Sorgerecht: Mütter vor Gericht
Ein Alptraum, mit der Handykamera festgehalten: Gellende Schreie eines Kindes, Handgemenge, PolizistInnen, die einen etwa vierjährigen Jungen in einen Streifenwagen zwingen. Dazu die flehende Stimme der Mutter, die darum bittet, sich wenigstens von ihrem Kind verabschieden zu dürfen. „Gehen Sie weg von der Tür“, sagt ein Polizist.
Was wie eine Szene aus einem „Tatort“ aussieht, hat sich tatsächlich ereignet. An einem Februartag im Jahr 2020. Die Großeltern des Jungen haben die Szenen aufgenommen: Den Tag, an dem ihrer Tochter das Kind weggenommen wurde. Den Tag, an dem es gewaltsam zum Vater gebracht wurde, nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm.
Wie kann so etwas geschehen? Was hat Mutter Stefanie ihrem Kind angetan, dass sie, von Beruf Erzieherin, ihren Sohn ab jetzt nur alle zwei Wochen für drei Stunden sehen darf, und dies bis auf weiteres nur unter Aufsicht? Ein Sprecher des Gerichts begründet es so: Bei der Mutter lägen „erhebliche Defizite in der Erziehungseignung“ vor. Sie sei nicht in der Lage, die „Autonomieentwicklung des Kindes zu fördern.“ Sie habe „sehr viele Schwierigkeiten, dem Kind einen normalen Umgang mit dem Vater zu ermöglichen.“
Die Mutter habe "erhebliche Defizite in der Erziehungseignung", so das Gericht
Rückblende: Der Junge ist keine zwei Monate alt, als der Vater auszieht. Nach der Scheidung haben beide das Sorgerecht. Der Vater zeigt zunächst kaum Interesse am Kind. Die Mutter versorgt den Jungen weitgehend allein, unterstützt von ihren Eltern. Der Vater hat ein Umgangsrecht. Doch je älter der Junge wird, desto häufiger verweigert er die Besuche beim Vater. Dieser beantragt beim Familiengericht nun das alleinige Sorgerecht. Die Mutter blockiere die Beziehung zu seinem Sohn. Sie entfremde ihm das Kind durch gezielte Manipulation.
Ein vom Gericht bestelltes Gutachten bescheinigt der Mutter „Bindungsintoleranz“. Sie habe eine symbiotische Beziehung zu ihrem Kind und könne die Beziehung des Jungen zum Vater nicht ertragen, während er umgekehrt die Beziehung zwischen Mutter und Kind fördere.
Bis heute lebt der Junge beim Vater. Dass sich die Mutter inzwischen fünf Mal psychiatrisch begutachten ließ und schwarz auf weiß vorliegt, dass sie unter keiner psychischen Störung leidet, brachte ihr das Sorgerecht und ihren Sohn nicht zurück.
Die Vorwürfe, die Müttern von Jugendämtern und Gerichten gemacht werden, ähneln einander auffällig: „Eltern-Kind-Entfremdung“, „Bindungsintoleranz“, „Symbiose“ lauten die Schlagworte. Das noch immer in den Verfahren umhergeisternde „PAS“ (Parental Alienation Syndrome), mit dem der US-amerikanische Kinderpsychiater Richard A. Gardner in den 1980er Jahren die Blaupause für die Hassfigur einer manipulierenden, die Kinder gegen den Vater programmierenden Mutter schuf, ist wissenschaftlich unhaltbar, bleibt aber unter neuer Etikettierung wie „Bindungsintoleranz“ (ein Elternteil erträgt die Bindung des Kindes zum anderen Elternteil nicht) weiterhin im Werkzeugkasten von Jugendämtern und Gerichten.
Angereichert werden diese Begriffe nicht selten mit psychiatrischen Diagnosen: Münchhausen by proxy, Borderline, Depression. Ein Vokabular mit wissenschaftlichem Anstrich. In Wahrheit sind es jedoch Kampfbegriffe, die nahezu stereotyp gegen alleinerziehende Frauen eingesetzt werden. Mit gravierenden Folgen für Mütter und ihre Kinder und Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft.
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