Kleine Egoisten: Ich. Ich. Ich.

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Frau Professor Keller, Corona war und ist zurzeit noch immer für viele Familien eine Bewährungsprobe. Könnte diese Ausnahmesituation auch eine Chance sein?
Alle Familienmitglieder verbringen jetzt viel Zeit zuhause. Ob diese Zeit eine Chance oder eine Belastung ist, hängt davon ab, wie sehr sich beide Elternteile auf diese Zeit einlassen. Wenn sie sich freuen, mehr Zeit füreinander zu haben, wird es eine positive Erfahrung sein, auch wenn es manchmal zu Konflikten kommt. Wenn sie aber lieber woanders wären, werden sie sich nicht vollständig auf die Situation einlassen können und das führt zu Spannungen, die umso drängender werden, je mehr sie verdeckt werden. Dann kann es schon mal zu Explosionen kommen. Ganz grundsätzlich können wir besser mit Situationen umgehen, wenn wir uns darauf einlassen und das Unvermeidliche annehmen.

Auch viele Väter erleben nun hautnah, was das Leben mit Kindern wirklich bedeutet …
Ich glaube, das wussten sie vorher auch ganz gut. Deswegen gehen sie ja so gerne ins Büro. Es gibt Studien, die zeigen, dass Väter nach der Geburt des ersten Kindes mehr Zeit im Büro verbringen als je zuvor.

Sie erforschen, wie Kinder in verschiedenen Kulturen aufwachsen. Was ist denn typisch deutsch?
Ich beschreibe keine Länder. Ich spreche von bestimmten sozialen Gruppierungen. Die deutsche Mittelschichtsgesellschaft, wie große Teile dieses Lebensraumes in der westlichen Welt, nimmt die Welt sehr von der eigenen Person her wahr. Da sind Ich-Grenzen und die Abgrenzung zu anderen wichtig. Wir stehen als Individuen im Mittelpunkt des Geschehens, sind zentriert auf uns selbst, auf unsere inneren Bedürfnisse und unsere Meinung. Bei uns zählt das Ich, nicht das Wir. Und diese Wahrnehmung vermitteln wir auch an unsere Kinder.

Wie wirkt sich das bei den Kindern aus?
Diese kleinen Kinder sind daran gewöhnt, immer im Mittelpunkt zu stehen, sie fordern permanente Aufmerksamkeit. Manche Kinder halten es zum Beispiel nicht aus, wenn die Mutter telefoniert oder sich mit einem anderen Menschen unterhält. Das müssen sie aber lernen. Denn die Mutter ist ja auch ein Mensch und hat Rechte. Menschen aus anderen Kulturen wundern sich, wenn sich bei uns kleine Kinder auf den Boden schmeißen und schreien, wenn sie etwas nicht bekommen. Die so genannte „Trotzphase“ der Zweijährigen gibt es in weiten Teilen der Welt gar nicht.

Hiesige Eltern verbuchen das unter Streben des Kindes nach Autonomie …
... und sind zum Teil auch noch stolz drauf – weil das unsere Kultur ist. Doch dieses Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein, ist auf Dauer nicht gesund. Es hält ja auch der Realität nicht stand. Und durch ihre Ich-Bezogenheit verlieren Kinder wichtige soziale Kompetenzen und laufen Gefahr, als Erwachsene unbeliebt und einsam zu sein.

Wie haben Sie das erforscht?
Wir haben zum Beispiel eine Studie mit jeweils hundert deutschen und palästinensischen Kindern durchgeführt. In Dreiergruppen sollten sie Figuren aus Holzformen nachlegen. Die deutschen
Kinder wussten nicht, wie man das zu dritt macht. Eines machte es allein, nach dem Motto „Ich kann das, ich kann das“; die anderen schauten zu. Die Kinder in Jerusalem haben die Aufgaben sehr konzentriert gemeinsam gelöst. Sie sind es von klein auf gewohnt, in einem sozialen System zu denken und auch so zu handeln.

Was läuft also falsch bei uns?
Indem wir Kinder selbstständig und unabhängig machen wollen, erzeugen wir im Gegenteil unglaubliche Abhängigkeiten. Wenn man den Kindern immer wieder erzählt, wie toll und einzigartig sie sind, werden sie desto abhängiger von dieser Art der Lobpreisung. Wir ziehen kleine Ego-Monster heran, die die Eltern völlig fertigmachen können. Eine belgische Kollegin nennt dieses Phänomen „Parental Burnout“. Es betrifft besonders Frauen. Moderne Mütter versuchen ihre Säuglinge nicht hundert- sondern tausendprozentig zufrieden zu stellen, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie halten das für das Richtige. Diese Mütter nehmen sich selbst komplett zurück, entfremden sich von sich selbst – was wiederum zu großen psychischen Problemen führen kann. Und auch die Kinder entwickeln Verhaltensprobleme. Es ist ein Teufelskreis.

Aber woher rühren diese pädagogischen Vorstellungen?
Ich führe sie hauptsächlich auf das Konzept der Bindungstheorie zurück, das in den 60er-Jahren in Großbritannien und den USA entwickelt wurde und bis heute weitreichende Konsequenzen hat. Danach gilt: Für ein Kind ist es das Beste, wenn man von Anfang an voll und ganz auf seine Bedürfnisse und Gefühle eingeht – interessanterweise definiert aber die Theorie nicht, was diese Bedürfnisse und Gefühle sind.

Nicht alle Familien haben diese Ideen aufgesogen. In der DDR zum Beispiel war das nicht das vorherrschende Konzept, und auch in Familien mit Migrationshintergrund könnte es anders aussehen …
Es betrifft in erster Linie die gutsituierte westliche Mittelschicht. In unserer Kultur ist die Bindungstheorie die universale Leitlinie für eine kindgerechte Entwicklung und Erziehung. Nicht nur in pädagogischen Einrichtungen, sondern auch in globalen Bildungsprogrammen. Unser ganzes Bildungssystem funktioniert so. Diese Leitlinie prägt bis heute den Zeitgeist.

Und wenn es nicht erfüllt werden kann?
Wenn sie dieses Ideal nicht erfüllen können, wie es oft bei Alleinerziehenden oder voll berufstätigen Müttern der Fall ist, macht das die Frauen fertig. Sie haben ein schlechtes Gewissen. Und kulturell anders geprägte Familien werden abgewertet, weil sie scheinbar nicht das Beste für ihre Kinder tun. Die haben aber einfach andere Vorstellungen davon, was das Beste für ihr Kind ist – doch das will man hier häufig nicht hören.

Wird also aus jedem so erzogenen Kind zwangsläufig ein egozentrischer Erwachsener?
Nein, die Entwicklung eines Menschen ist ja kein eindimensionaler Prozess, es gibt viele Einflüsse: Familie, Freunde, Lehrer. Die Erfahrungen der ersten Lebensjahre machen aber bestimmte Entwicklungsverläufe wahrscheinlicher. Daher würde ich schon sagen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der als Kind erlernten Selbstbezogenheit und den Studentenreports und Jugendstudien, in denen heute zunehmend beklagt wird, dass junge Leute nur an ihren eigenen Leistungen und ihrem eigenen Vergnügen interessiert sind. Und sich nicht sozial engagieren. Wir sind jetzt auf dem Höhepunkt dieser individualistischen Bewegung. Schon jetzt leben sehr viele Menschen allein. Vereinsamung und psychische Erkrankungen wie Depressionen häufen sich.

Welches Konzept wäre Ihrer Meinung nach besser als das der Bindungstheorie?
Am besten wäre das Konzept, gar keine Theorie zu haben. Heutzutage zerbrechen sich Eltern schon vom ersten Lebenstag ihres Kindes an den Kopf, wie sie die Synapsen ihres Nachwuchses effektiv anregen könnten. Das ist das Ergebnis höherer formaler Bildung, die führt zu einer späteren Familiengründung, zu weniger Kindern und zu einer Konzentration auf das einzelne Kind. Eltern sollten ihre intuitiven Kompetenzen wiederentdecken. Eine türkische Kollegin von mir hat belegt, dass es denjenigen am besten geht, die beides vereinen können: Autonomie und Verankerung im sozialen Gefüge. Und welchen Rat geben Sie den modernen Müttern?Ich versuche, Ratschläge zu vermeiden. Ich finde es wichtig, Spaß mit Kindern zu haben. Das fällt mir oft auf, dass der Spaß, die Freude häufig abhandengekommen ist. Und sich selbst nicht zu vergessen – je ausgeglichener und zufriedener die Eltern sind, auch innerhalb ihrer Beziehung, desto besser für die Kinder.

Das Interview führte Annika Ross.

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