Die sanfte Tigermutter

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Nach den ersten Seiten von „Die Mutter des Erfolgs“ regte sich in mir ein Verdacht. Wird hier gezielt provoziert? In wenigen Stichworten waren da schon die Affekte aufgerufen worden, die westliche Eltern in Rage bringen: Leistung, Ehrgeiz, Drill, Geigeüben, China, Abstieg und Aufstieg. Wie wir sie verabscheuen, diese Eislaufmuttis aus Fernost und von nebenan!

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Sollte ich der Autorin glauben, dass sie wirklich die Geschichte der Erziehung ihrer beiden Töchter erzählt oder gehe ich ihr auf den Leim mit meiner Empörung? Vielleicht waren es dann die Fotos, die beim Blättern diesen Verdacht zerstreut haben. Die Töchter als Kleinkinder und als junge Mädchen an ihren Musikinstrumenten, so kennt man sie aus den Privatschulen. Und beim Anblick der jüngeren Tochter, einem offensichtlich genuin musikalischen Kind, hörte ich – selbst in einer Musikerfamilie aufgewachsen – wie von fern ein schönes, fortgeschrittenes Geigenspiel.

Und während in Deutschland noch vor der Auslieferung des Buches das Entsetzen über die asiatische Abrichtung von Kindern aufbrandete, konnte ich das immer weniger mit diesem Buch in Verbindung bringen. Vielleicht hatte es bis dahin noch kaum ­jemand zuende gelesen? Um gleich mit diesem Ende zu beginnen: Amy Chua erzählt im letzten Kapitel, wie sie dieses Buch ­gemeinsam mit den Töchtern redigiert hat. Nach einem jahrelangen vehementen Beziehungskampf zwischen Mutter und Töchtern stellt sie die Frage an die Töchter: Wie wollen wir unsere Geschichte enden lassen? Und auch hier, wie so oft im Buch, kommen die beiden schlagfertig zu Wort und ist der Stolz der Mutter nicht zu überhören auf das unabhängige und treffsichere Urteil ihrer Töchter, auch wenn sie selbst dabei keine gute Figur macht.

Ist eine solche Reaktion chinesisch oder ist sie amerikanisch? Vielleicht eher letzteres, vor allem aber ist es der eindrucksvolle Höhepunkt einer aus vielen Perspektiven, psychologisch und kulturvergleichend, witzig erzählten persönlichen Geschichte.

Ein Erziehungsratgeber will das Buch nicht sein. Dazu haben es erst empörte LeserInnen werden lassen. Ein Erziehungsrat, so hieß es schadenfroh, der aber scheitert! Scheitert, wieso? Die jüngere Tochter rebelliert im Alter von 13 Jahren gegen die Solistenkarriere und den Druck, der vom Instrument und von der Mutter ausgeht. Ist die Mutter deshalb gescheitert? Da scheinen die LeserInnen erfolgsfixierter zu sein als die Autorin.

Doch es vergehen keine sechs Monate und die Tochter hat sich selbst die nächste anspruchsvolle Aufgabe gesucht. Tennis, mit Freude am Training, an Ausdauer, an Leistung, und diesmal ausdrücklich ohne jedes Coaching durch ihre Mutter. Wünschen wir uns nicht gerade das – ein Kind nimmt sich selbst Aufgaben vor, „anstrengungsbereit“?

Mit dieser Frage setzt das Buch ein. Amy Chua ist in der zweiten Einwandergenera­tion in Amerika aufgewachsen, zwischen Shopping Malls, Pyjama-Parties und Cola in Übergröße. Wie verhindern, dass ihre Kinder sich auf den Privilegien ausruhen, die die vorangegangene Generation erarbeitet hat? Eine Sorge, die bürgerliche Eltern umtreibt, seit es den sozialen Schonraum „Kindheit“ gibt. Wie, in Goethes Worten, wird das „von den Vätern Ererbte erworben, um es zu besitzen“? Künstliche Strenge und Sparsamkeit im Alltag, Müll runter tragen und knappes Taschengeld, das alles geht nicht tief genug.

Ein ideales Instrument, erkennt Amy Chua, wie schon viele bürgerliche Eltern vor ihr, ist ein anspruchsvolles Musikinstrument. Geige und Klavier tun zweierlei – sie verheißen Größe und Herrlichkeit, aber sie sind sperrig, lassen sich nicht rasch konsumieren, man muss sie sich übend erschließen. Dabei werden Fähigkeiten ausgebildet, die weit über das Handwerklich-Manuelle hinaus­gehen: Anstrengungsbereitschaft, Hingabe an eine Sache, Überwindung der eigenen ­Bequemlichkeit. Und dann gibt es immer wieder auch Momente des Glücks. Mühe wird belohnt! Das ist ja nicht nur ostasiatische Weisheit, sondern ebenso eine abendländische. Bei einem solchen Projekt kann sich ein Kind phasenweise erleben als Teil nicht nur seiner alltäglichen Kinderkultur, sondern auch der „Welt der Erwachsenen“.

Aber warum soll sich eine Mutter überhaupt die immense Mühe antun, ihre Kinder immer wieder auf diesen Weg zu bringen? Raubt sie ihren Kindern dabei nicht die Kindheit? Ist beharrliches Üben in Wahrheit nichts anderes als Drill? Kann man das nur überstehen, wenn man chinesische Eltern oder Großeltern hat? Rufen wir die Stichworte noch einmal auf.

Eislaufmutti. In das Bild der frustrierten Frau mittleren Alters, die ihre Kinder aus eigenem ungelebten Ehrgeiz antreibt, passt Amy Chua so gar nicht. Sie ist Professorin an einer angesehenen Universität, und sie hat neben der Erziehung ihrer Töchter zwei erfolgreiche Bücher zu politökonomischen Themen geschrieben. Vielleicht hat das ihre Stellung bei den Töchtern gestärkt – die beiden sahen aus dem Augenwinkel, wie es sich ihre Mutter mit ihrer Arbeit auch nicht leicht macht.

Aber vielleicht sollten wir auch das Klischee der Eislaufmutti überdenken. Alice Millers „Drama des begabten Kindes“ hat einigen Schaden angerichtet. Mütter, die ihre Energie für das Begabungspotenzial ihrer Kinder einsetzen, ernten seitdem scheele Blicke. Unangenehmer noch als der Verdacht der Anderen mag dabei der Selbstverdacht sein: Tue ich das wirklich für mein Kind oder doch nur für mich selbst? Amy Chua ist es offensiv angegangen. Den Gruppendruck der amerikanischen Freunde und Nachbarn, erklärt sie, habe sie einfach ignoriert.

Ehrgeiz. Ist es primitives Elternverhalten, die eigenen Kinder „nach vorn“ bringen zu wollen? Irgendwo steckt sie wohl in uns, die Tigermutter, die Löwenmutter, die Glucke. Wo sind die besten Futterplätze für den Nachwuchs? Diese Aufzuchtreflexe werden kulturell und sozial überformt, in westlichen Gesellschaften vielleicht stärker als in der chinesischen.

In den abendländischen Oberschichten wird Ehrgeiz verborgen als eine unfeine ­Eigenschaft. Motto: „Unsereinem fällt der Erfolg mühelos zu“. In den unteren Schichten verbietet man sich allzu viel Ehrgeiz. Dieses Risiko gehen wir nicht ein, wir schrauben die Erwartungen zurück, wir wollen uns und unser Kind nicht enttäuschen. Dazwischen ringen die Mittelschichtfamilien mit einerseits hohen Bildungserwartungen an ihr optimiertes Kind und andererseits dem Anspruch, die elter­liche Liebe nicht an den Erfolg des Kindes zu koppeln. Die Kinder sollen sich durchsetzen. Aber sozialverträglich!

Auch deshalb veranstalten wir Eltern die Pyjama-Partys und stiften Freundschaften und interessieren uns für die Kinder aus anderen Familien nicht nur als den Konkurrenten unserer Kinder. Mit solcher Freundschaftspflege hält sich Amy Chua nicht auf. Zwar erscheint sie in ihrer ­Erzählung nicht ständig nur als der „Exerzierfeldwebel“ ihrer Töchter. Es gibt da auch Passagen über Pflege und Fürsorge in der Familie, abseits von Leistung – die ­jüdische Schwiegermutter lebt die letzten Wochen vor ihrem Tod im Haus, und in der Sorge um die krebskranke Schwester geht Amy Chua auf Abstand zu ihrem ­obsessiven Erziehen. Aber Engagement ­außerhalb der eigenen Familie – das gerät nicht ins Blickfeld einer Tigermutter.

Leistung. Es ist der zentrale Vorwurf gegen „asiatischen Leistungsdrill“, dass die Leistung des Kindes gekoppelt wird an seine Selbstachtung. Leistung erscheint dabei als dem Kind durch Eltern und ­Pädagogen von außen aufgezwungene ­Zumu­tung. Aber wie könnten Erwachsene den Kindern je eine leistungsfreie Welt ­anbieten? Steckt nicht Leistung bereits in jedem Alltagsgegenstand, im Bügeleisen, im gedruckten Werbezettel nicht weniger als in der Geige? In den Dingen geronnene Leistung, hinterlassen von den Vorfahren. Jedes Kind wird in eine Welt von leistenden Menschen geboren. Morgens um sieben brummt es auf unseren Autobahnen. Kinder haben Antennen für die Leistung, die in der Luft liegt, leistungsfeindlich sind sie nicht von Natur aus, ihre Utopie ist nicht das Schlaraffenland.

Glück. Glücklich werden diese Kinder im späteren Leben nicht sein, behaupten die ­Rezensenten. Woher sie das wissen? Amy Chua jedenfalls scheint harmonische Beziehungen zu ihrer strengen Herkunftsfamilie zu haben, zu den alten Eltern und den drei anderen ebenfalls erfolgreichen Schwestern, darunter eine Schwester mit Down-Syndrom, die bei den Paralympics antritt. Aber, fragt Amy Chua, ist es überhaupt das wichtigste Ziel des Menschen, glücklich zu sein? Erziehungsgespräche sind immer auch Selbstgespräche von Erwachsenen, sind Vermutungen der Erwachsenen über die kindliche Natur, sind Setzungen der Erwachsenen. Woher wollen wir wissen, dass es die Hauptforderung des Kindes an die Welt ist, Spaß zu haben? Amy Chua unterstellt, dass ihre Kinder nicht im Freizeitpararadies ihr Glück finden, sondern in der Übung ihrer eigenen Kräfte: Tätig sein wollen, Widerstände überwinden lernen, auch wenn es schmerzt.

China. Mit den chinesischen Anteilen dieser Erzählung ist es keine eindeutige Sache. Chua betont selbst, wie dankbar sie ist für die amerikanische Freiheit der Wahl, die ihr unter anderem einen jüdischen Mann als Vater ihrer Kinder beschert hat. Wenn man von ihrem Verhalten auf die Erziehungs­praxis einer Milliarde Chinesen schließt, liegt man falsch. Doch gewiss hat das Tempo, mit dem dieses Buch im Westen rezipiert wird, und die Abwehr etwas zu tun mit der Angst vor den asiatischen Tiger-Ökonomien.

Drill oder Üben? Die Leistungsvorsprünge asiatischer Schüler, lange vor Pisa in ­ame­rikanisch-asiatischen Vergleichstudien der 1980er Jahre beobachtet, werden unter ­anderem auf das asiatische Verhältnis zum Üben zurückgeführt. Während westliche ­Pädagogen meinen, ihre Schüler nur durch immer wieder Neues bei der Stange halten zu können, setzen sich asiatische Pädagogen nicht unter diesen Originalitätsdruck. „Üben“ schreibt man in Japan mit den Zeichen für „vertraute Freunde wieder treffen“. Bei Amy Chua gibt es beides. Mechanisches Pauken und Drill, begleitet von Beziehungskampf und Geschrei, aber auch das differenzierte Üben, das in die Tiefe des musika­lischen Handwerks führt. Davon zeugen die Protokolle der Übungsstunden, von denen einige ins Buch aufgenommen wurden. Sie sind beklemmend in ihrer Detailversessenheit („pedantisch“), aber es ist auch eindrucksvoll, wie weit Mutter und Töchter, angeregt von den Meisterlehrern, sich in einzelne Werke vorgearbeitet haben. Gelassenheit in der Erziehung, propagiert der dänische Erziehungsratgeber Jesper Juul gerade wieder, und er ruft den Eltern zu: Macht euch locker! Gelassen war Amy Chua wohl nie. Für die Zukunft ihrer Töchter hat sie aber gut vorgesorgt: Wie die beiden es später mit ihren eigenen Kindern halten, dieses Buch wollen wir unbedingt lesen.

Die Autorin war Forscherin am "Deutschen Jugendinstitut", schrieb das "Weltwissen der Siebenjährigen" und "Die Dinge. Expeditionen zu den Gegenständen des täglichen Lebens" (Kunstmann).

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Amy Chua: "Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte". Übersetzung: Barbara Schaden (Nagel & Kimche, 19.90 Euro)

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