Meine Tante Gisela

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Seit ich denken kann, war es mein Lebensziel, Tante zu werden. Ich bin mit neun (Großtanten nicht mitgezählt) Tanten aufgewachsen, ostpreußischen und schlesischen, die eine hochpotenzierte Form der Tante darstellen: Mit der Präsenz einer ostpreußischen oder schlesischen Tante kann es höchstens eine sizilianische aufnehmen. Dank ihnen wusste ich schon früh, dass Blut dicker als Wasser ist. Meine Tanten waren verschwiegen und verschwörerisch, großzügig und nachsichtig, sie schenkten mir rosa Petticoats und lila Lidschatten, sie liebten und verklärten mich auf so ausschließliche und selbstverständliche Weise, wie es nur Blutsverwandte katholischer Prägung hinkriegen. Weshalb mein späterer Lebensweg, also nach Italien zu ziehen und mich mit der Mafia zu beschäftigen, schon seit meiner frühesten Kindheit vorgezeichnet war.

Wir lebten im Ruhrgebiet, bis auf zwei wohnten alle meine Tanten im Umkreis von wenigen Kilometern, wir sahen uns nahezu täglich. Das Tantendasein (Nach Parfum und Haarspray duften! Ganze Tischgesellschaften mit Stegreifgeschichten zum Lachen bringen! Geschenke ­machen!) erschien mir ungleich erstrebenswerter als die mit viel Mühsal (Tobsüchtige Giftzwerge nachts herumschleppen! Windeln wechseln! Einkaufenputzenbügelnwaschen!) und wenig Anerkennung verbundene Mutterrolle: Einer Mutter wird nichts, einer Tante ­jedoch alles nachgesehen. Je subversiver eine Tante war, desto besser gefiel sie mir.

Die größte Rebellin unter meinen Tanten war Tante Gisela, die älteste Schwester meiner Mutter. Die einzige der Schwestern, die nicht wasserstoffblond und nicht verheiratet war. Die ledige Mutter war, in einer echten Großstadt lebte, berufstätig war – sie arbeitete in der Altenpflege – und als erste in der Familie einen Telefonanschluss hatte. Eine Tante, die mit ihren grünen Augen und langen schwarzen Haaren aussah wie die Zigeunerin, die ich auf Ölbildern im Kaufhaus gesehen hatte. Die hohe Absätze, lackierte Fingernägel und tiefe Ausschnitte liebte, zu ­Verwandtenbesuchen vorzugsweise per Anhalter anreiste und, wie ihre Schwestern behaupteten, in der Lage war, sich über drei Tische hinweg mit einem Mann allein durch Blicke zu verabreden, ohne dass seine daneben sitzende Ehefrau etwas davon mitbekommen hätte. All das ­entsprach meiner Idealvorstellung vom Erwachsensein.

Allein die Expeditionen zur Hauptpost, von der aus wir Tante Gisela gelegentlich anriefen, waren ein Ereignis. Mit Spannung warteten wir darauf, dass der Postbeamte eine Verbindung herstellte und das Telefon in der engen Kabine endlich klingelte, wo wir uns um den Hörer rissen, weil jeder kurz mit Tante Gisela sprechen wollte. Wenn sie uns ­besuchte, war das nicht der übliche langweilige, nicht enden wollende Sonntagnachmittagbesuch mit Kuchen und Schlagsahne, sondern ein rauschendes Fest, denn Tante Gisela war immer guter Laune – nie kritisierte sie andere, nie ­beschwerte sie sich. Trunken vor Wiedersehensfreude saßen wir im Wohnzimmer, Tante Gisela hatte Geschenke für alle mitgebracht, es war wie Weihnachten und Ostern an einem Tag, das Zimmer quoll über vor Geschenkpapier und Schleifen und Kartons. Mit roten Wangen packten wir jubelnd aus, obwohl die Schwestern genau wussten, dass sie das Gleiche bekommen würden, nur in verschiedenen Farben: eine Schmuckschatulle oder ein Nageletui und ich einen kleinen Erste-Hilfe-Koffer.

Zu meinem Bedauern blieb Tante ­Gisela nie lange. So groß die Freude der Schwestern über ihr Wiedersehen war, so groß war Tante Giselas Erleichterung, wenn sie wieder abreisen konnte. Mal schlief sie zu lange, mal hinterließ sie im Badezimmer lange, schwarze Haare, mal hatte sie sich über die kurzen Fingernägel ihrer Schwestern lustig gemacht. Knackwurstfinger, hatte sie gesagt.

Kein anderes Mädchen außer ihr habe lange Hosen getragen, hieß es von Tante Gisela. Ich sah darin ein Zeichen der Verbundenheit, auch ich wollte Hosen und keine Röcke tragen, weil ich so dünne Beine hatte: Storchenbeine, sagten meine Onkel, und ich hasste sie dafür. Meine Tante hatte die langen Hosen schon vor dem Krieg getragen. In Schlesien. Also in jener Welt, die bereits versunken war, als ich geboren wurde.

Die Gisela hat sich schon immer durchgesetzt, sagte meine Mutter und ­erzählte Geschichten, in denen Tante ­Gisela wie ein Fabelwesen auftauchte, Geschichten, die von dem Krieg, der Flucht und dem, was die Schwestern ihr Zuhause nannten, handelten, also dem, was für mich so fern und rätselhaft war wie ein Schwarzes Loch. Schon damals habe sich Tante Gisela durch besondere Kühnheit ausgezeichnet, hieß es: Als eine Schwester sich ohne ihre Erlaubnis ihr Kleid auslieh und damit zum Tanzen ging, sei Tante Gisela hinter ihr hergeradelt und habe ihre Schwester vor aller Augen gezwungen, das Kleid wieder auszuziehen. Und als die Familie vor den Russen flüchten musste, habe meine Tante beschlossen, ihr Glück allein zu versuchen, weshalb sie sich auf den ersten Soldatenwagen setzte und gen Westen fuhr, bis mein Großvater sie am nächsten Kon­trollposten festnehmen ließ.

Als ein durchreisender Soldat meiner Tante einen Totenkopfring schenkte, habe sie sich selbst dann nicht davon trennen wollen, als mein Großvater drohte, ihr den Finger abzuschneiden. Und als jenes Russenweib es wagte, meiner Tante Vorschriften zu machen, wurde sie von ihr verprügelt und zerkratzt: Das sind meine Pistolen! habe meine Tante gesagt und auf ihre Fingernägel gezeigt. Worauf der russische Kommandant höchstpersönlich die Füße und Hände meiner Tante fesselte und ihr die Fingernägel abschnitt, mit einem Taschenmesser. Und danach meinen Großvater halb tot prügelte. Das war Tante Gisela.

Einerseits.

Andererseits sei sie es gewesen, die später auf der Flucht ihre Mutter und ihre Schwestern vor dem Verhungern gerettet und in den Westen gebracht habe, damals. Ohne die Gisela hätten wir nicht überlebt, sagte meine Mutter immer. Und deshalb sahen ihr die Schwestern die langen Haare, das Per-Anhalter-Fahren und das lange Schlafen nach. Jedenfalls manchmal.

Tante Gisela trug Blumenkleider mit Volants und Gepunktetes und hohe ­Absätze, und ich liebte sie dafür, denn sie hatte so kleine Füße, dass mir ihre Schuhe schon als Kind passten. Wenn wir sie in Hamburg besuchten, lief ich morgens auf ihren Zwölf-Zentimeter-Absätzen zum Bäcker, um Brötchen zu holen. Als sich meine Tante das Wadenbein brach und ihr Fuß in Gips gelegt wurde, trug sie am anderen Fuß weiterhin ihren Stiletto mit Eisenabsatz.

Einmal fuhren wir mit Tante Gisela von Hamburg nach Helgoland, eine Reise, die auf mich größten Eindruck machte, weshalb ich den Namen des Schiffes bis heute nicht vergessen habe: „Wappen von Hamburg“. Die Schwestern machten sich mit engen Sommer­kostümen reisefertig, ich trug ein Sommerkleid und schämte mich wie immer meiner dünnen Beine.

Die Schiffsreise beeindruckte mich sehr – nicht nur wegen der Hilflosigkeit der Erwachsenen, die sich während des hohen Seegangs an alle möglichen Geländer klammerten und sich reihenweise in Papiertüten übergaben, sondern auch wegen des vor Helgoland üblichen Ausbootens: also die „Wappen von Hamburg“ aus schwindelerregender Höhe über schmale, schwankende Leitern zu verlassen und in ein kleines Boot umzusteigen, wofür die schlesischen Schwestern in ihren engen Kostümchen und Stöckelschuhen nur bedingt gerüstet waren.

Auf der Insel herrschte eine Windstärke, bei der wir uns kaum auf den Beinen halten konnten, weshalb sich das von meiner Tante mit Optimismus mitgeführte Federballspiel schnell als überflüssig erwies. Auch hatte Tante Gisela nicht bedacht, dass Helgoland in der Hauptsaison aus­gebucht sein könnte, weshalb wir nach stundenlangem Herumirren am Ende im Obdachlosenheim übernachten mussten. In Doppelstockbetten, die an Gefängnispritschen gemahnten. Starr vor Scham lag ich unter kratzigen, grauen Filzdecken und beschloss, niemandem von dieser Schmach zu erzählen. Aber am nächsten Tag fand ich am Strand Muscheln und Seesterne, was mich mit Helgoland wieder versöhnte. Die organisatorischen ­Defizite der Reise wurden meiner Tante jedoch noch Jahrzehnte später zur Last gelegt.

Tante Gisela war es auch, zu der ich meinen ersten längeren Ausflug mit meinem Jugendfreund machte: Ich war sechzehn, er achtzehn. Wir fuhren bei Tempo achtzig in einem NSU Prinz nach Hamburg, schliefen inmitten von Trockenblumensträußen, unverrückbaren Polster­möbeln, Porzellanpuppen, Keramikkatzen und Häkeldeckchen im Wohnzimmer meiner Tante und hatten Sex in der Badewanne. Und meine Tante tat so, als sei das gemeinsame Baden eine begrüßenswerte Maßnahme zur Wasserersparnis. Und selbst wenn mein Freund Tabakkrümel von seinen selbstgedrehten Zigaretten hinterließ oder ich auf unachtsame Weise die Jacke auszog, worauf ein Trockenblumenstrauß ein paar Blätter verlor, sagte meine Tante nur: Macht nichts. Obwohl Tante Giselas Erfolg bei den Männern ­legendär war, lebte sie mit keinem Mann zusammen. Sie interessierte sich weder für das Kochen noch für das Hemdenbügeln.

Sie bot nicht mehr als grüne Augen, schwarze Haare und Schwung beim Cha-Cha-Cha. Und die Männer wollten nichts anderes. Einmal sei meine Tante in Begleitung eines Mannes zu Besuch gekommen, aber der Mann, in dem ihre Schwestern bereits einen zukünftigen Verlobten sahen, stellte sich im Laufe des Abends ­lediglich als LKW-Fahrer heraus, der meine Tante ein Stück mitgenommen hatte.

Und meine Mutter erzählt noch heute, wie Tante Gisela während eines Spaziergangs vergeblich nach einem Papierkorb suchte, in den sie ihre leere Pommes-­Frites-Schale werfen konnte. Als sie an einer Polizeiwache vorbeikam, schritt Tante Gisela auf den Spitzen ihrer Pumps über den Rasen zu dem Polizisten, der am Fenster stand, und legte ihm die leere Pommes-­frites-Schale mit den Worten in die Hand: Herr Wachtmeister, können Sie mir das mal eben abnehmen? Und der Blödmann hat ihr das tatsächlich abgenommen! sagt meine Mutter, nicht ohne mitleidig hinzuzufügen: So sind eben die Männer!

Als ich erwachsen war, zog ich nach Hamburg, da war meine Tante gerade Rentnerin geworden. Sie trug zwar immer noch hohe Absätze und lange, lackschwarze Haare, aber die grenzenlose Freiheit ­ihres neuen Lebensabschnitts schien ihren Tatendrang zu lähmen. Sie verbrachte ihre Tage mit Kreuzworträtseln, Gobelinstickerei und noch ausgiebigerem Schlaf und ging nicht mal mehr tanzen. Ein schweres Krankheitsbild. Manchmal lud ich meine Tante ins Restaurant ein oder kochte etwas für sie, obwohl ich spürte, dass sie eigentlich nur aß, um mir einen Gefallen zu tun. Mehrmals fuhr Tante Gisela sogar mit ihren Schwestern in Urlaub, nach Spanien und nach Ischia, aber wenn gelegentlich etwas Unternehmungslust in ihr aufflackerte, sagten ihre Schwestern: Mit deinen nackten Brüsten gehen wir nicht in den Speisesaal! und zwangen meine Tante, ihr Dekolleté etwas zu verhüllen, was sie ­widerstrebend tat. Um sich kurz darauf mit einem im Speisesaal sitzenden Mann zu verabreden, ohne große Überzeugung, nur so, als kleine Aufwärmübung, um zu sehen, ob die Sache mit den Blicken noch funktionierte.

Dann zog ich von Hamburg nach Italien und telefonierte nur noch ab und zu mit meiner Tante. Monate vergingen, Jahre, und Tante Gisela trank roten Tee und hatte schon alle Schwestern mit ihren ­Gobelins beglückt, mit Vermeers Dienstmagd mit dem Milchkrug, mit Spitzwegs armem Poeten und den verregneten Landschaften niederländischer Meister, als sie alle noch einmal überraschte und ihre Vorbildrolle für mich festigte: Tante Gisela kam ohne Stickzeug, dafür aber mit einem Mann zu Besuch. Ein Mann, der kurz zuvor bei ihr eingezogen war, was zur Folge hatte, dass sie sich von ihren Trockenblumensträußen, Keramikkatzen und Porzellanpuppen getrennt hatte. Es war also durchaus etwas Ernstes. Da war Tante Gisela fast siebzig Jahre alt.

Der Mann, der das Wunder vollbracht hatte, hieß Fritz, war groß, charmant und elegant, ein Kavalier alter Schule, der aussah, als sei er allein für meine Tante geschaffen worden. Der mit ihr lachte und sie Giselchen nannte, der sie verehrte und beschenkte und mit ihr auf Reisen ging, zu den Pyramiden nach Ägypten, nach China, Andalusien, Sankt Petersburg und Moskau. Für Gobelinstickerei hatte meine Tante keine Zeit mehr, denn wenn sie nicht reiste, dann kochte sie. Einmal rief sie mich sogar an und fragte mich nach dem Rezept eines Gerichtes, das ich ihr hin und wieder gekocht hatte: Das mit den ­Suzukis und den Advocados, sagte sie.

Und wenn sie weder reisten noch kochten, dann schnitten Tante Gisela und Fritz ihre Videofilme, deren Markenzeichen die Stimme meiner Tante im Off war. Beim nächsten Besuch wurden die Dokumentationen vorgeführt. Man sah eine Pekingente („Das Schneiden am Tisch macht der Koch selbst“), die Chinesische Mauer („Der Aufstieg ist schwer. Gleich wird er sich umdrehen und zurückkommen. Fritz, Fri-hitz!“) oder einen Toilettenspülkasten in einem Hotelzimmer von Xian („Das ist ja eine ganz andere Welt für sich“). Außerdem: meine Tante auf einem ägyptischen Papierkorb vor den Pyramiden sitzend, meine Tante vor dem Winterpalast in Sankt Petersburg und die Füße von Fritz („Fritz, Fri-hitz! pass auf, da kommt eine Welle!“) am Strand von Mallorca versinkend.

Eines Tages besuchte mich Tante Gisela mit Fritz in Venedig. Sie kamen mit dem Motoscafo am Anleger nahe der ­Piazza San Marco an. Ich sah sie schon von weitem. Meine Tante trug ein enges schwarzes Kostüm mit weißen Punkten, eine weiße Rüschenbluse und einen weißen Hut. An ihrem Dekolleté zitterte eine rote Seidenrose. Die Absätze ihrer Sandaletten waren so hoch, dass sie sehr eindrucksvoll schwankte, sämtliche Männerarme reckten sich ihr entgegen, die der Wassertaxifahrer, der Bootsjungen und der ameri­kanischen Mitreisenden, und wenn die Gondolieri und Muranoglasschlepper auch noch auf die Brücke des Anlegers ­gepasst hätten, dann hätten sie ebenfalls versucht, meiner Tante beim Verlassen des Motoscafo behilflich zu sein. Dann löste sie sich aus den Armen von Fritz, der begeistert filmte, wie meine Tante über den Holzsteg balancierte und sich in die ihr entgegen gestreckten Männerarme warf. Da war meine Tante fast achtzig.

Sie sahen von Venedig nichts anderes als sich selbst. Tante Gisela trank Wein und erzählte die Geschichte ihrer ersten Begegnung wie die einer Wunderheilung. Sie hatten sich beim Ball der einsamen Herzen kennengelernt, Fritz trug einen weißen Anzug und hatte meine Tante zum Paso doble aufgefordert.

Noch eine Minute zuvor hatte meine Tante einen anderen Anwärter mit den Worten: „Mein Mann kommt gleich“ abgewiesen. Beim Blick in Fritz’ verschattete Augen jedoch war es um sie geschehen. Zuerst habe sie gedacht, dass er garantiert magen­krank sei. Aber es war Liebe.

Fast zwanzig Jahre lang haben Tante Gisela und Fritz zusammengelebt. Im vorletzten Jahr ist Fritz gestorben, mit 89 Jahren. Nach der Beerdigung, als die Verwandten beim Leichenschmaus saßen, ging meine Tante noch einmal zu seinem Grab, meine Cousine begleitete sie. Der Wind zerrte an den Chrysanthemen­gestecken und an der Kranzschleife, als meine Tante am Grab stand und sagte: Du warst die Liebe meines Lebens. Sie folgte ihm neun Monate später. Als sie starb, schien die Sonne.

 

Petra Reski
ist freie Journalistin und Buch­autorin; sie lebt in Venedig. Ihre Kindheitserinnerungen heißen: Meine Mutter und ich (List- Verlag). Im Juli erscheint: Bei aller Liebe (Hoffmann & Campe)

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