Auf freier Wildbahn

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Was ‚Frau TV’-Moderatorin Ortgies beim Jagen in der Disco alles so durch den ondulierten Kopf geht.

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Was mache ich hier eigentlich?“ geht es mir durch den benebelten Kopf, während ich die Tanzfläche taxiere. Ich schaue in blutjunge Frauengesichter. Auf tätowierte Drachen, die sich über halb freigelegte Apfelpopos schlängeln und durch den Ärmelausschnitt wallender Glitzertops auf Pfirsichbrüste.

Verschämt kaue ich an dem Strohhalm in meinem Whiskey-Sour. Die anwesenden Herren sind eher in meinem Alter, teilweise weit darüber hinaus. Aber für sämtliche Männer in diesem Laden bin ich entweder Luft oder werde mit mitleidig-irritierten Blicken bedacht, als hätte ich kreisrunden Haarausfall.
Selbst schuld! Wie konnte ich mich nur überreden lassen, einen neu eröffneten Club aufzusuchen namens: The Golden Cut? Wo angespeckte Edelrestaurantbesitzer und andere Lokalpromis Sonnenbrillen im Haar spazieren führen? Okay – die Freundin, mit der ich unterwegs bin, ist Single und steht auf Männer mit Geld. Ich wollte ihr einen Gefallen tun. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Irgendwie hatte ich Hummeln im Hintern.
Für Evolutionsbiologen ist mein Verhalten nicht schwer zu erklären: Mein Eisprung ist schuld. Die Hormone zwingen mich auf die freie Wildbahn zwecks Partnersuche. Das hat nun leider nicht geklappt, betrunken genug bin ich auch. Außerdem klafft ein Loch im Portemonnaie, weil ich im Gegensatz zur Mehrheit der ‚Golden-Cut‘-Besucherinnen die überteuerten Drinks selbst zahlen musste. Also ab ins Taxi nach Hause.
Obwohl ich mit dieser Entscheidung den Theorien der Neurophysiologen und Evolutionsforscher widerspreche. Denn der freie Wille ist in Sachen Sex angeblich nichts weiter als eine Illusion. Von den anderen Wissenschaftlern hört man nichts mehr.
Angesichts der Strahlkraft und Logik biochemischer Prozesse und diverser Steinzeitreflexe sind Soziologen, Philosophen und auch die meisten Psychologen in Deckung gegangen. Und lassen uns allein auf dem Weg zurück in die Steinzeit.
Wir sind nämlich alle dabei, rückwärts zu evolutionieren. Zurück in ein „ungebundenes, rudelhaftes Primatendasein“. Denn für die Monogamie sind wir eigentlich nicht gemacht, behauptete jüngst auch Der Spiegel in seiner Titelgeschichte ‚Evas Männer. Die Biologie der Partnersuche’, lange nachdem zahlreiche Anthropologen, Biologen und Neurophysiologen in ebenso zahlreichen Werken die Liebe als Wechselwirkung verschiedener Hormone und Duftstoffe entschlüsselt hatten. Aber es dauert ja immer ein bisschen, bis so ein Thema seinen publizistischen Höhepunkt erreicht und auch in Fitnessclubs oder beim Edelitaliener diskutiert wird.
Auf jeden Fall erklärt uns jetzt auch Der Spiegel, warum wir uns vom Glauben an den freien Willen verabschieden müssen. Was unser Verhalten bestimmt ist ein seelenloses Netzwerk aus Synapsen und Botenstoffen. Zum Beispiel: Sie interessieren sich sehr für diesen humorvollen und interessanten Mann, den sie beim ‚Free-climbing‘ kennen gelernt haben? Sie glauben, dass das etwas mit seinem Wesen zu tun hat?
Keineswegs: Das liegt vor allem an dem Adrenalin, das beim Klettern ausgeschüttet wird. Das Stresshormon wühlt quasi die Gefühle auf. Und wenn jetzt noch ihr Eisprung und eine Überdosis des Glückshormons Dopamin hinzukommen, schaltet sich endgültig der Verstand aus und Sie stecken mitten in einer leidenschaftlichen neuen Beziehung.
Schuld sind die biochemischen Abläufe. Wer mehr hineininterpretiert, glaubt fälschlicherweise an göttliche Fügung oder hängt naiverweise dem Ideal der romantischen Liebe hinterher – hat also im besten Sinne einen Sprung in der Schüssel. Kernspintomographien, Hirnstrommessungen und Blutanalysen helfen uns bei der Rückbesinnung auf unsere stammesgeschichtlichen Wurzeln. Für den Spiegel sind wir nichts anderes als „liebende Affen“.
Und immerhin: Mit etwas Glück werden nach dem Dopaminrausch auch die Oxytocin- und Vasopressin-Speicher angezapft, das sind nämlich die Hormone, die für eine dauerhafte Bindung sorgen. Dauerhaft bedeutet allerdings im evolutionsbiologischen Sinne etwa vier Jahre, also bis der eventuelle Nachwuchs aus dem Gröbsten raus ist. Das heißt, spätestens, wenn ein gemeinsames Kind die Kindergartenreife erreicht hat, ist man – meistens frau – alleinerziehend …
Und das ist nicht etwa irgend jemandes Schuld oder ein Grund zu jammern. Denn dieses Schicksal ist aus evolutionsbiologischer Sicht arteigen und deshalb wertfrei zu betrachten. Eigentlich müssten Sie als Frau sowieso direkt nach einer Trennung – oder noch besser: während der Beziehung – wieder auf Gene-Shopping-Tour gehen. Denn aus Sicht der Hormonforschung ist uns Frauen daran gelegen, beim „sexuellen Einkaufsbummel die besten Gene zusammenzuklauben“. Natürlich alles nur im Dienste und für das Überleben der Menschheit. Nur, heute müssen wir Frauen so etwas heimlich tun und ziehen das so gezeugte Kuckucksei dann mit irgendeinem Pantoffelhelden groß, der zu träge ist, uns zu verlassen.
In der Realität haben Alleinerziehende und andere Mütter ja herzlich wenig Zeit und Nerven, Gene shoppen zu gehen. Aber dann sind es eben die leidigen Lebensumstände, die uns von unserer eigentlichen Bestimmung abhalten. Im Herzen sind wir nämlich alle promisk. Oder in den Worten des Spiegel-Affen, pardon, Autors: „Promiskuität ist oberste Affenpflicht …“
Man spürt das Bedauern, wenn die zitierten Forscher nostalgisch an die menschlichen Anfänge erinnern: Da trieben es die Hominiden-Frauen im Laufe eines Tages gleich mit mehreren Männern. Zumindest: So vermuten es die phantasievollen Forscher, denn aus Steinen, Äxten und Grabbeilagen lassen sich ja leider keine Erkenntnisse über das damalige Sexualleben rekonstruieren. Grundlage solcher Phantasien ist das Verhalten heutiger Schimpansen und Bonobos, die wilde „Gang Bangs“ veranstalten – was die herrschenden Forscher die „herrschende Sexualmoral“ beklagen lässt. Sie sind ja auch nur Männer und damit nur um Haaresbreite vom Hominiden-Männchen entfernt, das – vom Testosteron-Spiegel gepeitscht – gezwungen ist, möglichst viel Sperma über möglichst viele Frauen zu verteilen. Und das bis ins hohe Alter!
Wie praktisch, dass Hominiden-Weibchen nur alle vier Wochen von ähnlichen Brunftgefühlen übermannt werden, und das auch nur bis zur Menopause. Danach ist Enthaltsamkeit genetisches Programm, zumindest für Frauen.
Müssen Frauen dem lieben Gott bzw. unserem Hormonhaushalt danken, dass er uns zumindest für das letzte Drittel unseres Lebens von der Geißel Sex befreit hat? Uns bleibt die Demütigung erspart, die gleichaltrige Männer im Hüftprothesenalter noch in Fitnessstudios oder Discos treibt, um nach gebärfähigen Frauen Ausschau zu halten. Wir können für Unicef arbeiten, Reisen machen, uns höheren Dingen widmen.
Während die armen alten Männer die jungen Frauen auch noch befriedigen müssen! Früher reichte Geld und Status aus, um die sinnlichen Bedürfnisse der jungen Gemahlin zu kompensieren. Heute wird von den Sugar Daddies in Viagra-Zeiten auch noch sexuelle Kreativität verlangt! Erschwerend kommt hinzu, dass Frauen im Bett nach wie vor schauspielerisches Talent zeigen. Was auch eine brandaktuelle Studie der Charité zum weiblichen Sexualerleben bestätigt: 90 Prozent der befragten Frauen gaben an, ihrem Partner schon einmal einen Orgasmus vorgetäuscht zu haben. Dass über 40 Prozent der Orgasmus-Darstellerinnen angeben, dies allein aus Liebe zu tun, um ihn „zu bestätigen“, sollte die Männer eigentlich eher beunruhigen.
Doch auch hier bietet sich die Forschung als Freund und Helfer an. Ein Professor der anatomischen Abteilung der Universität Groningen hat im letzten Jahr acht Probandinnen in einen Positronen-Emissions-Tomographen, kurz PET, geschoben, der während eines echten und eines vorgetäuschten Orgasmus alle Hirnaktivitäten aufzeichnete. Und siehe da: beim richtigen Orgasmus blitzt es im tief gelegenen Hirnstamm, beim ‚fake‘ kokelt es bloß in der Großhirnrinde. Was nebenbei beweist, dass weibliche Orgasmen so alt sind wie die Menschheit überhaupt, denn der Hirnstamm gehört ja evolutionär zum ältesten Teil unseres Cerebrums. Dass Jahrtausende vergehen mussten, bis endlich auch rein wissenschaftlich die Klitoris entdeckt wurde, sagt eine Menge über die männlich dominierte Forschung.
Eine Forschung, die eine Bilanz wie die Orgasmustomographie auch noch stolz in die Welt hinausposaunt. Als hätte irgendein Mensch jemals daran gezweifelt, dass vorgetäuschte und echte Orgasmen in zwei unterschiedlichen Hirnarealen stattfinden. Schließlich handelt es sich bei Letzterem um ein Gefühl und beim ‚Fake‘ um eine kognitive Leistung.
Mal ganz abgesehen vom Nutzwert so einer Studie, denn: Was macht ‚Mann‘ mit dieser Erkenntnis? Er könnte seine Partnerin ja auch einfach fragen. Aber um wirklich sicher zu gehen, soll er sie beim Sex in eine kalte Stahlröhre reinquetschen, um sie dann mit dem Beweis zu konfrontieren: „So, dir hat’s also gefallen? Und wieso war dann in deinem Hirnstamm tote Hose?“
Verzagte Männer können sich mit einem anderen Ergebnis der Charité-Studie trösten: „Die Zufriedenheit mit dem Sexualerleben hat bei Frauen weniger mit dem Orgasmus oder der Partnerzahl zu tun, sondern mehr mit Vertrauen und Kommunikation.“ Was wiederum zu der Tatsache passt, dass nur – oder ‚sogar‘, je nach Auslegung – 50 Prozent der befragten Frauen mit ihren bisherigen männlichen Sexualpartnern einen Orgasmus erlebt haben.
Hetero-Frauen, die mit diesem Kontingent unzufrieden sind, sollten wissen, dass sich die Trefferquote mit einer Sexualpartnerin auf 75 Prozent erhöht – und bei Masturbation auf 80 Prozent. Gewusst wie.
Lisa Ortgies, EMMA Mai/Juni 2005

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