Noch längst nicht alles gesagt

Petra Zahradka (links) und Katja Barthold über Ossis und Wessis. Foto: Annika Ross
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Petra Zahradka, von Beruf Feinmechanikerin und Betriebsrätin bei der Firma Jenoptik, ist aus Jena angereist; Katja Barthold, hauptberufliche Gewerkschafterin, aus Stuttgart, wo sie mit Mann und zwei kleinen Kindern, „um die sich ehrlich gesagt der Vater mehr kümmert als ich“, gerade hingezogen ist. Petra hat eine Tochter, die inzwischen erwachsen ist. Petra wurde in Gera geboren, Katja in Karl-­Marx-­Stadt, heute wieder Chemnitz.

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Petra, du warst 24, als die Mauer fiel, wie sah dein Leben vorher aus?
Petra Ich habe bei der VEB Carl-Zeiss-Jena gearbeitet, in der Rüstungsindustrie. Wir haben Zielvorrichtungen für Panzer hergestellt. Ich war zusammen mit einer Kollegin die einzige Frau in einer Männerbrigade. Die Jahre waren rückblickend die schönste Zeit in meinem Leben. Die Arbeit hat mir Spaß gemacht, ich hatte schon mit 19 eine Einraumwohnung bekommen, ich war angesehen in meinem Job. Es ging mir gut. Mein Vater, ein Sudetendeutscher, war Funker bei der Volkspolizei und überzeugter Kommunist, meine Mutter hatte einen Teilzeitjob. Ich hatte damals keine Zweifel an dem System. Ich persönlich habe keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Dann kam die Wende.
Petra Ich hatte eine kleine Tochter, meinen Beruf als Feinmechanikerin. Plötzlich war alles anders. Eine große Verunsicherung. Nach und nach wurde mir auch klar, welches Unrecht in der DDR geschehen ist. Das hat meinen Vater ganz krank gemacht, er hatte fest an eine sozialistische Gesellschaftsordnung geglaubt. Bis 1991 hatte ich noch Arbeit. Als ich dann aus dem Urlaub wiederkam, lag die Kündigung im Briefkasten. Unser Werk wurde eingestampft. All die Frauen, auch viele Männer natürlich, waren auf einmal arbeitslos. Besonders wir Frauen galten als schwer vermittelbar. Jetzt, wir waren Kranführerinnen, Fließbandarbeiterinnen, Mechanikerinnen, Ingenieurinnen, galt das als Männerjob. Im Westen hieß es: Ihr könnt das nicht! Und viele von uns hatten kleine Kinder. Das haben die neuen westdeutschen Chefs auch nicht verstanden. Die fanden: Eine Mutter kann nicht voll berufstätig sein.

Katja, du warst sieben beim Mauerfall. Wie war es für dich?
Katja Toll. Endlich eine Barbie! Mein Vater war Dreher, meine Mutter Kauffrau. Die hatten natürlich große Existenzängste. Ich aber habe schnell die Vorzüge des Westens kennengelernt. Mit 19 habe ich ein Au-Pair-Jahr in den USA gemacht, in Washington. Ich lebte dort eigentlich in einer privilegierten schwarzen Familie, aber ich habe schnell verstanden, wie entscheidend auch die Hautfarbe fürs Leben sein kann. Nach meinem Studium der Medien- und Politikwissenschaften habe ich zuerst als Journalistin gejobbt, habe mich seit 2008 in der
Gewerkschaft engagiert, 2013 bin ich hauptamtlich Gewerkschafterin geworden.

Und wie habt ihr später den Aufstieg der AfD erlebt?
Katja Das rechte Klima war schon lange vor der AfD da, die hat es dann nur organisiert. Es gibt im Osten einfach Orte, da fährt kein Bus mehr, die sterben nur noch ab. Nur die AfD kommt, macht Dorffeste, setzt sich für den Ort ein. Es gibt Menschen, die sind stramm rechts, die erreicht man nicht mehr. Aber die Mehrheit ist einfach nur wütend oder frustriert.
Petra Der Hauptgrund für den Erfolg der AfD ist die Flüchtlingspolitik. Viele Menschen im Osten haben Angst, dass sie schon wieder alles verlieren könnten. Denn es ist ihnen schon einmal passiert, bei der Wende. Alles, was du hattest: dein Besitz, dein Beruf, deine Bildung, deine Werte, deine Ziele – all das war plötzlich nichts mehr wert. Viele Familien sind auseinandergebrochen. Dieses Gefühl, diese Verlusterfahrung, diese Entwertung, die kennen viele westdeutsche Menschen nicht. Darüber wird nicht geredet.
Katja Meine Eltern zum Beispiel hatten Glück, sie haben schnell woanders Arbeit gefunden. Aber die Eltern meiner Klassenkameraden sind einfach nicht mehr aufgestanden. Die sind depressiv geworden. Dadurch haben Kinder dann auch die Eltern verloren, die sie kannten. Sowas sitzt tief.
Petra Und jetzt wütet auch noch Corona. Die Angst, wieder etwas zu verlieren – noch dazu etwas, das man sich mühsam wiederaufgebaut hat – die ist real. Ich finde, im Osten geht es nicht um Hass, es geht um Angst. Über Angst ließe sich reden. Es ist noch längst nicht alles gesagt.

Petra, du engagierst dich speziell für Frauen, warum?
Petra Es ist doch so, dass Frauen in der gleichen Position doppelt so gut sein müssen wie Männer. Das war in der DDR anders. Da gab es gute Frauenförderungsprogramme und Frauen in Führungspositionen. Wer was drauf hatte, wurde gefördert, unabhängig vom Geschlecht. Der Staat brauchte gute Köpfe. Der Schritt, sich zusammen zu schließen und Veränderungen solidarisch zu erstreiten, fällt heute sehr viel schwerer. Aber wenn wir nicht für uns kämpfen, wer dann?

Haben sich auch die Frauen im Osten nach der Wende geändert?
Katja Die Errungenschaften von früher, die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, die garantierte Betreuung der Kinder, die Unabhängigkeit der Frau vom Mann, das alles war plötzlich weg. Das hatte die Generation meiner Mutter geprägt. Der Verlust hat viel Selbstbewusstsein gekostet.
Petra Nach der Wende wurde einer gut ausgebildeten Frau, die Mitte 20 war wie ich, gesagt: ‚Du bist auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar‘. In den 90er Jahren arbeitete ich zwei Jahre als Leiharbeiterin in Bayern in verschiedenen Firmen. Einige Chefs konnten gar nicht glauben, dass eine Frau einen technischen Beruf hat. Ich dachte, ‚Mein Gott, wo bist du denn hier gelandet?‘ Wir Ostfrauen haben für die gleiche Arbeit deutlich weniger Gehalt bekommen als die Westfrauen. Diese Ungerechtigkeit ostdeutschen Frauen gegenüber gehörte zu meinen ersten Westerfahrungen.

Und was sind eure Erfahrungen mit Feministinnen?
Petra Ich bin ja quasi Neu-Feministin und engagiere mich in Jena im Frauenstreikbündnis und im Frauenausschuss der IG-Metall. Ich finde es gut, wenn Frauen zusammen was reißen wollen. Aber es ist nicht immer einfach. Manchmal finden Akademikerinnen und Arbeiterinnen schwer zueinander.
Katja Als Studentin war ich schnell bei den jungen Feministinnen. Die Lesekreise, die Workshops haben mir viel gebracht, aber ich habe gemerkt, dass wir da unter einer Glocke leben und uns selbst viele Regeln auferlegt haben, die uns nicht weiterbringen. Es gab Sprach- und Denkverbote. Oft galt ich als zu prollig, weil ich Dinge gern beim Namen nannte. Plötzlich hieß es in meinem Feministinnen-Kreis: Wir definieren uns nicht mehr als Mann oder als Frau. Ja, aber wir sind doch Frauen! Über diese ganzen Identitätsdebatten sind wir oft nicht hinausgekommen. Ich hatte neben dem Studium schon Gewerkschaftsarbeit gemacht und gemerkt, dass die studentische Welt der Feministinnen nicht viel mit der Realität und der Arbeiterklasse zu tun hat. Aber dieses Ausschlussprinzip, nach dem viele Jungfeministinnen funktionieren, bringt nur Frauen des Bildungsmilieus was. Andere werden bewusst oder unbewusst ausgeschlossen. Und diese Arroganz nervte mich und brachte uns politisch nicht weiter.

Ist das nun eine Klassen- oder eine Ost-West-Frage?
Katja Das ist schwer zu sagen. Die Ostkinder, die heute studieren, sind ja eigentlich Wessis. Aber aus meiner Erfahrung gibt es im Osten mehr AkademikerInnen mit Eltern, die ArbeiterInnen sind.
Petra Der Osten hatte ja traditionell keine ZweiKlassen-Gesellschaft, darum ging es ja gerade in unserem System. Es gab einen gewissen Arbeiterstolz. Arbeiter und Akademiker haben sich nicht als Gegensätze verstanden. Es gab keine Abwertung in die eine oder andere Richtung.

Wenn ihr euch heute mit Westfrauen in ähnlichen Lebenssituationen vergleicht, gibt es da Unterschiede?
Petra Mutterschaft wird anders bewertet. Im Westen ist Muttersein problematischer. Dieses Gefühl ‚Mein Kind wird betreut‘ hat uns Ostfrauen damals eine große Sicherheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit gegeben. Ich erlebe gerade in diesen Corona-Zeiten verstärkt, wie jungen Müttern Steine in den Weg gelegt werden. Sie müssen um Kita-Plätze kämpfen. Die Arbeitgeber bewegen sich null in Richtung Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Mütter werden in die Teilzeit gedrängt. Da war auch Westdeutschland schon einmal weiter. Die Retraditionalisierung der Geschlechterrollen, von der seit Corona allerorts die Rede ist, die habe ich schon vorher kommen sehen. Ich würde mir wünschen, dass die Geschichte des Ostens nicht vergessen wird. Selbst Ostkinder können mit dem Osten nichts mehr anfangen, lernen in der Schule nichts davon. Man muss aber die Geschichte verstehen, um die Gegenwart zu begreifen. Dann gibt es auch eine gute gemeinsame Zukunft.

Habt ihr vom Westen auch was gelernt?
Petra Früher war ich ein Mauerblümchen. Wenn man mich fünf Stunden in eine Ecke gestellt hätte, hätte man mich genauso dort wieder abholen können. Durch die Erfahrungen mit dem Westfeminismus würde ich heute in diese Ecke gar nicht erst reingehen. Ich bin stärker geworden. Für meinen Mann sogar zu stark. Wir haben uns scheiden lassen.
Katja Ich habe gelernt, mehr zu meinen Leistungen zu stehen. Mich zu trauen, dass ich das, was ich kann, auch laut sage und nicht still erwarte, dass es entdeckt wird.  

Das Interview führten Alice Schwarzer  und Annika Ross.

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