§219a: Hänel übergibt Unterschriften

Kristina Hänel (Mitte) vor dem Reichstag bei der Übergabe ihrer Unterschriften. © change.org
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Der kalte Wind pfiff über den Platz vor dem Berliner Reichstag, als Kristina Hänel das Megafon ergriff. „Ich freue mich sehr, dass über 150.000 Unterschriften für meine Petition zusammengekommen sind und bedanke mich bei allen UnterstützerInnen. Jetzt ist es an der Politik, daraus etwas Gutes zu machen!“

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Das hat „die Politik“ offenbar tatsächlich vor. Jedenfalls waren etliche Politikerinnen gekommen, um die Unterschriften der Gießener Ärztin entgegenzunehmen: Katja Kipping und Cornelia Möhring von der Linken, Renate Künast und Ulle Schauws von den Grünen, Eva Högl von der SPD und schließlich sogar Katja Suding von der FDP. Nur Vertreterinnen der Union fehlten – trotz Einladung.

"Jetzt ist es an der Politik, etwas daraus zu machen"

Und es scheint so, als ob es – wie schon 1995 beim „Abtreibungs-Kompromiss“ – eine parteiübergreifende Initiative geben wird, um ein Gesetz abzuschaffen, das Frauen wie ÄrztInnen entmündigt: den § 219a. Laut dieses Gesetzes macht sich strafbar, wer „seines Vermögensvorteils wegen (...) Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (...) anbietet, ankündigt oder anpreist“.

Unter Berufung auf dieses Gesetz war Kristina Hänel – wie schon viele ihrer KollegInnen - mehrfach von so genannten „Lebensschützern“ angezeigt worden. Die Gießener Allgemeinärztin war am 24. November 2017 vom Gießener Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt worden. Ihr „Vergehen“: Sie hatte auf ihrer Website angegeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Per E-Mail konnte man sachliche Informationen über den Ablauf eines Abbruchs, seine gesetzlichen Voraussetzungen und seine Risiken anfordern.

Doch Hänel nahm weder Anklage noch Urteil hin und beschloss zu kämpfen. Sie startete auf Change.org eine Petition für die Abschaffung des Knebel-Paragrafen. Die Resonanz war enorm, die Medien berichteten bundesweit über Petition und Prozess. Die über 150.000 Unterschriften übergab Kristina Hänel heute vor dem Reichstag. Und offenbar kommt Bewegung in die Sache.

Schon vor dem Urteil des Gießener Amtsgerichts Ende November hatte Die Linke einen Gesetzentwurf für die Streichung des §219a vorgelegt. Jetzt, so erklärte Eva Högl, rechtspolitische Sprecherin der SPD, soll es eine fraktionsübergreifende Initiative geben, um das Gesetz abzuschaffen. Auch Ulle Schauws (Grüne) sprach sich für eine solche Initiative aus. Cornelia Möhring (Die Linke) erklärte: „Es kommt uns nicht darauf an, dass unser Entwurf durchkommt. Das Entscheidende ist, dass Frauen das Informationsrecht bekommen.“

Die Mehrheit für eine Abschaffung des §219a steht. Parteiübergreifend.

Auch Katja Suding (FDP) will den §219a streichen: Schließlich gebe es für ÄrztInnen bereits „berufsständische Regelungen, die ein offensives Werben für medizinische Dienstleistungen verbieten. Das ist ja bereits die Gesetzgebung“. Deshalb könne man „den Paragraphen auch entschärfen, aber klarer ist aus meiner Sicht, ihn einfach abzuschaffen“.

Die CDU spricht sich zwar klar gegen eine komplette Abschaffung des „Werbeverbots“ aus. Aber die Rechtspolitikerin Elisabeth Winkelmeier-Becker könnte sich dennoch eine Änderung des Gesetzes vorstellen, indem man „eine klarere Abgrenzung zwischen Werbung und Information“ vornehme.

Und auch vier Bundesländer stehen in den Startlöchern, um das Gesetz zu stoppen: Berlin, Bremen, Hamburg und Brandenburg und wollen rasch eine Bundesratsinitiative einbringen und so eine Debatte im Bundestag erzwingen.

Die Mehrheit für eine Abschaffung des §219a steht. Jetzt müssen die Parteien nur noch über ihren Schatten springen und das Informationsrecht der Frauen über ihr politisches Lagerdenken stellen. Dann könnte der §219a schon im ersten Quartal 2018 Vergangenheit sein.

 

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Abtreibung: Ärztin Hänel verurteilt!

Kristina Hänel (mitte)
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Als Richterin Maddalena Fouladfar ihr Urteil verkündete, drangen von draußen laute Buhrufe in den Gerichtssaal. In Sekundenschnelle war die Nachricht bis zu den rund hundert Menschen gedrungen, die nicht mehr in den zum Bersten vollen Saal gepasst und während der Verhandlung draußen weiter protestiert hatten.  Immer wieder waren ihre Sprechchöre durch das Fenster zu hören gewesen: „Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!“ Dass diese Entscheidungsfreiheit in größter Gefahr ist – diese Lektion wurde heute nicht nur der Ärztin Kristina Hänel erteilt, sondern allen FrauenärztInnen – und allen deutschen Frauen. 

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Bisher waren Anklagen dieser Art immer fallengelassen worden

Im Gerichtssaal selbst herrschte bedrücktes Schweigen, nachdem die Richterin erklärt hatte, dass sie dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen werde: Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wird zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 150 Euro, also insgesamt 6.000 Euro, verurteilt. Denn: Sie habe sich „schuldig gemacht, Werbung für den Abbruch von Schwangerschaften betrieben zu haben“.

Hat die Fachärztin für Allgemeinmedizin Litfasssäulen plakatiert oder TV-Spots mit „Abtreibungs-Werbung“ geschaltet? Aber nein. Ihr „Vergehen“ besteht darin, dass, so die Richterin, „Sie auf Ihrer Website über die verschiedenen Formen des Schwangerschaftsabbruchs informiert haben und angegeben haben, dass Sie selbst diese durchführen“. Das ist in Deutschland strafbar? Ja. Und seit heute wissen ÄrztInnen, die Abtreibungen vornehmen, dass sie dafür auch verurteilt werden können.

Laut §219a macht sich strafbar, wer „seines Vermögensvorteils wegen (...) Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (...) anbietet, ankündigt oder anpreist“. Vermögensvorteil. Meint: nicht umsonst. Es ist nicht das erste Mal, dass fanatische Abtreibungsgegner ÄrztInnen wg. §219a angezeigt hatten. Bisher hatten die Staatsanwaltschaften die Verfahren allerdings stets eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Gießen ist die erste, die Anklage erhoben hat. Offenbar wollte sie an Kristina Hänel ein Exempel statuieren.

Das gesellschaftliche Klima scheint – und nicht erst seit dem Einzug der AfD in den Bundestag - reif dafür. „Es gibt immer mehr Krankenhäuser, die Frauen Abbrüche verweigern. Und immer weniger Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Wenn man das tut, gerät man in eine Schmuddelecke“, hatte Kristina Hänel im EMMA-Interview erklärt. Ihre Petition auf change.org für die Abschaffung des Knebel-Gesetzes hat inzwischen 118.000 UnterzeichnerInnen.

Und so wurde also heute in Deutschland seit dem deutsch-deutschen „Abtreibungskompromiss“ von 1995 die erste Ärztin dafür verurteilt, dass sie nichts Anderes getan hat als Frauen darüber zu informieren, worin sich ein medikamentöser Abbruch von einem chirurgischen unterscheidet – und wer dafür die Kosten übernimmt.

Sowohl Richterin Fouladfar als auch Staatsanwalt Schneider ließen keinen Zweifel daran, worum es im Kern der Sache geht. „Der Gesetzgeber hat klar und unmissverständlich deutlich gemacht, dass er nicht will, dass über Schwangerschaftsabbrüche diskutiert wird, als wäre das eine ganz normale Sache“, erklärte die Richterin. Sie befürwortete, dass Frauen sich nicht eigenständig für eine Ärztin ihrer Wahl entscheiden dürfe. Die Weitergabe der Adressen von ÄrztInnen, die den Abbruch vornehmen, solle vielmehr über die staatlichen Beratungsstellen erfolgen.

Dabei offenbarte die Richterin in ihrer Urteilbegründung eine beklemmende Unkenntnis der bestehenden Rechtslage, die tief blicken lässt. So erklärte sie: Die Absicht des Gesetzgebers beim „Werbeverbot“ sei, dass „die Frau eben nicht sagen könne: Ich gehe jetzt zu der und der Ärztin und lasse das machen.“ Dass das gar nicht möglich ist, weil der Gesetzgeber vor diesen Gang eine Pflichtberatung gestellt hat, ist Richterin Fouladfar offenbar entgangen. „Wenn die Beratungsstellen meinen, dass im konkreten Fall der Schwangerschaftsabbruch durchzuführen ist, dann geben sie der Frau die Adressen“, fuhr die Juristin fort. Sie hat offenbar gar nicht begriffen – oder nicht begreifen wollen -, dass Beratungsstellen beraten sollen. Mehr nicht. Die Entscheidung über den Abbruch dürfen sogar im restriktiven Deutschland noch immer die ungewollt schwangeren Frauen treffen. Die Beratungsstellen sind sogar verpflichtet, „ergebnisoffen“ zu beraten.

Immer mehr Krankenhäuser verweigern die Abbrüche

Dass die Richterin ihr Urteil auf Basis solcher Fehlannahmen gefällt hat, ist skandalös. Genauso skandalös wie das Plädoyer des jungen Staatsanwalts Schneider, wenn auch nicht rechtswidrig. „Schwangerschaftsabbrüche sind laut Gesetz verboten“, erklärte er. „Erst im zweiten Absatz folgen die Ausnahmen von diesem Verbot.“ Stimmt. Auf der Basis des absurden und entmündigenden „Kompromisses“ von 1995 basiert die Anklage: Schwangerschaftsabbrüche sind seither „rechtswidrig“, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei. Wäre das anders, „könnten Abtreibungen ja jederzeit durchgeführt werden“. Gott bewahre!

Die Tatsache, dass Kristina Hänel in ganz Gießen die einzige(!) Ärztin ist, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, wertete der Staatsanwalt keineswegs als Ausdruck des zunehmend restriktiven gesellschaftlichen Klimas. Vielmehr entstehe der Ärztin, wenn ihr die „offensive Werbung“ auch noch gestattet sei, ein „nicht unerheblicher Wettbewerbsvorteil“. Über einen solchen Zynismus konnten die rund 80 ZuschauerInnen im Gerichtssaal nur laut aufstöhnen.

Unter solchen Bedingungen hatte die Forderung von Verteidigerin Prof. Monika Frommel keine Chance: Die emeritierte Rechtsprofessorin hatte entweder einen Freispruch verlangt – oder, dass das Gericht den §219a dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Frommel geht davon aus, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. „Die Frau hat seit 1995 die Entscheidungsfreiheit“, erklärte sie. „Und Entscheidungsfreiheit bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte rechtmäßig handeln, wenn sie Abbrüche vornehmen.“ Folglich verstoße der §219a, der im übrigen von den Nationalsozialisten eingeführt worden sei, gegen die Informationsfreiheit der Frauen und gegen die Berufsfreiheit der ÄrztInnen. „Durch fehlende Informationen“, sagte Frommel, „ist noch kein einziges Leben geschützt worden“.

Durch fehlende Informationen ist noch kein Leben geschützt worden.

Entsprechend harsch fiel ihr Urteil über das skandalöse Urteil aus. „Ein solches Denken erwarte ich in der Türkei, im Iran oder in Saudi-Arabien“, erklärte sie dem ReporterInnen-Pulk, der vor dem Gerichtssaal die Mikrofone auf die Anwältin richtete. Ein „Abgrund rechtlicher Unkenntnis“ habe sich hier offenbart. Selbstverständlich werde man in Revision gehen.

Schon vor dem Prozess hatte Kristina Hänel erklärt, dass sie zur Not durch alle Instanzen klagen werde. Und die Gießener Ärztin, Mutter von zwei Kindern und Großmutter von fünf Enkelkindern, ist nicht mehr die einzige, die sich wehrt. 70 Kolleginnen und Kollegen hatten sich schon vor dem Prozess via Appell mit Kristina Hänel solidarisiert. Mindestens zwei von ihnen werden demnächst ebenfalls vor einem deutschen Gericht stehen: Die Kasseler Gynäkologin Nora Szász und ihre Kollegin Natscha Nicklaus gehören ebenfalls zu den ÄrztInnen, die von dem fanatischen Abtreibungsgegner Günter Annen und seiner Initiative „Nie wieder!“ angezeigt wurden. Auch sie haben sich, wie Kristina Hänel, geweigert, die Information, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, von ihrer Website zu löschen. Auch ihnen steht ein Prozess bevor.

Aber die Frauenärztin Szász will sich vom Gießener Urteil nicht entmutigen lassen. Sie will kämpfen. „Es geht nicht, dass es für Frauen immer schwieriger wird, sich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren“ sagt die Ärztin. „Das führt nicht dazu, dass es weniger Abtreibungen gibt, sondern dazu, dass ungewollt schwangere Frauen immer später zu uns kommen.“

Vielleicht kommt die Politik der Justiz ja zuvor: Aufgerüttelt durch den Fall Hänel hat Die Linke gerade einen Gesetzentwurf vorgelegt, den § 219a zu streichen. Womöglich könnten die Parteien im Bundestag das momentane Machtvakuum nutzen und das entmündigende Gesetz kurzerhand abschaffen. Eine Mehrheit dafür gäbe es, denn bis auf Union und AfD sind alle dafür.

Was aus dem §219a wird, wird sich also nicht in Gießen, sondern in Berlin oder Karlsruhe entscheiden. Eins ist aber nicht erst seit dem heutigen Urteil klar: In Deutschland ist das Recht auf Abtreibung keineswegs gesichert. Der Backlash ist in vollem Gange.

Chantal Louis

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