"Trans-Kinder": Ein Medizin-Skandal?

Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte: Entsetzt von der neuen Leitlinie.
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Das Selbstbestimmungsgesetz wurde gerade verabschiedet. Angeblich hat das Gesetz nichts mit medizinischen Maßnahmen zu tun. Stimmt das?
Was stimmt, ist: Im Gesetz ist nur die juristische Transition geregelt, nicht die medizinische. Aber: Dass viele Kinder und Jugendliche, denen der Staat mit dem neuen Gesetz suggeriert, dass man sich sein Geschlecht einfach aussuchen könne, dann auch auf Hormonbehandlungen und Operationen drängen, liegt auf der Hand. Nach unserer klinischen Erfahrung steigt mit der einmal vollzogenen Personenstands- und Vornamensänderung die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass der oder die Betroffene sich gedrängt fühlen wird, in der Folge auch medizinische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung einzufordern. Die verantwortlichen Politiker übersehen einen entscheidenden Punkt: Die normative Kraft des Faktischen!

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Was ist neu an den Leitlinien zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie?
Zunächst ist befremdlich, dass diese Leitlinien eine Präambel haben. Das gibt es normalerweise nur am Anfang einer Verfassung oder einem Völkerrechts-Vertrag. Das zeigt: Das Ganze ist hochgradig politisiert und ideologisch aufgeladen. Ein ursprünglich medizinisches Problem wird zu einem politischen Streitgegenstand. Bezeichnenderweise ist zum Beispiel nicht mehr von „Patienten“ die Rede, sondern von „Behandlungssuchenden“. Man möchte ja entpathologisieren. Aber „Behandlungssuchende“ ist kein Begriff aus unserem Sozialrecht, denn nur „Patienten“, also Menschen mit klinisch relevantem Leidensdruck und einer krankheitswertigen Störung haben das Recht darauf, dass die Kosten für ihre Behandlung von den Krankenkassen, also von der Solidargemeinschaft übernommen werden. Dieses Vokabular, das dem Wortschatz der Transgender-Ideologie entstammt, ist sehr entlarvend.

Es wurden auch andere Begriffe der Transaktivisten übernommen wie das „bei der Geburt zugewiesene Geschlecht“.
So ist es. Grundsätzlich verfolgen die neuen Leitlinien einen transaffirmativen Ansatz. Das ist ein großer Unterschied zu früheren Behandlungsempfehlungen. Bisher war die oberste Maxime immer die ausgangsoffene Begleitung. Aber jetzt gibt es einen Kurswechsel: Man verlegt sich darauf, den Transitionswunsch gar nicht mehr zu hinterfragen.

Was genau wird sich durch diese Leitlinien verändern?
In der alten Leitlinie aus dem Jahr 2013 war die Option der Pubertätsunterdrückung mit Pubertätsblockern lediglich erwähnt worden und versehen mit dem Kommentar, dass es darüber unter Experten noch eine anhaltende Kontroverse gibt.

Diese Kontroverse hat sich ja eher verschärft. Immer mehr Länder wie Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark und zuletzt England, haben die Behandlung von Kindern mit Pubertätsblockern außerhalb klinischer Studien verboten. Grund: Es fehlt an Daten und man kennt die langfristigen Auswirkungen der Medikamente nicht.
Ja, in diesen Ländern ist das Pendel längst in die andere Richtung ausgeschlagen. Trotzdem hält Deutschland an der Behandlung von geschlechtsdysphorischen Kindern mit Pubertätsblockern fest und, mehr noch: Es gibt mit diesen neuen Leitlinien erstmalig Behandlungsempfehlungen, die diese Vorgehensweise zur normalen Behandlungsoption machen. Und wer das kritisiert, wird in die rechte Ecke gestellt. In den Leitlinien heißt es wahrheitswidrig, ein Verbot von Pubertätsblockern werde in Deutschland nur von der AfD gefordert. Auch wenn ich die Ablehnung der AfD teile – diese Art von Politisierung gehört nicht in eine medizinische Leitlinie.

Wie steht es mit den Altersgrenzen für Hormonbehandlungen und Operationen?
Es werden keinerlei Altersgrenzen mehr definiert. Das war in der alten Leitlinie durchaus noch der Fall. Zwar waren die Formulierungen nicht verbindlich, aber immerhin stand dort noch, dass die Behandlung von Jugendlichen mit gegengeschlechtlichen Hormonen „in der Regel nicht vor dem 16. Lebensjahr“ erfolgen sollte. Und immerhin wurde empfohlen, dass irreversible geschlechtsangleichende Operationen nicht vor dem 18. Lebensjahr durchgeführt werden sollten. Entscheidungsrelevant sollte dabei das Entwicklungsalter sein, nicht das chronologische – und es wurde betont, dass ein Großteil der Jugendlichen auch im Alter von 16 noch mitten im Prozess der Identitätsfindung ist. Diese Altersgrenzen sind nun gänzlich gefallen. Das heißt, es gibt keine Grenzen mehr für nichts! Weder für eine Pubertätsblockade, noch für gegengeschlechtliche Hormone, noch für Mastektomien oder genitalchirurgische Eingriffe.

Wie kann das sein?
Die Kommission hat sich voll und ganz an der „World Professional Association for Trangender Health“ orientiert. Die WPATH hat vor kurzem eine neue Version ihrer „Standards of Care“ herausgegeben, in denen es ebenfalls keine Altersgrenzen mehr gibt. Für die Leitlinienkommission waren diese Standards das Maß aller Dinge. Dabei hat die ehemals renommierte WPATH, die 1979 gegründet wurde, mittlerweile deutlich an Ansehen eingebüßt. Von anderen Ländern wird sie nicht mehr als wissenschaftliche Organisation anerkannt. Schweden zum Beispiel hat erklärt, dass es die WPATH nicht mehr als wissenschaftliche, sondern als transaktivistische Lobbyorganisation einstuft.

Gerade erst hat es um die WPATH einen Enthüllungs-Skandal gegeben.
Ja. Dabei war das, was dabei herausgekommen ist, für mich gar nicht so überraschend. Es sind interne Mailwechsel öffentlich geworden, in denen sich Mitglieder der WPATH über ihre Patienten austauschen. Dabei wird klar, dass sie Indikationen gestellt haben in Fällen, in denen das medizinisch und ethisch hochgradig fragwürdig war. Sie haben sich offen dazu bekannt, dass sie niemals einen Transitionswunsch hinterfragen, nicht mal bei Patienten mit Schizophrenie oder solchen mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Und es wird deutlich, dass sie genau wissen, dass Pubertätsblocker Unfruchtbarkeit zur Folge haben können, dass aber die behandelten Kinder gar nicht erfassen können, was das für ihr Leben bedeutet. Dabei wird ja immer behauptet, die Behandlungsgrundlage sei der sogenannte „informed consent“, also die informierte Einwilligung. Hier haben die Behandler nun selbst gesagt, dass Kinder und Jugendliche nicht in der Lage sind, die Bedeutung, Tragweite und Folgen einer solchen Entscheidung überblicken zu können. Mädchen in diesem Alter haben zum Beispiel häufig noch keinen Orgasmus gehabt. Wenn man sie nun darüber aufklärt, dass eine Folge von Pubertätsblockern der dauerhafte Verlust der sexuellen Erregbarkeit sein könnte, dann fällt diese Information ins affektive Nichts. Sie wissen gar nicht, wovon die Rede ist. Was also der WPATH-Skandal offenbart hat: Sie behandeln alle, die nicht bei drei auf den Bäumen sind. Und sie wissen um die Risiken und tun es trotzdem. Das Medienecho in den englischsprachigen Ländern war enorm, weil man zurecht schockiert über diese unethischen Praktiken war.

In Deutschland wurde kaum darüber berichtet.
Genau. Und die Leitlinien-Kommission orientiert sich trotz des Skandals an den „Standards of Care“ dieser fragwürdigen Vereinigung und tut so, als ob deren Standards klinische Leitlinien wären. Dabei sind sie eine willkürliche und ideologisch motivierte Zusammenstellung von vermeintlichen Belegen dafür, dass die Behandlung für die Patienten angeblich mit Vorteilen verbunden ist. Und ich möchte nochmal daran erinnern: In den „Standards of Care“ wird gefordert, zukünftig auch die Selbstkategorisierung als Eunuche, also Männer, die sich auf eigenen Wunsch kastrieren lassen, als eigene Geschlechtsidentität anzuerkennen.

Ein Autor der deutschen Leitlinien erklärt bemerkenswert offen, dass die Datenlage zu Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie „schwierig“ sei. Die Fälle würden nicht systematisch erfasst, weshalb man auch nicht wirklich wisse, wie es „diesen Menschen im weiteren Leben ergeht“. Und auf dieser Basis behandelt man Kinder und Jugendliche mit Hormonen und erlaubt Genital-OPs?
Der Nutzen dieser Behandlungen ist in der Tat nicht wissenschaftlich belegt. Das hat unlängst eine weitere, nun auch von deutschen Wissenschaftlern durchgeführte systematische Auswertung der wissenschaftlichen Datenlage erwiesen. Die Metaanalyse von den Kollegen Zepf, Banaschewski, Roessner und Holtmann knüpft damit an frühere Übersichtsarbeiten, etwa die englischen NICE-Guidelines aus dem Jahr 2020 an. Gleichzeitig mehren sich die Hinweise auf schädliche Nebenwirkungen der Medikamente und deren Langzeitfolgen. 

Weil die Datenlage so schlecht ist, musste die Leitlinie herabgestuft werden. Sie sollte ursprünglich auf medizinischer Evidenz basieren, jetzt ist sie nur noch „konsensorientiert“, das heißt: Die Beteiligten konnten sich auf die Empfehlungen einigen.
Ich habe immer gesagt: Es ist völlig abwegig, eine S3-Leitlinie erstellen zu wollen. Wir kennen doch alle die Studienlage und wissen deshalb, dass es eine evidenzbasierte Datenlage nicht gibt. Deshalb können wir auch nicht zu evidenzbasierten Leitlinien kommen.

Was sagen die Leitlinien dazu, dass Geschlechtsdysphorie häufig mit Depressionen, Angststörungen oder Autismus zusammen auftritt?
Bislang war es gängige Lehrmeinung, dass erhebliche psychiatrische Komorbidität ein Ausschlusskriterium sein kann für die Einleitung körperverändernder Maßnahmen.

Das heißt, wenn zum Beispiel eine Angststörung oder eine Essstörung vorliegt, würde man zunächst nach den Ursachen für diese Erkrankungen suchen und schauen, ob der Transitionswunsch womöglich ein Ausweg daraus sein soll?
Genau. Die neuen Leitlinien vertreten aber die Auffassung, dass diese psychischen Erkrankungen nicht Grund oder Auslöser für den Transitionswunsch sind, sondern die Folge der Diskriminierung, die die Betroffenen aufgrund ihres Transseins erfahren. Deshalb sei keine dieser psychischen Erkrankungen mehr als Kontraindikation zu betrachten, sie schließen also eine Transition nicht aus. Und das zeugt von einem gänzlich fehlenden Verständnis für Entwicklungsprozesse im Jugendalter, besonders bei pubertierenden Mädchen. Natürlich ist die Geschlechtsdysphorie oft auch ein Symptom. Zum Beispiel beobachten wir ja deutlich häufiger als früher, dass Mädchen, deren eigentliches Problem eine Essstörung oder ein Überforderungserleben infolge der körperlichen Veränderungen der Pubertät ist, jetzt zunehmend davon überzeugt sind, sie seien „trans“. Davon können die Kollegen in spezialisierten Essstörungs-Kliniken ein Lied singen. Die berichten, dass inzwischen ein Großteil der Patientinnen mit dem Trans-Thema um die Ecke kommen. Und bekanntlich kann das Unbehagen im eigenen Geschlecht und die Ablehnung des eigenen Körpers auch Folge einer sexuellen Traumatisierung sein – auch hier ist die Geschlechtsdysphorie also ein Symptom!

Alice Schwarzer/Chantal Louis (Hrsg.): Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? (KiWi) - www.emma.de/shop
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Umso erstaunlicher, dass die Leitlinien eine Psychotherapie als Behandlungsmethode nicht mehr vorsehen. Die Mitautorin der Leitlinien und Vizepräsidentin der Psychotherapeutenkammer, Sabine Maur, behauptete bei der Vorstellung der Leitlinien, Geschlechtsdysphorie sei schließlich „keine psychische Erkrankung“. Deshalb müsse man die Kinder und Jugendlichen in ihrer gefühlten „geschlechtlichen Identität“ bestärken, alles andere sei „unethisch“.
Das zeugt von einem mangelnden entwicklungspsychologischen Verständnis, ist Ausdruck eines essentialistischen Denkens und entspringt der Transideologie mit ihrem Konstrukt, dass man seine Geschlechtsidentität in die Wiege gelegt bekommt. Dass sie also etwas Angeborenes ist und nicht das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Und Frau Maur baut hier das Einschüchterungs-Szenario auf, das wir mit dem Gesetz gegen Konversionstherapien ohnehin schon haben. Damit kann ein therapeutisches Hinterfragen der vermeintlichen Geschlechtsidentität ja inzwischen sogar strafrechtlich verfolgt werden. In den alten Leitlinien wurde eine mindestens einjährige psychotherapeutisch fachkundige Alltagserprobung empfohlen. Jetzt kann es im Extremfall passieren, dass körperverändernde Maßnahmen ohne eine einzige Therapiestunde eingeleitet werden.

Wie kann es sein, dass die Kommission all diese Gefahren ignoriert hat?
Die Mehrheitsverhältnisse in der Kommission waren von Anfang an eindeutig und sie war von Anfang an unterwandert durch Transaktivisten. Die Position, die dort vertreten wurde, ist eigentlich unvereinbar mit der Auffassung, die die meisten klinisch tätigen Kinder- und Jugendpsychiater, -therapeuten und Kinderärzte haben. Ich habe mehrfach vergeblich gefordert, dass die Kommission und der Kreis der Diskursbeteiligten erweitert werden müssen. Auch dass mit „Trakine“ ausschließlich eine transaffirmative Elterngruppe eingeladen wurde, ist skandalös. Die kritischen Eltern-Initiativen wie „Transteens Sorge berechtigt“ oder „Parents-of-Rapid-onset-Gender-Dysphoria-Kids“ saßen hingegen nicht mit am Tisch.

Und wie geht es jetzt weiter?
Die Leitlinien sind noch bis zum 19. April in der Kommentierungsphase. Das heißt, die Fachgesellschaften könnten nun ihre Kritik formulieren. Das ist aber nicht erwünscht. Uns wurde mitgeteilt, dass man bitte nur noch redaktionell, nicht aber inhaltlich kritisieren möge. Gleichzeitig hat man die Leitlinien schon jetzt in einer großen Pressekonferenz vorgestellt, das heißt, hier hat man schon mal Fakten geschaffen. Dabei gibt es aus unseren eigenen Reihen inzwischen zunehmend kritische, sehr renommierte Stimmen. Aber die sollen offenbar mundtot gemacht werden. Oder, um es mit den Worten des von mir sehr geschätzten Kollegen und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie, Professor Dr. Tobias Banaschewski zu sagen: Hier droht „einer der größten Medizinskandale der heutigen Zeit!“

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