Deutschland ist in der Forschung noch am Anfang

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Im Dezember 2002 richteten das Deutsche Herzzentrum Berlin und die Charité in Kooperation den Lehrstuhl „Frauenspezifische Gesundheitsforschung mit Schwerpunkt Herz-Kreislauferkrankungen“ ein. Es ist der erste und bisher einzige Lehrstuhl an einer deutschen Universität, dessen Aufgabe es ist, ein bestimmtes medizinisches Feld im klinischen Bereich geschlechtsspezifisch zu untersuchen. Auf den Berliner Lehrstuhl berufen wurde die Kardiologin Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek.

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EMMA: Frau Prof. Regitz-Zagrosek, schlagen Frauenherzen wirklich anders?
Prof. Vera Regitz-Zagrosek: Ja, tatsächlich. Und zwar sowohl im sehr direkten als auch im übertragenen Sinn. Einige Eiweiße, die die Steuerung des Herzschlags übernehmen, sind bei Frauen zum Beispiel anders ausgeprägt als bei Männern. Und: Herzerkrankungen haben bei Frauen etwas andere Ursachen und Konsequenzen sowie diffusere Symptome. Natürlich haben Frauen auch die klassischen Brustschmerzen, aber häufiger Oberbauchschmerzen, Übelkeit und Schweißausbrüche. Und viel öfter als bei Männern strahlen die Schmerzen auch in den Kiefer oder die Schulterblätter aus.
Und diese Unterschiede sind vielen ÄrztInnen tatsächlich nicht bekannt?
Ja. Aber ganz wichtig ist auch die Erwartungshaltung. bei den Ärzten wie bei den Frauen: Wenn die Frauen Beschwerden haben, denken viele Ärzte zuerst nicht an Herz-Kreislauf-Erkrankungen – und übersehen sie. 70 % der Frauen gehen davon aus, dass die größte tödliche Gefahr für sie der Brustkrebs ist. Dabei ist das ein Herzinfarkt.
Was genau erforschen Sie?
Wir haben zum Beispiel gerade mit Hilfe von 20.000 Krankengeschichten des Deutschen Herzzentrums analysiert, ob der Verlauf nach bestimmten Herzoperationen bei Frauen und Männern unterschiedlich ist. Und das ist tatsächlich der Fall. Jetzt suchen wir nach den Ursachen dafür. Wir schauen auch nach den verschiedenen Verläufen von Herztransplantationen. Die werden bei Frauen seltener gemacht, verlaufen aber besser. Übrigens vermutlich deshalb, weil Frauen sich genauer an die Anweisungen der Ärzte halten. Außerdem untersuchen wir gerade, wie sich Östrogen auf Herz und Gefäße auswirkt, und was dort passiert, wenn die Östrogene in der Menopause weniger werden. Darüber weiß man nämlich bisher sehr wenig. Und ein weiterer Teil meiner Arbeit besteht darin, unsere Erkenntnisse in Fachzeitschriften und auf Kongressen publik zu machen, damit sie auch ihren Weg in die Arztpraxen finden. 
Hinkt Deutschland in Sachen geschlechtsspezifischer Gesundheitsforschung hinterher?  
Ganz sicher. In den USA gibt es zum Beispiel an allen größeren und renommierten Universitäten ganze Gruppen, die sich intensiv mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Frauen beschäftigen. Auch in Schweden am Karolinska-Institut sitzt eine sehr renommierte Gruppe, und auch in Großbritannien kenne ich gleich mehrere. Kürzlich hat uns eine Kollegin aus Japan besucht, die dort ein Frauen-Herzzentrum gründen möchte.
Wie kam es, dass Ihr Lehrstuhl im vergleichsweise rückständigen Deutschland eingerichtet wurde?   
Das Programm „Chancengleichheit von Frauen in Forschung und Lehre“ des Bildungsministeriums hat einen gaz wesentlichen Anstoß gegeben. Darin hatte Ministerin Bulmahn die Hochschulen aufgefordert, etwas in Sachen frauenspezifischer Gesundheitsforschung zu tun. Daraufhin haben sich die Frauenbeauftragten der Charité für eine Frauenforschungs-Professur stark gemacht, unterstützt vom Deutschen Ärztinnenbund. Der Lehrstuhl sollte aber nicht in den klassischen Frauenfächern wie Psychologie oder Gynäkologie angesiedelt werden, sondern in einem großen klinischen Fach, in dem man mit diesen Geschlechterunterschieden gar nicht so rechnet. Und dann kam hinzu, dass Professor Roland Hetzer, der Leiter des Deutschen Herzzentrums, ein sehr offenes Ohr für die Sache hatte. Er hat gesagt: „Wir haben immer gewusst, dass es bei den Herzkrankheiten große Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Dass die jetzt genauer erforscht werden, möchte ich unterstützen.“ Und so konnte dieser Lehrstuhl als Kooperation zwischen Charité und Deutschem Herzzentrum gegründet werden.
Müsste nicht eigentlich in jedem medizinischen Fach ein solcher Gender-Lehrstuhl eingerichtet werden?
Ich weiß nicht, ob man nun in jedem Fach an jeder Hochschule einen eigenen Lehrstuhl braucht. Aber es ist sicher so, dass zum Beispiel in anderen klinischen Fächern, also in der Inneren Medizin, in der Diabetologie, in der Rheumatologie ein ganz großer Forschungsbedarf besteht. Und natürlich auch in der Psychiatrie, wo es ganz wesentliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt.
Und wie stehen denn die Chancen auf Lehrstühle in diesen Fächern?
In der Sozialmedizin oder „Public Health“ gibt es schon welche. Im Bereich „Humanmedizin“ hat die Universität Göttingen jetzt einen Lehrstuhl ausgeschrieben. Und in Berlin versuchen wir gerade, ein interdisziplinäres Forschungszentrum für Geschlechterforschung in der Humanmedizin zu gründen.
Werden Ihre StudentInnen demnächst auch auf den Gender-Aspekt beim Herzinfarkt geprüft?
Der Lehrstuhl ist ja noch ganz neu. Aber wir wollen natürlich, dass unsere frauenspezifischen Aspekte unbedingt in die Pflicht-Seminare integriert werden. Letztendlich müssten die Gender-Fragen dann auch zentral für alle Medizinstudenten in Deutschland prüfungsrelevant sein. Aber so weit sind wir noch nicht. Dafür müssen wir das Fach ja erst mal lehren. Aber unsere Seminar sind gut besucht, die Diskussionen sehr rege. Die Hälfte der Teilnehmer sind übrigens Männer.
http://gender.charite.de/institut/

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