Hüller gegen Klischees

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Für ihre Rolle in 'Requiem' bekam sie den Silbernen Bären und die Goldene Lola. Doch davon lässt sie sich nicht ablenken.

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Wer Sandra Hüller in ihrer Rolle in Hans-Christian Schmids Film 'Requiem' sieht, als krankes, feines, missverstandenes und schließlich zu Tode exorziertes Mädchen aus der Provinz, der ist berührt, bestürzt und fühlt sich vielleicht an sich selbst erinnert. Wer sie auf der Berlinale sah, war hin- und hergerissen. Auf der Pressekonferenz hatte sie auch dann geschaut, wenn die Fotografen nach "Hans-Christian!!" riefen. Da, nur da, merkte man: Das macht die gerade zum ersten Mal. Abends hatte sie dann den Silbernen Bären entgegengenommen und dabei ungläubig und ein wenig linkisch gewirkt. Eine würdige kleine Rede gehalten. Und später für die Fotografen ihre Statuette geküsst: die Lippen rot, die Augen geschlossen, schwanenhalsig, divenhaft.
In Wahrheit sieht Sandra Hüller, 27 Jahre alt, wieder ganz anders aus, wie von Astrid Lindgren für einen Kinder-Ferienroman erfunden. Stupsnase. Grübchenlächeln, ihr Gesicht eine ungeschützte Fläche. Ihre Lippen sind dauergeschürzt, was sehr niedlich aussieht. Wie sie sitzt, wie sie geht, wie sie jemanden anspricht oder ihre Wasserflasche abstellt, all das hat etwas Unverstelltes, null Einstudiertes. Sie überlegt einen Moment, bevor sie spricht; sie will auf jeden Fall etwas Verbindliches, Gültiges sagen.
Man stellt sich vor, dass es nett ist, mit ihr in einer Küche zu sitzen, während eine Uhr tickt und ein Kessel summt und sie mit klarer Stimme dagegen anspricht. Man stellt sich vor, dass sie vernünftige Ratschläge gibt. Spürbar, dass sie viel nachgedacht hat über sich, das Leben, und dass sie sich die Kontinuität, den freien Blick, zurückerobert hat in ihrer unübersichtlichen, koketten, effekthascherischen Branche. Es fällt einem dann der ausgereizte Begriff "geerdet" ein. Da freut sie sich; nee, das sei doch überhaupt kein doofes Wort, sondern ein wunderschönes, weil es genau das beschreibt, was ihr wichtig sei: die Erde. Zur Bekräftigung hebt und senkt sie die Füße in den klobigen braunen Lederstiefeln.
'Requiem' ist Hüllers erster Spielfilm. Davor dachte sie, es müsse doch noch ein anderes Leben geben, parallel zu der relativen Verborgenheit von Theaterbühnen. "Ich dachte, Schauspielerei heißt irgendwann berühmt sein. Unter dem geht’s nicht." Jetzt kennt man sie, ihr Gesicht war in deutschen, englischen, chinesischen Zeitungen abgebildet. Aber ihr Leben ist immer noch dasselbe.
Dass sie Talent hat, weiß Hüller. Ihr wurde schnell viel zugetraut, und sie ist daran gewachsen. "Das Herz des vierstündigen Abends" nannte die Neue Zürcher Zeitung sie in der Kritik der Basler Inszenierung von 'Das goldene Vlies'. Und: "Schon fast überflüssig zu sagen, dass Sandra Hüller großartig ist", schreibt Theater heute über sie. Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin, Engagements in Jena und Basel, Nachwuchspreis von Theater heute, Bayerischer Filmpreis, Silberner Bär als beste Darstellerin: Stationen, die andere erst nach vielen Anläufen erreichen – wenn überhaupt. Bei Hüller kamen sie auf Anhieb.
Sie wuchs auf in Friedrichsroda, einem Luftkurort am Thüringer Wald. Geborgen war es da, erinnert sie sich. Irgendwann bekam sie dann Verständigungsschwierigkeiten mit den Leuten. "Ich hatte damals das Gefühl, die wollten nichts besprechen, immer nur Witze machen. Ich wollte einfach auch mal wissen, wie’s denen geht." Mit 18 zog sie mit ihrer besten Freundin nach Berlin. Um Schauspielerin zu werden. Die Adressen hatte sie sich beim Arbeitsamt besorgt. Klar, denkt man. Eine wie Hüller geht nicht ins Internet oder wird im Club von einem Castingagenten angesprochen; sie macht sich erst mal auf dem Amt kundig.
Sie habe sich in die Arbeit verbissen, sagt sie. Manchmal sei das sogar ihr einziger Halt gewesen. Und vor drei Jahren, seit ihrem Engagement in Basel, habe sie dann erkannt: "Es gibt gar kein paralleles Leben. Nicht der Ruhm. Die Menschen, die Arbeit, der Boden, auf dem ich stehe: Das ist es, das interessante Leben – und ich führe es ja längst."
Und dann wurde der Blick frei.
Nach einer Umbesetzung am Basler Theater sprang sie Ende Mai für eine Kollegin ein, in Anton Tschechows 'Drei Schwestern'. Die Verschnaufpause wird immer kürzer. Und zwischendurch tritt immer wieder der neue Mitspieler in Sandra Hüllers Leben auf, der Journalist. Er fragt: "Aber wie fühlt es sich denn nun an, Ihr neues Leben? Bleiben Sie beim Theater, drehen Sie weiter Filme, hat Hollywood denn schon angeklopft?" Klar: Der Journalist sucht nach Superlativen, für seinen Leser oder Zuschauer, der nach Zerstreuung sucht. Und schon wird man als Schauspieler weg von der Erde und ins Rennen in die Parallelumlaufbahn geschickt. In Pointen manövriert. Über den roten Teppich geschossen – wenn man nicht aufpasst. Aber Sandra Hüller passt genau auf – und hält inne. Deuschlands neues Superstarsensationstalent sucht gerade gar nichts. Egal, ob der Ruhm sie gefunden hat.
Am 12. Mai wurde in Berlin der Deutsche Filmpreis, die Lola, vergeben. Die Fotografen fotografierten die Schauspielschwestern Gerit und Anja Kling, die jemand, wie ein Journalist der Süddeutschen Zeitung schrieb, am roten Teppich festgeklebt zu haben schien. Sie fotografierten auch Jenny Elvers, die ihren Busen rot betont hatte. Und Ben Beckers bescheuerten weißen Hut.
Sandra Hüller, die einen Nadelstreifen-Anzug und ein unergründliches Lächeln trug, war in den Tagen darauf nicht zu sehen in der Bunten, der Gala oder der Bild. Obwohl sie es war, die die Goldene Lola an jenem Abend mit nach Hause genommen hatte. Ihren dritten, großen Filmpreis.

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