Véronique Roy: Die kämpfende Mutter

Foto: mayPPP/dpa
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Ihr Sohn starb in Syrien. Jetzt kämpft sie gegen die Tatenlosigkeit des Staates, der der Radikalisierung junger Menschen nichts entgegensetzt. Die blonde Französin mit den blauen Augen entspricht nicht dem Klischee der Jihadistenmutter. Sie sagt: "Auch ich bin ein 'Opfer des Terrorismus', aber eines, das man nicht anerkennt."

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Am 14. Januar 2016 erhält Véronique Roy auf ihrem Handy ein Foto des Testamentes ihres Sohnes. Es ist handgeschrieben, mit blauem Kugelschreiber auf der ausgerissenen Seite eines Notizblocks. Quentin Roy hat nichts zu vererben als ein Tablet der Marke Samsung. Darunter die Handynummern seiner Eltern. Maman und Papa steht dort geschrieben. Man möge sie benachrichtigen. Véronique Roy kennt nicht das genaue Todesdatum ihres Sohnes. Alles, was man ihr mitgeteilt hat, ist Folgendes: Abu Omar al-Faransi, wie sie ihn nannten, sei als „Märtyrer auf dem Boden des Kalifats“ gestorben. Mit 23 Jahren. Es wird nie einen Leichnam geben und womöglich nicht mal einen Totenschein. Denn das Kalifat des so genannten Islamischen Staates (IS) ist kein Staat und wird ihr kein offizielles Dokument liefern können. Sie kann deshalb sein Konto nicht schließen, seine Lebensversicherung nicht auflösen. Ihr Sohn gilt in Frankreich schlicht nicht als tot, nur als verschwunden.

Auf ihrem Handy zeigt Véronique Roy die Fotos von Quentin. Sie zeigt, wie aus einem gut aussehenden jungen Mann, der einen Fußball kickt, ein bärtiger Dschihadist wird mit „toten Augen“. emand, dem man „das Gehirn gewaschen hat“. Jemand, der gelitten hat; jemand, der vielleicht sogar Schlimmes getan hat. Sie ist in Wahrheit erleichtert, dass er jetzt tot, dass sein Leid vorbei ist. „Hier hätte ihn das Gefängnis erwartet, dort war es der Tod.“ Die Mutter spricht von ihrem Sohn so, als sei er von einer unheilbaren Krankheit erlöst worden.

Roy, eine kluge Frau mittleren Alters, sitzt in einem Café in der Nähe der Pariser Oper und trinkt heiße Schokolade. Bis spät abends hat sie gearbeitet. Das Gesundheitsmagazin, für das sie die Anzeigenakquise macht, hat gerade Redaktionsschluss. Sie will Zeugnis ablegen, die Menschen wachrütteln. Sie ist viel im Fernsehen gewesen, im Radio, in den Zeitungen. Mit anderen Müttern war sie in diesem Sommer auf der Titelseite eines Nachrichtenmagazins: „Monsieur le Président, retten Sie unsere Kinder!“

Roy bezeichnet sich als „Opfer des Terrorismus“, aber als ein „Opfer auf der falschen Seite“, eines, das man nicht anerkennt, dem man nicht hilft, das man alleine lässt. Das soll nicht schamlos klingen. Sie weiß sehr wohl, was die Menschen erlitten haben und noch erleiden, die einen Sohn, eine Tochter bei den Attentaten auf das Pariser Bataclan oder die Bistros verloren haben. Nur hat auch sie das Gefühl, einen Sohn verloren zu haben: „Man hat ihn mir gestohlen“, sagt Roy. Sie ist wütend auf ihren Bürgermeister, wütend auf die Regierung, wütend auch auf die Imame, die der Radikalisierung zusehen, ohne sie zu denunzieren.

Sie kann auch nicht fassen, dass es immer noch Leute gibt, die glauben, es träfe nur die Muslime; es träfe nur die Jungs aus den Vorstädten; nur die Arbeitslosen, sozial Ausgeschlossenen. Quentin Roy war ein sportlicher junger Mann. Er besuchte eine katholische Privatschule, begeisterte sich für Fußball, spielte Klavier. Nach dem Abitur hatte er eine Ausbildung als Krankengymnast angefangen. Er war ein sensibler, mitunter schüchterner Junge, der in seinem Kopf die großen Fragen wälzte.

Als Quentin seinen Eltern 2012 erklärte, dass er zum Islam übergetreten sei, zeigten sie Verständnis. Die Roys sind offene, tolerante Leute. „Quentin hatte ein spirituelles Bedürfnis. Er suchte nach Sinn“, sagt seine Mutter. „Wenn es heute passieren würde, im Jahr 2016, selbstverständlich  wäre ich sofort alarmiert und würde mir Sorgen machen.“ Damals hat sie etwas Zeit gebraucht, um Hilfe zu suchen. Hilfe bei Ämtern, in Moscheen, Hilfe, die ihr keiner bieten konnte oder wollte. Zwei Jahre nach seiner Konversion ging Quentin heimlich nach Syrien.

Véronique Roy, diese blonde Französin mit wachen, blauen Augen, entspricht so gar nicht dem Klischee der „Dschihadistenmütter“. Auch deswegen ist sie zu einer zentralen Figur in Frankreich geworden. Seit sie neulich Hollande in einer Fernsehsendung gegenübersaß, kennt sie wirklich jeder. Sie hat den Präsidenten mit Fragen bombardiert, hat ihn unterbrochen, zum Handeln aufgefordert. „Er schien mich ernst zu nehmen“, sagt Roy, „aber er fühlte sich sichtlich unwohl bei diesem Thema.“

Was Roy einfach nicht verstehen kann, ist, wie man die Radikalisierung der Muslime zulassen konnte. Die Roys sind vor 30 Jahren nach Sevran gezogen, einem 50.000-Einwohner-Städtchen 20 Kilometer vor Paris, in ein Einfamilienhaus mit Garten. Allmählich verschwanden die „normalen Läden“ aus der Stadt, erzählt sie. Es gibt heute überwiegend Halal-Imbisse im Zentrum und wer an Markttagen die Stadt besucht, sieht überwiegend verschleierte Frauen. Hidschabs und Niqabs werden an Ständen angeboten. An mehreren Ecken stehen junge, muslimische Männer, sie tragen lange Gewänder, Qamis, und sammeln für den Neubau einer Moschee.

Roy macht dem Bürgermeister Vorwürfe. Stéphane Gatignon, 46 Jahre, seit 2001 im Amt, ist Grüner, zuvor war er Kommunist. Er ist schon mal in den Hungerstreik getreten, um mehr Geld für seine Kommune zu fordern. Aber die Notrufnummer der Regierung für Dschihadkandidaten, die hat er zwei Jahre lang nicht veröffentlicht. Klientelismus, vermutet Roy. Er habe Angst, seine muslimischen Wähler zu verlieren. „Er vermeidet den Kontakt mit uns. Wir sind wie Aussätzige, Paria.“

„Wir haben die Stadt nie verurteilt“, sagt Roy. „Wir fühlten uns wohl, wir waren glücklich.“ Sie bereut die Entscheidung für Sevran bis heute nicht. Aber vom Glück kann sie jetzt nur noch in der Vergangenheit sprechen.

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