sich für die "Solidarität, die ihr so viele Menschen ausgedrückt haben". Laut Seewatch ist Rackete jetzt "an einem sicheren Ort". Allerdings ist noch ein weiteres Verfahren gegen die Kapitänin wegen "Beihilfe zu illegaler Einwanderung" anhängig.

 

Artikel teilen

Libyen: Folter und Sklaverei!

Heidi Anguria mit den gerade Geretteten. Foto: Patrick Bar/Sosmediterranee
Artikel teilen

"Im Moment liegen wir rund 40 Kilometer vor der libyschen Küste. So weit etwa kommen die meisten Flüchtlingsboote, auf die die Schlepper die Menschen lotsen. Mit dem Versprechen, sie bis nach Italien zu bringen. Aber dafür haben die Boote überhaupt nicht genug Benzin. Hochseetauglich sind sie schon gar nicht. Das wissen die Schlepper genau. Denen ist schon bei Abfahrt klar, dass die Flüchtlingsboote niemals in Italien ankommen werden. Die Menschen, die das Boote besteigen, wissen das nicht.

Anzeige

Unser Job ist es dann, sie vor dem Ertrinken zu retten. Wir betreuen die Geflüchteten medizinisch und seelisch. Vor einigen Tagen haben wir in nur einer Nacht über tausend Menschen gerettet. Das ging um drei Uhr nachts los. Darunter rund 130 Frauen und Kinder. Das Wetter war tagelang schlecht und die Schlepper haben einfach alle, die auf eine Überfahrt gewartet haben, auf einmal auf diese wackligen Schiffe geladen. Um mal die Dimensionen klar zu machen: Unsere Crew auf der Aquarius besteht aus 30 Leuten, vier davon sind mit mir im medizinischen Team. Hinzu kommen ein kultureller Mediator, eine Verantwortliche für die Kommunikation und unser Projektkoordinator. So ein Rettungseinsatz ist vielfältig und anstrengend, sowohl körperlich als auch mental.

Es gibt im Prinzip zwei Zustände, in denen die Flüchtlinge bei uns ankommen: Es gibt die einen, die völlig euphorisch sind. Weil sie begreifen, dass sie jetzt endlich gerettet sind. Und es gibt die anderen, die es gerade noch an Deck schaffen und dann zusammenbrechen.

Insgesamt haben in diesem Jahr bis Ende April rund 43.000 Menschen die Überfahrt nach Italien gewagt, etwa ein Drittel sind Frauen. Die meisten kommen nicht aus Nordafrika, sondern aus Nigeria, dem Senegal, von der Elfenbeinküste oder aus Eritrea, einige sogar aus Bangladesch.

Seelische Untersützung für die Geretteten.
Seelische Untersützung für die Geretteten.

Letztens habe ich mit einer Frau aus Gambia gesprochen, das war eine ganz typische Geschichte. Sie ist schwanger geworden, hat aber keine Unterstützung von ihrer Familie bekommen. Also haben sie und ihr Mann sich auf den Weg nach Libyen gemacht, weil man ihnen in Gambia erzählt hat, dass sie dort leicht Geld verdienen können. Ja, das erzählen die Schlepper den Menschen in solchen Ländern. Die wissen häufig gar nicht, dass in Libyen ein blutiger Bürgerkrieg herrscht, und sie dort gar nicht bleiben können. Diesen Schleppern geben die Menschen dann ihre gesamten Ersparnisse, damit sie sie durch die Sahara bringen. Und wenn sie dann endlich an der Küste Libyens ankommen, werden sie dort wieder an neue Menschenhändler übergeben. Und die wollen dann auch wieder Geld sehen. Geld, dass die Männer und Frauen zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr haben.

Und dann passiert das, was auch dem Paar aus Gambia passiert ist: Die Menschen werden gekidnappt und voneinander getrennt. Die Menschenhändler in Libyen nehmen ihnen ihre Pässe weg und stecken sie in die zahlreichen Gefangenenlanger, die es inzwischen gibt. Dort werden sie vergessen und verhungern – oder sie werden versklavt. Die Männer müssen auf den Bau, die Frauen werden als Sexsklavinnen gehalten und tagelang vergewaltigt. So sollen sie sich ‚freikaufen‘.

Das Paar aus Gambia hat es übrigens tatsächlich irgendwann auf ein Boot geschafft. Aber dann wollte die libysche Küstenwache auch wieder Geld sehen. Und die Tortur ging von vorne los. Erst beim dritten Anlauf haben sie mit einem der Flüchtlingsboote abgelegt. Das Boot ist gekentert. Sie hatten also noch Glück im Unglück: Wenn wir sie nicht gerettet hätten, wären sie ertrunken. So wie gerade erst wieder 200 Menschen.

Wir haben auch Fälle mitbekommen, bei denen die Geflüchteten dazu gezwungen wurden, ihre Verwandten in Europa anzurufen – und die mussten dann am Telefon zuhören, wie sie in den Gefängnissen gefoltert werden. Und dann werden die Verwandten um Geld erpresst.

Wenn man solche Geschichten gehört hat, wundert man sich wirklich über die Pläne der Bundesregierung, die sie auf den Konferenzen wie in Malta oder in Rom fassen. Das ist doch alles überhaupt nicht machbar. Dafür müssen sich die Situationen ja nicht nur in Libyen stabilisieren. Was – wenn es überhaupt möglich ist – Jahre dauern wird. Sondern auch in den Ländern, aus denen die Menschen aufbrechen. Nehmen Sie alleine nur die Situation der Frauen: Die fliehen vor Armut, Misshandlungen und sexueller Gewalt in ihren Familien, vor Zwangsheirat, vor Genitalverstümmelung, vor Ehrenmorden. Die können nicht zurückgeschickt werden. Und sie können auch nicht in einem Land wie Libyen bleiben. Das kostet diese Frauen ihr Leben.

Nachdem wir die Menschen gerettet haben, bringen wir sie nach Italien. Dort gehen sie von Bord und in ihre sehr ungewisse Zukunft. Wir sind froh, dass wir helfen konnten. Aber ich mache mir schon sehr viele Gedanken, was aus ihnen wird."

Protokoll: Alexandra Eul, aktualisierte Fassung vom 27.11.2017

Weiterlesen
 
Zur Startseite