Schweizer Frauen-Streik spaltet

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"Tausende von Frauen. Überall! Ich konnte es fast nicht glauben. Mir kamen die Tränen.“ So beschreibt Christiane Brunner rückblickend den 14. Juni 1991. Es war der erste Frauenstreik in der Schweizer Geschichte. Brunner hatte den Streik initiiert.

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Ob die Frauen tatsächlich ihre Arbeit niederlegen würden, wusste die bekannte Politikerin und Gewerkschafterin nicht. Albträume plagten sie in der Nacht auf den Streik, ganz allein sah sie sich schon auf der Straße stehen. Doch die Frauen kamen, zu Tausenden. Der 14. Juni 1991 veränderte das Land.

Eine halbe Million Frauen war auf der Straße, es war magisch!

30 Jahre nach dem ersten Streik wurde 2019 zum zweiten Schweizer Frauenstreik aufgerufen. Was wurde im Vorfeld wieder gespottet. Gleichberechtigung sei doch längst erreicht, hieß es. Doch viele Schweizerinnen erlebten es in ihrem Alltag anders. Und so begannen Frauen im ganzen Land sich in unzähligen kleinen und größeren Komitees zu organisieren. Berufsgruppen wie etwa Pflegende, Gastronominnen, Fachfrauen Kinderbetreuung. Aber auch der Bäuerinnen- und Landfrauenverband, Mütter oder der Verband der Business- and Professional Women mobilisierten für den großen Tag. Jede Gruppe streikte auf ihre Art, dabei waren sie alle.

So geschah, was den 14. Juni magisch machte: Der simple Fakt eine Frau zu sein, einte über politische und weltanschauliche Differenzen hinweg. Eine halbe Million Frauen waren an diesem Tag auf der Straße. Diese Wucht euphorisierte die Schweizerinnen und überraschte die Schweizer. Bei den Wahlen im Herbst wurden so viel Frauen ins nationale Parlament gewählt wie nie zuvor.

Die Frauen in der Schweiz wissen um die Kraft des Streiks. Sie erleben auch, dass Gleichberechtigung noch immer nicht erreicht ist. Nun also der dritte Frauenstreik. Was diesmal anders ist? Der Streik wird nun „Feministischer Streik“ genannt. Und es heißt nicht mehr wie zuvor „Wenn Frau will, steht alles still“. Im nationalen Streikaufruf steht nun: „Wir alle rufen zu einem großen feministischen Streik 2023.“

Wer „wir“ ist, wird ebenfalls definiert: Es sind FLINTAS, also Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans, agender und queere Personen. Die Frauen des dritten Frauenstreik sind also Teil einer diversen Gruppe, die sich weniger übers Frausein definiert, sondern vielmehr über ihre subjektiv empfundene Identität und darüber, kein Cis-Mann zu sein.

Es sind vermutlich nicht nur die älteren Feministinnen, die das irritiert. Doch sind sie die Einzigen, die sich öffentlich dazu äußern. So sagte die 80-jährige Etiennette Verrey einer Journalistin am Rande der Auftaktveranstaltung zum Feministischen Streik 2023, dass ihr der Schutz von Transmenschen, Lesben und Schwulen wichtig sei und sie es gut finde, dass Tabus aufgebrochen würden. „Aber so wie die Diskussion derzeit geführt wird, gerät die große Mehrheit – nämlich die Frauen – etwas vergessen.“

Es sind auch jüngere kritische Stimmen zu hören. „Wenn ich nicht mal mehr sagen darf, dass es ein Frauenstreik ist, will ich nicht mehr mitmachen. Ich fühle mich nicht mehr willkommen. Es kann an jedem anderen Tag im Juni demonstriert werden. Aber am 14. Juni geht es um uns Frauen“, sagt eine 28-jährige Zürcherin.

Und das ließen sich auch in diesem Jahr viele Frauen - trotz allem - nicht nehmen. Rund 300.000 Frauen gingen landesweit auf die Straße. "Genug, basta, ça suffit!", riefen sie auf dem Bundesplatz in Zürich. Sie schworen den "feministischen Eid" und streckten dazu die linke Faust in die Luft. "Wir schwören, dass wir so lange für die Gleichstellung aller Menschen in diesem Land kämpfen werden, bis diese erreicht ist", hieß es unter anderem in der Schwurformel.

Die Dynamik von 2019 wollte sich einfach nicht einstellen

Danach wurden eine Reihe von Forderungen verabschiedet – gleicher Lohn für gleiche Arbeit verlangt und ein Gleichstellungsgesetz, das Verstöße bestraft. Auch brauche es Renten, die den Existenzbedarf deckten. Doch dem Frauenstreik vor vier Jahren, konnte die diesjährige Wiederholung in keinster Weise das Wasser reichen. "Die Dynamik von 2019 wollte sich einfach nicht einstellen, die Spaltung war deutlich zu spüren", sagten demonstrierende Frauen.

Die Streiks zuvor hatten direkte Auswirkungen auf die konkrete Politik gehabt. Wie 2019 ist auch dieses Jahr Wahljahr. Das im Herbst 2023 gewählte Parlament wird in den kommenden vier Jahren wegweisende Entscheidungen fällen – auch in der Schweizer Gleichstellungspolitik. Frau wird sehen.

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