Mädchenbücher: Hallo, Jungs &

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Du darfst das Schwert nicht haben! Frauen dürfen bei den Rittern nur die Schilde putzen! Das steht in meinem Buch!“ So schallte es neulich aus dem Zimmer eines befreundeten, eigentlich sehr netten Fünfjährigen. Kurz darauf erschien meine Tochter (vier) und hatte keine Lust mehr, mit ihm zu spielen. Seine Eltern waren erstaunt, aber nicht um Gegenargumente verlegen:

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„Und was ist mit dem kleinen Ritter Trenk? Mit Thekla?“ In Kirsten Boies Kinderbuch gibt es nämlich ein Mädchen, das heimlich kämpfen lernt. „Oder mit Ritter Rost und dem Burgfräulein Bö?“ Die muss ihrem Freund ständig aus der Patsche helfen und schafft es auch, clever und tatkräftig wie sie ist.

Das Geschrei im Kinderzimmer zeigt: ­Kinder teilen die Welt früh in männlich und weiblich ein, und zwar nicht immer so, wie ihre emanzipierten Eltern es gerne hätten. Bei Dornröschen, Schneewittchen und Co. sind die Retter meistens Jungs. Doch es ist nicht schwer, ihnen zu helfen, weder mackerige Prinzen noch zimperliche Prinzessinnen zu werden. „Ich werde oft nach Büchern mit starken Mädchenfiguren gefragt“, erzählt Anita Hebbinghaus vom Kinderbuchladen „Nimmersatt“ in Berlin. „Davon gibt es inzwischen ja viele.“ Und das nicht erst seit gestern, denken wir nur an Ronja Räubertochter, die rote Zora oder, klar, Pippi Langstrumpf.

Die Abenteuer von Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Efraimstochter Langstrumpf erschienen vor genau 60 Jahren erstmals auf Deutsch, nachdem das „stärkste Mädchen der Welt“ 1945 in Schweden den Buchmarkt betreten hatte. Pippi verschreckte in den konservativen 50er Jahren viele Eltern. Gerhard Bonnier, der erste Verleger, dem Astrid Lindgren das Manuskript 1944 anbot und der es ablehnte, sagte rückblickend: „Ich hatte selbst kleine Kinder und stellte mir mit Entsetzten vor, was passieren würde, wenn sie sich dieses Mädchen zum Vorbild nähmen.“

Vermutlich ärgerte er sich später sehr, denn Pippi ist nicht nur wild, sondern ein Kinderliteratur-Superstar: Ihre Geschichten wurden in 57 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Auflage von fast 30 Millionen. Der Oetinger-Verlag feiert jetzt Pippis 60. Geburtstag mit einer Bilderbuch-Ausgabe von „Pippi findet einen Spunk“.

Lindgren, die in den 20er Jahren als erste Bubikopfträgerin des Örtchens Vimmerby Aufsehen erregte und harte Zeiten als ledige Mutter überlebte, schuf mit Pippi eine Alternative zum engen Nachkriegs-Zeitgeist. Gegen autoritäre Erziehung und liebliche Petticoat-Rüschen setzte sie ein Geschöpf mit Riesenschuhen, riesigem Selbstbewusstsein und übermenschlichen Kräften.

Dass Lindgren in der Darstellung der Südseewelt, wo Pippis Vater wohnt, ein Kind ihrer Zeit blieb, steht auf einem anderen Blatt und wurde ab den 70er-Jahren immer wieder kritisiert. Wer je beim Vorlesen auf die Sätze über „Neger“ stieß (so wurden Schwarze damals ­genannt), kennt das Problem. Heide­marie Arnhold vom Arbeitskreis Neue Erziehung e.V. plädiert dafür, die Passagen über das Taka-Tuka-Land im historischen Kontext zu sehen und mit Kindern zu besprechen. Denn: „Pippi Langstrumpf ist wegweisend für die Mädchenrolle in Kinderbüchern. Sie ist eine ausgeprägte, selbstbewusste Persönlichkeit. Lindgren zeigt sie als gleichwertige Partnerin von Erwachsenen. Das ist sehr wichtig – ganz unabhängig vom Geschlecht.“

Der Verein, dem Heidemarie Arnhold vorsteht, ist ungefähr genauso alt wie Pippi Langstrumpf. Er gründete sich 1946 – nicht zuletzt als Reaktion auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Mit Beratungen und Informationen wie dem bundesweit versendeten „Elternbrief“ setzt er auf einen respektvollen, stärkenden Umgang mit Kindern. Und: „Menschen, die selbstbewusst sind und sich selbst wertschätzen, können auch andere wertschätzen.“

Eine jüngere und modernere Schwester Pippis ist die Piratin Bea Backbord, die seit 2008 ihr Unwesen treibt. Wie Pippi lebt sie ohne Eltern, und zwar auf einem Piratenschiff. Mit ihrer Kinder-Crew erlebt sie in drei Bänden Abenteuer mit fiesen Hundequälern oder Vulkanausbrüchen. Der Smutje ist übrigens ein Junge. Die Reihe wird als „(Vor-)Lesespaß für abenteuerliche Mädchen ab fünf“ ­beworben. Mal davon abgesehen, dass Altersgrenzen so eine Sache sind, reagierte auch der Fünfjährige, von dem schon die Rede war, ziemlich begeistert auf dieses Buch. Warum sollten nur Mädchen ­Bücher über starke Mädchen lesen?

In der Welt der Ritter und Prinzessinnen gibt es ja schon länger beeindruckende Mädchen, allen voran Babette Coles motorradfahrende „Prinzessin Pfiffigunde“ oder Cornelia Funkes „Ritter ­Namenlos“, der in Wahrheit Violetta heißt und eine Prinzessin ist. Bei beiden geht’s, wie sollte es bei Prinzessinnen anders sein, ums Heiraten. Während Violetta alle beim Turnier angetretenen Bewerber besiegt und heiratet, wen sie will, bleibt ­Pfiffi­gunde lieber solo. Sie lebt glücklich und zufrieden mit einem Drachen, einer riesigen Spinne und noch ein paar niedlichen Monstern.

Blaublütigen Thronfolgerwahn nimmt Oliver Wenniges „Prinzessin Horst“ auf die Schippe. Das kleine Buch veräppelt die Boulevardpresse und spielt fröhlich mit Transgender-Motiven – ein leicht ­abgedrehter, echter Klassiker.

Eins von vielen neuen Anti-Prinzessinnenbüchern ist das 2009 erschienene „Prinzessin Fibi und der kleine Drache“. Es zeigt ein kluges, schwer genervtes Kind: „Mädchen sein und Prinzessin sein, bedeutete fast dasselbe: denn auch Mädchen durften nicht raufen. Und nicht fluchen. Und schmutzig machen durften sie sich auch nicht.“ Brav lächelt Fibi unfähigen Drachtötern zu – um schlussendlich dem schlechtgelaunten Untier eigenhändig einen faulen Zahn zu ziehen.

Noch cleverer verhält sich die „Unterhilfs-Piratinnen-Auszubildende“ Julia in „Zähne putzen verboten!“: Sie rettet ihr Schiff, indem sie einem Meerungeheuer die Zahnpflege beibringt. Obwohl es eine pädagogische Botschaft vermittelt, ist das Buch so lustig getextet und gezeichnet, dass die weiter nicht stört.

„Ich glaube, dass Kinderbücher einen ganz gehörigen Anteil daran haben, wie man seine Rolle findet“, meint auch Katrin Seewald, die Leiterin der Else-Ury-Kinder- und Jugendbibliothek in Kreuzberg. Ihr Arbeitsplatz, ein denkmalgeschütztes, verwinkeltes Gebäude mit gelb-orange-blauem Treppenhaus, wirkt wie eine ­Mischung aus Märchenschloss und Villa Kunterbunt. Es beherbergt seit über hundert Jahren Bücher und ist allein schon deswegen ein magischer Ort. Außerdem finden sich hier auch vergriffene Schätze wie Babette Coles „Tarzanna!“ und jede Menge anderer lustiger, nachdenklicher, überraschender Bücher. Die Liste der ­starken Mädchenfiguren, das lerne ich spätestens hier, ist viel länger, als ein Artikel vorstellen kann.

Wie eigentlich alle, die mehr mit Kindern und Büchern zu tun haben, warnt auch die Bibliothekarin vorm penetrant erhobenen Zeigefinger: „Ich finde es gut, wenn starke Mädchen als ganz normales Thema behandelt werden. Ich mag ­Bücher überhaupt nicht, die sehr päda­gogisch daherkommen. Kinder merken das auch, und es ist dann einfach keine ­schöne Geschichte mehr.“

Aber es gibt ja genügend gelungene Werke, in kürzester Zeit sammelt sie einen großen Stapel zusammen. Ganz oben liegt ein Buch von Doris Dörrie, deren „Lotte“-Figur sie ganz besonders schätzt. „Die ist gar nicht unbedingt ein starkes Mädchen, aber ein Mädchen mit einem eigenen Kopf. Das ist ja auch eine Stärke. Außerdem geht es hier um Alltagssituationen, das echte Leben sozusagen.“

Und die Wirklichkeit? Kinder mögen nicht nur Geschichten, sondern auch Sachbücher, und da wird es wirklichkeitsnah ergo komplizierter. In „Die Ritterburg“, einem Sachbuch für Kinder ab zwei heißt es: „Pia lernt stricken, spinnen und sticken (...) Max übt mit seinem Hund, wie ein Ritter zu kämpfen – mit Schwert und Schild.“ Auch die vielen Bücher über Baustellen, Piraten, über Feuerwehr und Müllabfuhr zeigen vor allem männliche Figuren. Das ist nicht schön, aber realistisch. Wer seiner Tochter erzählt, sie könne selbstverständlich später bei der Müllabfuhr ­arbeiten, ist nicht besonders glaubwürdig, wenn Tag für Tag nur Müllmänner die Tonnen wuppen.

Kinder beobachten ihre Umgebung genau. Schon Babys registrieren die ­Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zum Beispiel bei den Eltern. Es ist ja auch schon lange von linguistischen Untersuchungen belegt, dass bereits in einem sehr frühen Stadium der Vater das Kind anders anspricht als die Mutter. Und auch das Kind wird, je nachdem welches ­Geschlecht es hat, wiederum unterschiedlich angesprochen. Was zunächst, bei den ganz Kleinen, als schlichter Unterschied ankommt, wird in zunehmenden Alter mit Wertvorstellungen und sich verfestigenden Bildern – wie dem männlichern Bauarbeiter – verknüpft.

Glücklicherweise gibt es im wirklichen Leben wie in der Kinder­literatur immer mehr berufstätige Frauen. Schon Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“ zeigt eine alleinerziehende Bildredakteurin. Auch die „Lesemaus“-Reihe über Freunde und Freundinnen in unterschiedlichen Berufen präsentiert eine Zahnärztin, eine Postbotin, eine Tierärztin, eine Briefträgerin, eine Tierpflegerin, eine Polizistin. Kinderbuchhändlerin Hebbinghaus freut sich darüber: „Bei uns kommen oft Leute, die Bücher ohne traditionelle Rollenbilder wollen. Hier in Kreuzberg gibt es viele Kinderläden und Betreuungsmöglichkeiten, in vielen Familien arbeiten beide Eltern. Da passen Titel einfach nicht, in denen die Mama zu Hause ist, während der Papa arbeitet.“

Nachholbedarf gibt es auch beim Thema gleichgeschlechtlicher Elternschaft. ­Bücher hierzu sind selten, oft vergriffen oder noch gar nicht übersetzt, wie zum Beispiel das wunderbare „And Tango makes Three“ (2005) von Justin Richardson, Peter Parnell und Henry Cole. Hier geht es um die wahre Geschichte zweier Pinguinmännchen im New Yorker Zoo, die zusammen ein Ei ausbrüten.

Weil sie so schön ist, gibt es die ­Geschichte trotzdem auf deutsch. Auch Edith Schreiber-Wicke und Carola Holland machten daraus ein Kinderbuch, es heißt „Zwei Papas für Tango“. Titel zu Regenbogenfamilien (auch mit zwei Müttern), zu Mädchen/Jungen, interkulturellen Unterschieden, unterschiedlichen Befähigungen, Religion, Krankheit usw., hat das Projekt „Kinderwelten“ (www.kinderwelten.net) zusammengetragen. Seine „Empfehlungsliste für vorurteilsbewusste Kinderbücher“ ist eine echte Fundgrube. Auch der ­Arbeitskreis für eine Neue Erziehung hat mehrsprachige Empfehlungen ins Netz gestellt (www.a4k.de).

Auch die Welt der Kinder unterliegt Moden, derzeit bevölkern zahllose Feen, Meerjungfrauen, Ballett-Tänzerinnen die Bücherregale und die Fantasie vieler Mädchen. Knalliges Pink und Rosa in allen Schattierungen machen weder vor Buchdeckeln, Kleiderschränken noch Legosteinen halt. Bibliothekarin Seewald kann das bestätigen: „Das ist im Moment total angesagt. Schulklassen, vor allem im Erstlesealter also mit sechs, sieben Jahren, stehen total auf Rosa, auf Feen und Elfen. Es kommen Gruppen in die Bibliothek, in den alle Mädchen, aber wirklich alle, rosa angezogen sind.“

In solchen Zeiten fällt ein Buch, das „Ich hasse Rosa!“ heißt, eher auf. Sein Name ist Programm. Ein Mädchen erzählt, dass ihm bei „Prinzessinnen-Tralala“, Schleifchen und Püppchen schlecht wird. Wir sehen es in schwarzem T-Shirts mit Totenkopfdesign, mit Augenklappe und Dino-Figuren. Außerdem stellt es zwei Freunde vor: Luis näht gern, Anton bemalt seine Autos mit Blümchen und hat es deswegen ziemlich schwer. In dem Buch von Nathalie Hense und Ilya Green geht es um Kinder, die gegen gängige Rollenmuster verstoßen. Mit seiner klaren Bildsprache und den knappen, provokativen Texten regt es Diskussionen unter Kindern an.

Manche AutorInnen finden witzige Wege, die Geschlechterfrage zu thematisieren, zum Beispiel Thierry Lenain und Delphine Durand mit „Hat Pia einen ­Pipimax? Das Buch vom kleinen Unterschied“. Die Geschichte mit dem hintersinnigen Titel ist schnell erzählt: Der ­kleine Paul teilt die Welt in „die Mit-Pipimax“ und die „ohne Pipimax“ ein. „Die Mit-Pipimax sind viel stärker als die ohne Pipimax. Und warum? – Weil sie einen Pipimax haben.“ Das denkt Paul allerdings nur, bis er Pia kennen lernt, die grimmige Mammuts malt, auf Bäume klettert und Fußball spielt. Und so ­beschließt er, dass sie wohl auch einen „Pipimax“ haben müsse. Als er beim Baden endlich einen Blick auf die entsprechende Körperregion werfen kann, ist er geschockt: „‚Du ... du ... du hast gar keinen Pipimax?!‘ stottert er. Pia schaut erstaunt an ihrem Bauch hinunter. ‚Nö ..., ich hab eine Pipimaus!‘“

Eine andere Möglichkeit, Geschlechterklischees auf den Kopf zu stellen, bieten Ausflüge ins Tierreich, zum Beispiel „Rita das Raubschaf“. Rita ist ein vom Phlegma seiner Herde entnervtes Schaf, Ruth ein Rosettenmeerschweinchen, das aus seinem Käfig mit herzförmigem Fressnapf ausbricht. Beide zeigen der Welt, dass man die Kleinen nicht unterschätzen sollte und stechen in See. Rita und Ruth glauben an sich. „‚Hej-ho!‘“ grölt Ruth. „’Wir sind die Größten!’“ Die Bilder von Ute Krause, die uns in anderen Büchern mit Monstern und Drachen erfreut, zeigen die beiden kiebig und voller Elan. Martin Klein erzählt ihre Glückssuche in prägnanten Szenen: Gegen das Benehmen der streichelgierigen Menschen rund um Ruth gehen Meerschwein und Schaf in die Offensive: „Die Freibeuter schwenken die Totenkopfflagge und fauchen: ‚Grapschern misstrauen! Süßfinder verhauen!‘“

Neben vielen anderen tollen Tieren, wie zum Beispiel Eric Carles „Herr Seepferdchen“, einem vorbildlichen alleinerziehenden Vater, wären da schließlich noch „Herr Hase und Frau Bär“ von Frauke Kempter und Frauke Weldin. Der Größenunterschied zwischen beiden ist wirklichkeitsnah gestaltet, dass heißt, Herr Hase ist viel kleiner als die riesige Frau Bär. Außerdem läuft er stets ein bisschen zwanghaft mit Staubwedel oder Staubsauger herum. Frau Bär dagegen ist nicht nur viel größer, sondern auch viel entspannter, sie liegt bis mittags im Bett, genießt ihr Leben und schmiert alles mit ihren Honigbroten voll. Das erste Buch über die beiden erzählt, wie die beiden zusammenziehen, der zweite, gerade erschienene, berichtet von einer ­gemeinsamen Reise. Wir Erwachsenen und die Kinder lernen in diesen Bilderbüchern, wie aufreibend, aber auch beglückend es sein kann, mit Größen- und Temperaments- und sonstigen Unterschieden umzugehen.

Pippi Langstrumpf hätte all diese ­Bücher ganz sicher verschlungen!

Mehr Infos
www.kinderwelten.net
www.a4k.de

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