Paralympics: "Die Stärke rausholen!"

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Am Rande des Wettkampfbeckens sitzt Kirsten Bruhn entspannt in ihrem Rollstuhl und beobachtet das Geschehen bei den Deutschen Kurzbahnmeisterschaften der Handicap-Schwimmer. Sie freut sich auf den Wettkampf. Heute wird die 65-fache Deutsche Meisterin weitere Medaillen und Rekorde zu der langen Liste ihrer Erfolge hinzu­fügen – darunter zwei Welt- und fünf ­Europameistertitel, 54 Welt- und 64 Europarekorde. Doch was die erfolgreichste Paralympionikin von Peking 2008 (einmal Gold, einmal Silber und dreimal Bronze) wirklich motiviert, sind weder Rekorde noch Platzierungen, sondern die Steigerung ihrer persönlichen Bestzeit. Was in der Bahn neben ihr passiert, blendet die Leistungsschwimmerin aus, konzentriert sich ganz auf sich selbst, auf ihre innere Balance.

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Aus diesem Gleichgewicht wurde sie vor 21 Jahren im Sommerurlaub auf der griechischen Insel Kos gewaltsam herausgerissen. Ein unglücklicher Sturz als Sozia bei einem Motorradunfall zertrümmerte ihren ersten Lendenwirbel. Die niederschmetternde Dia­gnose: inkomplette Querschnittslähmung. Ihre Beine sind seither bis auf die vordere Oberschenkelmuskulatur gelähmt. „Ich fühlte mich damals weder als vollwertige Frau, noch als vollwertiger Mensch“, erinnert sie sich an die dunkle Zeit, aus der sie nur sehr schwer zurück ins Licht fand. Über zehn Jahre brauchte sie, um sich am Leben und auch am Leistungssport wieder freuen zu können.

In ihrer größten Not holte sie sich ­Unterstützung bei einem Mentaltrainer und trainierte – bevor sie sich an ihren Körper wagte – zunächst Seele und Geist. „Er holte mich 1995 zurück ins Leben. Er hat mir gezeigt, dass ich etwas wert bin.“ Mittlerweile gibt sie ihre Erfahrungen selber als Rednerin weiter, denn eins hat sie aus ihrem Handicap gelernt: „Die Stärken aus dem Potenzial zu holen, das man noch hat und eigene Wertschätzung zu entwickeln.“

Ein Schlüssel zu ihrem Erfolg liegt ­sicher auch im Rückhalt in ihrer Familie. „Ich bin in den Wassersport hineinge­boren“, erzählt die Tochter zweier Ex-­Leistungsschwimmer, die von Kindheit an vom Vater trainiert wurde. Nach Schule und Mittagessen ging es für sie immer mit den Eltern und den vier Geschwistern in die Schwimmhalle. Kirsten schwamm bereits mit zehn Jahren erfolgreich Wett­bewerbe. Natürlich hat sie auch mal was anderes ausprobiert, wie Squash oder Wasserball, aber sie kam immer wieder auf die Bahn zurück, dorthin, wo die Uhr läuft und die eigene Leistung klar messbar ist.

Die Leistung von Kirsten Bruhn ist messbar konstant: Mit 42 ist sie doppelt so alt wie die meisten Frauen in ihrem Kader, nur die spastisch gelähmte Schwimmerin Annke Conradi ist noch älter. „Wenn ich ein Role Model für Frauen bin, ist das schön“, sagt Kirsten Bruhn.

Zwischen den Geschlechtern gehe es bei den Paralympics fair und gerecht zu, sagt Bruhns sarkastisch: „Behinderte Frauen und Männer werden gleich schlecht gefördert.“ Die Schwimmerin arbeitet haupt­beruflich bis zu 30 Stunden die Woche als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Unfallkrankenhaus Berlin, um sich und ihren Sport zu finanzieren, durch Turniere und Training hat sie viele berufliche Ausfälle. Daher weiß sie genau, was sie nach dem Leistungssport machen will: ihre Berufskarriere vorantreiben.

2013 möchte sie noch die Weltmeisterschaft mitnehmen. „2014 will ich mich von der Nationalmannschaft verabschieden. Doch ich werde weiter plantschen.“
 

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