Das Ende der Aufklärung?

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Die Wogen schlugen hoch im Europäischen Parlament. Grund für die heftige Debatte in Brüssel: das holländische ‚Abtreibungsschiff‘ der ‚Women on Waves‘. Nachdem der portugiesische Verteidigungsminister Paolo Portas seine Kriegsschiffe ausgeschickt hatte, um das Ankern von Rebecca Gomperts ‚MS Borndiep‘ in portugiesischen Häfen zu verhindern, hatten die Sozialdemokraten bei der EU-Kommission protestiert. Bei der Diskussion im Parlament zeigte sich, wie tief die europäische Volksvertretung gespalten ist: Während die einen das Recht der portugiesischen Frauen auf „Zugang zu Informationen über die reproduktive Gesundheit“ einforderten, schrien die anderen „Genozid“ und „Massenmord“.

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„Da fallen Begriffe, die wir im Parlament seit 15 Jahren nicht mehr gehört haben“, klagt die erfahrene Sozialdemokratin Lissy Gröner. „Was zum Beispiel die ‚Polnische Familienpartei‘ da so von sich gibt, ist einfach grauenhaft.“
Seit am 1. Mai 2004 zehn neue Staaten zur EU gehören, verbünden sich die vatikantreuen Länder des alten und des neuen Europa zum Backlash gegen das im Westen in den 70er Jahren errungene Recht auf Abtreibung. Portugal und Irland stehen Seit’ an Seit’ mit Polen und Malta, wenn es darum geht, die bis dato progressive EU-Linie zu torpedieren. Kein Wunder: In allen vier – erzkatholischen – Ländern dürfen Frauen bis heute nicht selbst entscheiden, ob sie eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen wollen,

So ist Aufklärungsunterricht an den Schulen in der Heimat von Papst Wojtila keineswegs Pflichtfach. Wo dennoch das Fach „Erziehung zum Familienleben“ angeboten wird, gibt es regelmäßig Streit darüber, ob die SchülerInnen auch über Verhütungsmethoden informiert werden dürfen. Folge: Nur 19 Prozent der polnischen Frauen nutzen moderne Verhütungsmittel – eine der niedrigsten Raten in Europa. Folgerichtig ist die Zahl der (illegalen) Abtreibungen in Polen eine der höchsten in Europa.

Denn Frauen treiben ab, wenn sie ungewollt schwanger sind, egal welche Nationalität und welchen Glauben sie haben. Während die polnische Regierung von nur 100 bis 200 Abbrüchen pro Jahr spricht, gibt die ‚Föderation für Frauen und Familienplanung‘ eine tausendfach höhere Zahl an: nämlich 200.000, Tendenz steigend. Auf Malta ist Abtreibung selbst dann verboten, wenn die schwangere Frau in Lebensgefahr schwebt. Damit das so bleibt, haben Malta und Polen, ganz wie seinerzeit Irland, ihren Beitrittsverträgen Zusatzprotokolle angefügt, in denen sie sich das Recht vorbehalten, unter allen Umständen souverän über ihre Abtreibungsregelungen zu entscheiden. Verbindliche Beschlüsse, die diese Länder zwingen könnten, Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren, kann der Europarat nur einstimmig verabschieden. „Und Einstimmigkeit“, bedauert Lissy Gröner, „sehe ich leider überhaupt nicht.“

Bei den schrillen Tönen aus Polen & Co. geht es aber nicht nur um das Recht auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch für die Frauen in der EU, sondern um das Recht auf Verhütung und selbstbestimmte Mutterschaft von Frauen auf der ganzen Welt. Denn: Die alten und neuen Konservativen in Europa versuchen, den sogenannten „Konsens von Kairo“ aufzukündigen.

1994 hatten die Vereinten Nationen zur „Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung“ nach Kairo geladen. Die Konferenz gilt als Meilenstein, denn dort fällte die Staatengemeinschaft einen entscheidenden Beschluss: Sie erkannte zum ersten Mal das Recht eines jeden Menschen auf „reproduktive Gesundheit“ an. Was laut Definition bedeutet, dass „Menschen ein befriedigendes und ungefährliches Sexualleben haben können“ und dass sie „die freie Entscheidung darüber haben, ob, wann und wie oft sie von ihrer Möglichkeit zur Fortpflanzung Gebrauch machen wollen“. Dazu sei unerlässlich Recht von „Männern und Frauen, informiert zu werden und Zugang zu sicheren, wirksamen und erschwinglichen Familienplanungsmethoden ihrer Wahl zu haben“. Schwangerschaftsabbrüche, so die Kairoer Beschlüsse 1994, sollen zwar nicht als „Familienplanungsmethode gefördert werden“. Doch wenn ein Abbruch stattfindet, dann soll er „von sachkundiger Hand und unter hygienischen Bedingungen durchgeführt werden“. Um diese Ziele auch in den Entwicklungsländern bis zum Jahr 2015 durchzusetzen, beschlossen die Teilnehmer, dass die Industrieländer jährlich 5,7 Milliarden Euro für Aufklärung und Verhütung bereitstellen sollten.

Bisher hatte die europäische Staatengemeinschaft unmissverständlich hinter dem Konsens von Kairo gestanden. Vor zwei Jahren hatte sie sogar einen weitere 32 Millionen Euro bewilligt, um die Ausfälle der USA auszugleichen. (Das christlich-fundmentalistische Bush-Land, das Enthaltsamkeit als Kondome predigt, verweigert sich den Zahlungen.) Zehn Jahre nach Kairo aber weht auch in Europa ein anderer Wind. „Innerhalb einiger EU-Mitgliedsstaaten regt sich Widerstand dagegen, dass die Kairoer Definition von reproduktiver Gesundheit den Schwangerschaftsabbruch nicht kategorisch ausschließt“, stellt das ‚Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung’ in seiner aufschlussreichen Studie „Das Ende der Aufklärung“ fest und fährt fort: „Auch in Brüssel betreiben verschiedene Gruppen seit einiger Zeit Lobbyarbeit gegen die Umsetzung der Kairoer Ziele – ebenso wie in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten“.

Diese Gruppen heißen ‚Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren‘, ‚Pro Vita‘ oder ‚Christdemokraten für das Leben‘.

Sie bombardieren die EU-Abgeordneten mit Briefen und Faxen, in denen diese aufgefordert werden, nicht länger Organisationen zu finanzieren, die „Abtreibung und Sterilisation als ihr wesentliches Tätigkeitsfeld definieren“.
Viele dieser Gruppen haben ihren Stammsitz in den USA, wie die ‚World Youth Alliance‘, die sich nach eigenen Angaben gründete, weil „junge Menschen eine extrem radikale Agenda von persönlicher Autonomie und sexueller Freiheit vertreten“. Die Vereinigung ‚euro-fam‘ zum Beispiel, die ebenfalls amerikanische Wurzeln hat, bietet auf ihrer Website einen Service der besonderen Art: Wer auf seinen Europa-Abgeordneten klickt, erfährt, wie er oder sie bei namentlichen Abstimmungen im „Bereich der Förderung der Familie und der Kultur des Lebens“ votiert hat. In Amerika, wo in den vergangenen Jahren reihenweise ‚Abtreibungsärzte‘ ermordet wurden, kann ein solches Outing schon längst lebensgefährlich sein. Längst ‚missionieren‘ diese Gruppen auch in Entwicklungsländern, wo sie mit ihren tödlichen Anti-Verhütungs-Predigten dafür sorgen, dass Frauen bei ihrer zigsten Geburt sterben – oder sich mit Aids infizieren.

Aber auch in Deutschland schlafen die ‚Lebensschützer‘ nicht. Sie stehen ‚Mahnwache‘ vor Arztpraxen, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, wie der von Friedrich Stapf in München. Und jüngst startete der Verein „Durchblick“ aus dem badischen Bruchsal eine Embryo-Verteil-Aktion. Rund 20.000 braune Umschläge mit einem „originalgetreuen Kunststoffmodell eines Embryos in der zehnten Schwangerschaftswoche“ verteilten die AktivistInnen an alle Haushalte der Stadt, denn „dies ist der Zeitpunkt, zu dem die meisten Abtreibungen durchgeführt werden“. Der Verein, der nach eigenen Angaben nur acht Mitglieder hat, strebt an, dass „hochmotivierte Helfer“ im Laufe der kommenden Wochen 40 Millionen deutschen Haushalten Plastik-Embryos zwecks Mahnung bescheren.

„Das sind zum Teil sehr skurrile Organisationen, und man glaubt, die nicht ernst nehmen zu müssen“, erläutert Reiner Klingholz vom ‚Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung‘. „Das muss aber nicht so bleiben.“ In der Tat. Schon jetzt nehmen die sogenannten „Lebensschützer“ Einfluss auf die Politik. Das beginnt schon bei der Sprache. Längst haben PolitikerInnen aller Couleurs das irreführende und verhetzende Vokabular der Fanatiker übernommen. Ganz selbstverständlich sprechen sie wieder vom „ungeborenen Kind“, wo rein rechtlich und medizinisch vom „Fötus“ oder „Embryo“ die Rede sein sollte.

Am 16. Oktober zogen rund 1.000 AnhängerInnen des „Bundesverbands Lebensrecht“ (BVL) in einem „Trauermarsch“ mit „tausend weißen Kreuzen“ zum Berliner Alexanderplatz. „Jedes Kreuz steht für ein Kind, das werktäglich in Deutschland durch Abtreibung ums Leben kommt“, verkündete BVL-Vorsitzende Claudia Kaminski und verlangte: „Der Mutterleib muss wieder ein sicherer Ort werden, statt häufig Todeszelle zu sein.“

Eine der Forderungen der „Berliner Erklärung“, die der Verband verabschiedete, lautete: Der Bundestag möge „endlich der vom Bundesverfassungsgericht auferlegten Pflicht nachkommen, die Auswirkungen der Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch nachzukommen“. Besondere Mängel gebe es bei den „Spätabtreibungen“.

Einen Monat nach der Demo debattiert der Bundestag über einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion. Thema: Spätabtreibungen. Die Union will im Falle einer Behinderung des Fötus das bisher geltende Recht verschärfen. Ein „embryopathischer Befund“ allein soll nicht mehr ausreichen, um die Schwangerschaft legal abbrechen zu dürfen. Im Klartext: Eine Frau, die sich gegen ein Leben mit einem behinderten Kind entscheidet, soll das nicht mehr dürfen. Eine Beratungspflicht und eine zusätzliche dreitägige „Bedenkzeit“ sollen eingeführt werden. Die Krankenkassen sollen die Kosten für den Abbruch nur dann übernehmen, wenn Beratung und Bedenkzeit eingehalten werden. Außerdem will die Union das Weigerungsrecht der Ärzte, an einer Abtreibung teilzunehmen, erweitern. Einziger Trost: SPD und Grüne lehnten den Entwurf als „ungeheuerlich“ ab.

Doch eins ist klar: „Nicht allein das Problem der Spätabtreibungen, sondern das gesamte Abtreibungsrecht gehört wieder auf den Prüfstand“, erklärte im Zuge der Debatte der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen frank und frei.
„Wir merken“, bestätigt Lissy Gröner, „wie sich die konservativen Kräfte mit Unterstützung der ganz Radikalen wieder formieren.“

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Das Ende der Aufklärung. Der internationale Widerstand gegen das Recht auf Familienplanung. Bestelladresse: Markgrafenstr. 37, 10117 Berlin, www.berlin-institut.org
In EMMA zum Thema: Die ‚Army of God‘ im Vormarsch (2/03), Die christlichen Kreuzzügler (6/01), Die Vatikan-Connection (3/98)

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