Wenn Männern die Lust vergeht

Louise Bourgeois in 1982 with ‚Filette‘: © Robert Mapplethorpe Foundation; Anette Hauschild/Ostkreuz
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Darüber und über noch viel mehr sprach EMMA-Redakteurin Chantal Louis mit der Sexualtherapeutin Heike Melzer. In den 60er-Jahren hatte die Pille die Frauen befreit, sie aber auch stärker als Objekt der Begierde ausgeliefert. In den 70er-Jahren benannte die Frauenbewegung das Machtverhältnis zwischen Frauen und Männern und die Schieflage der „sexuellen Revolution“. Feministinnen plädierten für „kommunikativen Sex“. Nicht ohne Erfolg. Jetzt schlägt das Pendel zurück.

Sie hoffen, dass Ihr Buch „ein Weckruf“ ist. Was alarmiert sie so?
Die Sexualität koppelt sich immer stärker von der Liebe ab. Denn die Menschen können sich durch die Möglichkeiten, die das Internet bietet, ganz einfach autonom Lust verschaffen. Dieser Sog nach draußen war noch nie so stark wie heute: durch Pornografie, den so genannten „casual sex“ oder auch virtuellen Sex. Das verschafft, wenn man so will, zwar auch eine gewisse Freiheit. Aber diese Freiheit verursacht große Kollateralschäden. Und die sehe ich in meiner Praxis.

Einer dieser Kollateralschäden sind Erektionsstörungen. Damit kamen früher Männer 50 plus zu Ihnen. Heute kommen schon 18-Jährige. Was ist passiert?
Wir haben jetzt ein gutes Jahrzehnt hinter uns, in dem Smartphones oder Kanäle wie Youporn dazu verlocken, ständig sexuelle Reize zu konsumieren. Und wenn man ständig vor dem Computer mit immer stärkeren Reizen bis hin zur Gewalt masturbiert, dann ist man irgendwann konditioniert auf diese Reize, auf die man sich optisch,
akustisch oder haptisch einstellt. Und die sind dann immer weniger kompatibel mit einer realen Frau, die auch noch gestern, heute und morgen immer die gleiche ist. Die natürlichen Stimuli reichen dann nicht mehr aus. Und dann kommt es zu erektilen Dysfunktionen und verzögertem Orgasmus – oder gar keinem.

Ist das vor allem ein Problem von Männern?
Ja, ganz klar. Von zehn Klienten, die ich zu Porno- und Sexsucht in der Praxis habe, sind neun Männer. Frauen sind eher amourös verstrickt. Die haben dann multiple Liebschaften, die ihnen über den Kopf wachsen. Wobei es eben inzwischen auch Frauen gibt, die ständig zu Pornos masturbieren und ihren Vibrator spannender finden als ihren Partner. Die sind auch in drei Minuten mit der Sache durch und arbeiten dann weiter. Und wenn man das oft macht, kann auch bei Frauen irgendwann die Lust auf den Partner wegbleiben.

Vielleicht fällt so eine „partnerbezogene Lustlosigkeit“, wie Sie es nennen, so manchem Mann aber auch gar nicht weiter auf?
Klar. Es kommen auch deshalb weniger Frauen zu mir, weil es beim klassischen Geschlechtsverkehr nicht so ein Riesenthema ist, wenn die Frau nicht feucht wird, als wenn der Mann nicht erigiert.

Sie sagen: Diese „sexuelle Revolution“ kommt viel leiser daher als damals, ist aber viel durchschlagender.
Ein Teil des Problems ist doch, dass man diese Pornoholics nicht erkennt, weil das ja alles im Verborgenen stattfindet. Aber trotzdem wissen wir: Das Problem ist massiv. Pornhub zum Beispiel bringt ja jedes Jahr im Januar wieder seine Jahresstatistik heraus…

Die Pornoplattform Pornhub hatte 2018 rund 33 Milliarden Besuche, fünf Milliarden mehr als 2017. Deutschland steht auf Platz sieben.
Wenn man diese Zeit in Beziehung oder Familie investieren würde, sähe die Welt anders aus.

Was sind weitere Kollateralschäden?
Paare müssen sich neu darüber verständigen: Was ist eigentlich Treue für uns? Denn der Treuebegriff ist unklarer als je zuvor. Viele Frauen fragen sich: Bin ich hier eigentlich als Person noch gemeint oder bin ich nur noch ein erweiterte Masturbationshilfe zum Ausleben der Porno- und Fetischwünsche des Partners? Und es kann doch auch durchaus als Betrug gewertet werden, wenn man der Partnerin sagt, man arbeite an einer Powerpoint-Präsentation – und eigentlich masturbiert man gerade vorm Rechner. Und die Frau hat in der Zwischenzeit auf die Kinder aufgepasst … Hinzu kommt manchmal auch ein finanzieller Betrug. Da spielen sich mitunter heftige Dinge ab.

Was zum Beispiel?
Ein Paar kam zu mir, deren Sohn das Haus praktisch nicht mehr verließ, weil er sich nur noch mit kostenpflichtigem Cam-Sex, also virtuellem Sex mit Prostituierten, beschäftigte, sich dadurch hoch verschuldete und keiner geregelten Arbeit mehr nachging. Schließlich haben sie dem Sohn den Internetzugang abgestellt und den Geldhahn zugedreht, woraufhin der so wütend wurde, dass er der Mutter den Arm gebrochen hat. Interessant wird es auch, wenn Kinder ihre Eltern beim Masturbieren vor Pornos erwischen oder selber schon lange vor dem ersten Kuss über Jahre hinweg Hardcore-Pornos konsumieren.

Wie arbeiten Sie mit einem 18-jährigen Pornoholic, der Sie um Hilfe bittet?
Diejenigen, die zu mir kommen, wollen ja schon was verändern. Die sind oftmals aufgewacht, weil sie ein ernstes Problem haben: Sexuelle Funktionsstörungen, die Partnerin hat ihnen die Beziehung aufgekündigt oder sie haben finanzielle Sorgen, weil sie sehr viel Geld für diese Dienste ausgegeben haben. Wenn es sich um zwanghaftes sexuelles Verhalten handelt, müssen die Betroffenen erstmal die hirnphysiologischen Zusammenhänge verstehen. Damit müssen sie sich beschäftigen. Eine interessante Seite mit vielen Forschungsergebnissen dazu ist www. yourbrainonporn.com, die ich sehr empfehle. Dort wird sehr gut anhand von wissenschaftlichen Befunden erklärt, wie das Belohnungssystem im Gehirn mit immer stärkeren Reizen stimuliert werden muss. Und ich lasse sie Ziele formulieren. Zum Beispiel: Wieder frei sein, wieder autonom sein, wieder ehrlich sein. Und dann beschäftigen wir uns sehr tief mit ihrer ganzen Geschichte bis hin in die Kindheit. Oft sind es Leute mit einem mangelnden Selbstwertgefühl, die sich in virtuelle Welten flüchten.

Ein anderes Phänomen, das sie beschreiben, sind die so genannten „Unberührten“. Also Menschen, die lange überhaupt keinen Sex mit anderen haben, sondern ausschließlich masturbieren.
In Japan ist das laut Studien schon fast jeder dritte Jugendliche in Großstädten. Aber auch hierzulande gibt es immer mehr „Unberührte“. Die sitzen halt vor ihrem Laptop, versorgen sich selbst und sagen sich: „Den Stress, mir einen Korb einzufangen, mache ich mir nicht.“ Und je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wird es natürlich. Mit 28 jemandem zu sagen, dass man noch nie Sex mit einem Partner oder einer Partnerin hatte, ist sehr schambesetzt und eine Riesenhürde. Die Leute kommen meist dann zu mir, wenn sie in einem Alter sind, wo die Menschen um sie herum Familien gründen.

Sind auch diese „Unberührten“ vor allem männlich?
Ja. Frauen sind tendenziell eher an Beziehungen interessiert.

Aber auf Tinder sind auch etliche Frauen unterwegs.
Ja, aber überall, wo „casual sex“ draufsteht, sind die Männer schon in der Mehrzahl. Frauen, die Sex wollen, haben null Probleme, da jemanden zu finden. Auf Partnerbörsen wie Parship ist es umgekehrt, denn da stehen Frauen um die 40 Schlange, um den passgenauen Mann ohne Bindungsängste zu finden. Überall gibt es aber auch Mogelpackungen: Männer, die vorgeben, eine Familie gründen zu wollen, und es eigentlich nur auf Sex abgesehen haben. Aber auch solche, die nur unverbindlichen Sex suchen und dann überrascht sind, wenn sie sich doch verlieben.

Dass das Problem sich so verschärft hat, liegt ja auch an der frühen Gewöhnung.
Der durchschnittliche Junge fängt mit elf Jahren an, sich Pornos anzuschauen, also zu dem Zeitpunkt, wenn das erste Smartphone Einzug hält. Und Eltern und Lehrer fühlen sich überfordert. Vor den Gefahren wird aber auch nicht genügend gewarnt. Dabei ist das ein Feldversuch ohne Ethikkomission.

Müssten die Schulen nicht aktiv werden?
Ja. Die Lehrer müssen sich schlau machen, was da im Netz überhaupt passiert. Und es muss ein Curriculum erarbeitet werden, so dass das Thema über die Jahre immer wieder altersgerecht behandelt wird. Schulen müssten klar über das Suchtpotenzial von Pornos informieren und über die Auswirkungen auf Intimität und Beziehungen. Und natürlich müsste das Frauen- und Männerbild in der Pornografie kritisch behandelt werden. Immer mehr Mädchen möchten eine Geschlechtsumwandlung zum Jungen machen – das hat in den letzten Jahren zugenommen. Und ich glaube, dass das auch durch das Bild der Frau in der Pornografie bedingt ist. Die Pornografie bedient Stereotype, gepaart mit Aggressivität. Die Mädchen schauen sich das an und sagen sich: „Das will ich nicht sein, dann doch lieber ein Mann!“

Die Mädchen müssten also darin bestärkt werden, Grenzen zu setzen.
Ja, das Neinsagen ist bei all der Überflutung mit sexuellen Reizen und Angeboten das Thema schlechthin. Also, zum Beispiel zu sagen: „Kann ja sein, dass Analverkehr oder Abspritzen ins Gesicht in jedem Porno vorkommt, aber für mich ist das nichts.“

Das ist ja aber auch eine Machtfrage.
Genau. Je abhängiger Sie in einer Beziehung sind, umso weniger können Sie sagen: „Das mach ich nicht mit!“ Ich habe in meiner Praxis auch Paare, da kommen die Frauen nicht raus aus der Geschichte. Da hat der Mann sexuell das Sagen, weil die Frau finanziell abhängig ist. Wenn eine Frau mit drei Kindern dasteht und Teilzeit arbeitet oder gar nicht berufstätig ist, hat die es natürlich schwer, die Beziehung hochgehen zu lassen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Töchter so erziehen, dass sie finanziell auf eigenen Beinen stehen und auch innerlich autonom werden. Zum Glück werden Frauen ja immer unabhängiger.

Weiterlesen: Heike Melzer: Scharfstellung (Tropen, 16.95 €)

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