Die weise Latina

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Wenn Mildred Wirt Benson das noch erlebt hätte! Die Neue am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, Sonia Sotomayor, war als junges Mädchen Nancy-Drew-Fan. Als 1930 die ersten drei (von 23) Bände über die junge, unerschrockene Detektivin Nancy Drew veröffentlicht wurden, kämpften die Aktivistinnen der "New Women"-Bewegung für das Recht auf Bildung, Einkommen und für sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Autorin Benson war die erste Frau, die 1927 an der University von Iowa einen Mastertitel in Journalismus erwarb, und 59, als sie ihren Pilotenschein machte. Ihre Romanheldin, die schlaue, abenteuerlustige Nancy Drew, wurde zum Idol Millionen amerikanischer Mädchen – auch für Sonia Sotomayor.

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Nun wird die neue Richterin am höchsten amerikanischen Gericht selbst als Heldin gefeiert. Und zwar gleich doppelt. Nicht nur als Frau, sondern auch als Latina.
Mit Vereidigung der 55-Jährigen ging endlich der Wunsch der größten und am schnellsten wachsenden ethnischen Minderheit in den Vereinigten Staaten nach einem "hispanischen Sitz" am Obersten Gerichtshof in Erfüllung.

Es gibt kaum eine Entscheidung der amerikanischen Präsidenten, die potenziell längerfristige Folgen hat, als die Besetzung der Obersten Richter auf Lebenszeit. Deshalb haben Feministinnen massiv Lobbyarbeit dafür betrieben, dass Obama eine Frau nominiert. Sotomayor ist erst die dritte Supreme-Court-Richterin in der über 200-jährigen Geschichte des Obersten Gerichtshofs.

Durch ihren Aufstieg vom Kind armer Einwanderer aus Puerto Rico zur Studentin an den Eliteuniversitäten Princeton und Yale bis zur erfolgreichen Juristin, hat Sotomayor das Rechtssystem aus unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt. Bevor sie an den Supreme Court kam, war sie Staatsanwältin, Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht, Richterin für Zivil- und Strafverfahren und schließlich Bundesberufungsrichterin. Doch als Obama dann seine Kandidatin für den Supreme Court vorstellte, brach eine heftige, rassistisch wie sexistisch gefärbte Debatte los. Dabei haben die Konservativen nicht einen "ihrer" Sitze am Höchsten Gericht verloren. Die Juristin rückte auf den Platz von David Souter, ein moderater Richter vom linken Flügel. Auch beim heftig umstrittenen Dauerthema Abtreibung sind keine wesentlichen Änderungen zu erwarten. Zwar hatte es auf dem linken Flügel anfangs skeptische Fragen gegeben, weil sich in dem umfangreichen Dossier der Katholikin Sotomayor keine Urteile finden, die sie eindeutig als Befürworterin des Rechts auf Abtreibung ausweisen. Zufrieden vernahmen führende Frauenorganisationen dann jedoch, wie sich die geschiedene, kinderlose Richterin in ihrer Anhörung vor dem Kongress wiederholt zum Recht auf Abtreibung bekannte.

Paradoxerweise hatten die Anschuldigungen gegen Soto­mayor, die in dem Vorwurf des Rassismus gipfelten, mit ihrem allseits – und zwar auch von konservativen Kritikern – gepriesenem Aufstieg zu tun. In Reden hat die Juristin wiederholt über ihren Werdegang sowie über ihre Identität als Frau, Latina und Richterin gesprochen. Sie zitierte prominente Rechtsprofessorinnen wie Martha Minow von der Harvard-Universität, die über das Richteramt einmal sagte, "es gibt keine objektive Grundhaltung, nur verschiedene Perspektiven, keine Neutralität". Oder Yale-Professorin Judith Resnik, die einst bemerkte, "Richten ist die Ausübung von Macht". Aus diesen Zitaten wollten Sotomayors konservative Gegner ihr den Strick drehen, dass sie am Supreme Court die Agenda der politischen Linken vorantreiben werde, anstatt neutral nach dem Buchstaben des Gesetzes zu entscheiden.

Am meisten Aufruhr gab es jedoch wegen einer Bemerkung Sotomayors über "weise Latinas". 2001 hatte die Richterin in einem Vortrag, mit dem sie junge hispanische Juristinnen bestärken und beflügeln wollte, die Hoffnung geäußert, "dass eine weise Latina mit der Reichhaltigkeit ihrer Erfahrung öfter zu einem besseren Urteil gelangt als ein weißer Mann, der dieses Leben nicht gelebt hat". Wochenlang wurde in den Vereinigten Staaten über diesen Satz gestritten. Für konservative Politiker und Kommentatoren stand fest, dass Sotomayor einer feministisch-ethnisch geprägten Rechtsprechung das Wort rede.

Ihre Verteidiger reagierten dagegen wie die hispanische Philosophieprofessorin Linda Martín Alcoff. "Sotomayor hat einfach freimütig bekannt, was die meisten von uns sehr gut wissen", schrieb Alcoff. "Identität beeinflusst die Erfahrung, und Erfahrung macht einen Unterschied in unserer Beurteilung."

Sotomayor selbst hat sich dann bei ihrer Anhörung im Senat von dem "Wise-Latina"-Ausspruch distanziert. "Schlecht", sei die Bemerkung gewesen. Es sei der falsche Eindruck entstanden, sie meine, dass bestimmte Lebenserfahrungen zwangsläufig zu einem bestimmten Urteil führen müssten. Sotomayors verbaler Rückzug hat zahlreiche Amerikanerinnen hispanischer Herkunft allerdings nicht daran gehindert, den Satz mit trotzigem Stolz für sich zu reklamieren. Es gibt inzwischen T-Shirts und Tassen mit dem Aufdruck "Wise Latina" sowie etliche Facebook-Gruppen mit diesem Namen. Und die hispanisch-amerikanische ­Autorin Josefina Lopez, die die Vorlage für den Film "Echte Frauen haben Kurven" lieferte, jubelte: "Frauen wie ich denken sich jetzt, da Sonia Sotomayor am Supreme Court ist: 'Yeah, jetzt sind wir an der Reihe ... Wir sind nicht länger nur hier, um eure Putzfrauen zu sein.'"

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