Alice Schwarzer schreibt

Sexualität und Identität: Penetration

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Wenn es um die Vermeidung ungewollter Schwangerschaften geht, ist immer von Verhütung die Rede. Verhütung dank Pille und Pessar, dank Kondom, Sterilisation und ich-weiß-nicht-was-noch-alles. Von unserem armen Körper wollen wir da gar nicht reden. Kein Preis ist uns zu hoch für die Gewissheit, nicht ungewollt für die nächsten 20 Jahre Mutter sein zu müssen. Kein Verhütungsmittel ist ideal. Alle gehen auf Kosten der Frauen. Das sicherste Mittel, die Pille, bleibt uns heute nach dem ersten Enthusiasmus förmlich im Halse stecken! Gründe gibt es genug: Sie schadet unserer Gesundheit (Nebenwirkungen) und belastet unsere Psyche durch die selbstverständliche Erwartung vieler Männer, dass wir sie schlucken. Resultat: Wir haben sexuell verfügbarer zu sein, denn je zuvor.

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All das lohnt ein Nachdenken über die "Penetration" (das Wort kommt aus dem Französischen, bedeutet "Eindringen" und steht hier für all die unsäglichen Begriffe wie Beischlafen, Geschlechtsverkehr vollziehen, Koitieren, Bumsen etc.). Die Penetration ist nur eine Art für Mann und Frau, miteinander zu schlafen. Daneben gibt es viele andere Arten. Spätestens seit einem viertel Jahrhundert, seit dem Klassiker der Sexualforschung, dem Kinsey Report (und mindestens seit der "Sexuellen Reaktion" von Masters und Johnson und der "Potenz der Frau" von Mary Jane Sherfey) ist klar, dass der Koitus keineswegs unentbehrlich ist für den Orgasmus. Sherfey: "Die Klitoris ist das eigentliche Geschlechtsorgan und die Scheide dient nur der Fortpflanzung."

Was ist damit gemeint? Da muss ich sehr präzise werden, denn die Unwissenheit auf diesem Gebiet ist weit verbreitet. Die aufgesetzte Libertinage, die uns die sogenannte Sexwelle gebracht hat, hat Frauen kaum befreit, sondern oft noch mehr unterdrückt. Vorher hatten sie keine Lust und brauchten auch keine zu haben, heute haben sie immer noch keine Lust, müssen aber welche vorspielen. Nach ihren Bedürfnissen fragt niemand. Auch sie selbst nicht. (Prof. Bell fand 1974 in einer Untersuchung in den USA bei 2373 Frauen heraus, dass Frauen so "frigide" sind wie zu Zeiten des Kinsey-Reports, nur behaupten sie heute im Unterschied zu früher in "überwältigender Mehrheit", das sexuelle Zusammensein "nicht mehr als Pflicht zu empfinden, sondern Spaß daran zu haben").

Dass das stimmt, zeigen alle Untersuchungen, deutsche wie internationale. So fand die Amerikanerin Hite in ihrem Report heraus, dass fast alle Frauen bei der Selbstbefriedigung zum Orgasmus kommen - wobei zwei Drittel dieser Frauen beim sogenannten "normalen" Geschlechtsverkehr gleichzeitig frigide sind. Bei der Masturbation berühren sich die Frauen fast immer klitoral. Das heißt, sie wissen sehr wohl, was ihrem Körper gut tut. Im Umgang mit dem Partner aber sind sie eingeschüchtert und haben sich einreden lassen, dass es ohne Koitus nicht ginge maximal ein kleines Vorspiel und dann zur Sache ... Sie wagen weder, sich ihre Bedürfnisse einzugestehen, noch, sie einzubringen.

Frigidität ist vor allem das Resultat weiblicher Ohnmacht. Denn wer im Büro, auf der Straße und im Wohnzimmer unterlegen und sprachlos ist, der ist das auch im Schlafzimmer.

Frigidität ist aber auch das Resultat der Unkenntnis des weiblichen Körpers. Denn: in der Vagina spielt sich kaum etwas ab. Sie hat so viele Nerven wie ein Dickdarm, das heißt, fast keine. Zentrales sexuelles Organ der Frau ist die Klitoris. Sie, und nicht etwa die Scheide, ist das Gegenstück zum männlichen Penis. In ihr laufen die empfindlichsten Sexualnerven zusammen. Die Klitoris ist immer Ausgangspunkt des körperlichen Vorganges, den wir Orgasmus nennen.

Was - versteht sich - nicht heißt, dass Frauen das Penetrieren nun keinen Spaß machen darf. Wenn es so ist, um so besser. In diesem Fall ist wahrscheinlich der klitorale Bereich bis hin zum Scheideneingang in die Zärtlichkeit mit einbezogen, oder aber die psychische Erregung ist so groß, dass sich direkte Berührungen erübrigen. Von der reinen Penetration aber hat eine Frau im Normalfall nichts. Wie unempfindlich die Vagina ist, zeigt schon die Tatsache, dass wir Frauen beim Tragen eines Tampons ja auch nicht gerade in der permanenten Erregung sind ...

Auch bei Männern ist übrigens rein körperlich der Koitus nicht unentbehrlich. Der mechanische Vorgang der Reibung kann auf vielfältige Art und Weise hergestellt werden (manuell, oral etc.). Was bedeutet, dass wir uns die ganze Verhütungs-Debatte sparen könnten. Nicht, indem wir Enthaltsamkeit üben, sondern indem wir uns auf andere Liebespraktiken besinnen. Frauen und Männer, die keine Kinder haben wollen, müssen nicht koitieren. Es gibt da keinen "natürlichen" Zwang.

Man stelle sich vor: das ganze Grauen der ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen, die Nebenwirkungen der Pille und die Entzündung durch die Pessare alles wäre mit einem Schlag überflüssig! Warum konnten dann weder das Elend der Abtreibung noch die weibliche "Frigidität" dieses Dogma vom vaginalen Orgasmus erschüttern? Die Antwort ist nicht so einfach. Ich habe ein ganzes Buch darüber geschrieben ("Der kleine Unterschied und seine großen Folgen"), um die Gründe für diesen Aberwitz vom vaginalen Orgasmus darzulegen:

1. Der Koitus verdammt die Frau zur Passivität und ist so für Männer die unkomplizierteste und bequemste Sexualpraktik. Beine breit machen genügt.

2. Die psychologische Bedeutung dieses in sich gewaltsamen Aktes des Eindringens ist für Männer (und Frauen) sicherlich von Bedeutung. Bumsen - wie es so traurig treffend heißt als höchste Demonstration männlicher Herrschaft und weiblicher Unterordnung.

3. Nur der Mythos von der zentralen Bedeutung des Koitus sichert Männern das Sexmonopol über Frauen, macht sie unentbehrlich denn penetrieren können nur sie. Das ist der kleine Unterschied. Der "vaginale Orgasmus" ist eine Erfindung der Männergesellschaft.

In diesem Sexmonopol steckt so unendlich viel. Es bedeutet, dass wir emotional auf Männer angewiesen sind. Ob wir wollen oder nicht. Auch, dass wir uns Gefühl, Zärtlichkeit und Bestätigung durch Sex erkaufen müssen. Ob wir wollen oder nicht. Eine Erschütterung der zentralen Bedeutung des Koitus wüchse zur Lawine, die vieles, was für die Männergesellschaft heute bequem ist, mit sich reißen würde. Darum ist das so tabu.

Wir Frauen aber haben ein Interesse an der Infragestellung, wir haben nur zu gewinnen! Was auf gar keinen Fall heißen darf, dass wir von einer terrorisierenden Norm in die andere fallen! Denn: das theoretische Wissen um seinen Körper ist eins, das praktische Nachvollziehen ein anderes. Ich bin überzeugt, dass für die meisten Frauen sexuelle Befreiung als erstes Selbstbesinnung bedeutet. Besinnung auf das, was man selbst eigentlich will. Und das hieße sicherlich für viele zunächst einmal Verweigerung. Vielleicht auch für eine Zeitlang Asexualität. Und nicht schon wieder gleich Pflichterfüllung auf dem Exerzierplatz Lust.

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