Wikinger: Von wegen Sammlerin!

Die Erforschung ihrer Gräber zeigte: Bei den Wikingern waren unter den Kriegern auch Frauen. - Foto: Lorado/Getty Images
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Wenn die baumlange, wütende Gunnhild auf ihre Gegner eindrischt, gerät das „Vikings“-Publikum in Verzückung. In der Netflix-Serie „Vikings“ sind die Männer furchterregende Recken – und die Frauen stehen ihnen in nichts nach. Festentschlossen und mit geballten Fäusten verteidigen sie ihren Besitz. „Wollt ihr etwa nicht nach Walhalla?“ ruft Gunnhild gern in die Runde und verdrischt kurzerhand alle Männer, die nicht sofort die Streitaxt schwingen.

Die kampfbereite Gunnhild aus der TV-Serie ist dabei realer als es bislang angenommen wurde. Nach neuen Gen-Forschungen und archäologischen Funden im schwedischen Birka muss das Bild der Wikingerfrauen und ihre Rolle grundlegend revidiert werden.

Birka war zur hohen Zeit der Wikinger, im 10. Jahrhundert, eine zentrale Handelsmetropole. Unter Tausenden Gräbern vor der Befestigung der Stadt befindet sich ein ganz Besonderes: das Kam-mergrab eines großen Wikingerkriegers. Es ist erkennbar an den Grabesbeigaben: zwei Pferde, Schilde, Schwerter, Axt sowie Pfeile und Speere mit Metallspitzen. Nur großen Kriegern wurden so wertvolle Waffen mit ins Grab gegeben. Ein Zeichen der tiefen Verehrung. Ein Heldengrab. Genauer: Ein Heldinnengrab.

Ein Team schwedischer GenetikerInnen und ArchäologInnen hat den spektakulären Beweis erbracht: Der „Krieger aller Krieger von Birka“ war in Wahrheit eine Kriegerin. Dank neuer forensischer Forschungsmethoden mittels spezieller DNA-Analyse konnte das durch die Bodenverhältnisse gut erhaltene Knochenmaterial genau bestimmt werden. Und es ist eindeutig das einer Frau.

Die Arte-Doku „Die Kriegerinnen der Wikinger“ (zu sehen auf YouTube) rekonstruiert diese Geschichte am Beispiel der fiktiven Wikingerfrau Sinje, die im Laufe ihres Lebens zu einer angesehenen Händlerin, Seefahrerin und Kriegerin unter den Wikingern aufsteigt. Ihre engste Gefährtin ist das Sklavenmädchen Malusha, das von Sinje befreit wird. Nachdem sie den Mord an ihrem Vater in einem Zweikampf auf Leben und Tod gerächt hat, kehrt Sinje als erfolgreiche Kriegerin und Händlerin nach Schweden zurück. Am Ende ihres Lebens erhält sie die höchste Ehre, die es in der Wikingerwelt gibt: eine aufwändige Bestattung. Ganz wie die Kriegerin, die man im Heldengrab von Birka gefunden hat.

Die Dokumentation zeichnet ein neues Bild der Wikinger und Wikingerinnen. Es gab Kriegerinnen, Händlerinnen und Clan-Führerinnen, die Haus, Hof und einen ganzen Ort leiteten, wenn die Männer auf „Wiking“ (das nordische Wort für Beutezüge) gingen. Sie konnten sogar die Scheidung einreichen, wenn ihr Mann die Familie nicht versorgte oder sie schlecht behandelte. Und: Frauen waren erbberechtigt – ein großes Zeichen von Gleichberechtigung in jener Zeit.

ForscherInnen der Universität Tübingen, die Gesundheitsdaten in ländlichen Regionen Skandinaviens seit dem späten 8. Jahrhundert auswerten, haben anhand der Zahnstruktur von Skeletten herausgefunden, dass Wikinger-Frauen und Mädchen keine Mangelernährung aufwiesen und damit den gleichen Zugang zu Nahrung, also eine gleiche gesellschaftliche Stellung wie Männer gehabt haben müssen. Auch die parallel erhobenen Längenmessungen der Oberschenkelknochen unterstützen diese These. Die Längen der Knochen von Frauen und Männern waren gleich.

Ganz Skandinavien schnitt bei den europaweit erhobenen Daten überdurchschnittlich gut ab, deutlich weniger Gleichstellung gab es in der Mittelmeerregion und in osteuropäischen Städten. „Aus der Forschung haben wir mittlerweile viele Belege zum Zusammenhang zwischen der Gleichstellung der Geschlechter und der Wirtschaftsentwicklung eines Landes. Und wir wissen: Die Gleichstellung steigert nicht nur den Wohlstand der Frauen, sondern beeinflusst allgemein das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung positiv“, erklärt der Tübinger Forscher Jörg Baten.

Die Tübinger gehen davon aus, dass die skandinavischen Frauen ihre starke Rolle in der Gesellschaft bis in die Industrialisierung und danach weiter fortsetzen konnten. Daher sei es kein Zufall, dass Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland bis heute wohlhabende und wirtschaftlich stabile Nationen sind. Stefan Brink, Professor für skandinavische Studien in Aberdeen, vermutet, dass es den Frauen in heidnischer Zeit generell besser erging: „Mit Einführung des Christentums verloren sie an Macht in der Familie und Gesellschaft, die Geschlechterrollen wurden starrer.“

Schon vor zehn Jahren waren den ForscherInnen aus Schweden erste Zweifel gekommen, wie „patriarchal“ die Geschichte ihrer Volkshelden wirklich ist. Denn zahlreiche ausgegrabene Skelette auf den Wikingerfriedhöfen ließen auf Frauen schließen. In Solør, in Norwegen, haben britische ForscherInnen 2019 das Grab einer Frau auf einem Wikingerfriedhof gefunden, das nur so vor Waffen strotzte. Die Knochenanalyse war eindeutig. Doch den Status einer Kriegerin wollte man ihr zunächst trotzdem nicht zugestehen –obwohl sie mit Schwert, Speer, Axt und Pfeilen begraben wurde. Ihr Kopf war auf einem Schild gebettet.

Die britische Archäologin Ella Al-Shamahi hat das Gesicht der unbekannten Kriegerin rekonstruiert und festgestellt, dass sie eine Verletzung von einem Schwert davongetragen hatte. Die Forscherin, Spezialistin für menschliche Überreste, ist sich sicher, dass dies „der erste Beweis überhaupt für eine Wikingerfrau mit einer Kampfverletzung“ ist.

Auch im norwegischen Kjolen und Aunvollen stießen die Archäologinnen auf Frauenskelette, die mit Schwertern beigesetzt wurden. In Island wurden Frauen mit Speeren gefunden, in England

und Dänemark Frauen mit Äxten und Pfeilspitzen. Im britischen Derbyshire stießen ForscherInnen auf ein Massengrab von Wikingern, die im Kampf starben, jeder fünfte war eine Frau, wie DNA-Analysen der Beckenknochen ergaben.

Die Wissenschaft ist seit Beginn der Wikinger-Forschung immer selbstverständlich davon ausgegangen, dass nur Männer Krieger waren. Vermeintliche und einziger Beweis: die Grabbeigaben. So wertvolle und schwere Waffen konnten einfach nur zu einem Mann gehören. Zwar tauchten immer wieder zahlreiche Belege für kämpfende Frauen auf – aber sie wurden geflissentlich ignoriert oder in das Reich der Sagen verfrachtet. Diese Frauen waren dann „Walküren“ oder „gewaltige Riesinnen“, aber keine Menschen aus Fleisch und Blut.

In Norwegen tobt zurzeit in der Wissenschaft eine Debatte darüber, ob Waffen als Grabbeigaben bei Frauen wirklich bedeuten, dass sie damit auch gekämpft haben. „Wir sollten diese Gräber genau gleich behandeln wie Männergräber“, sagt dazu die norwegische Archäologin Marianne Moen von der Universität Oslo, die zum Thema forscht. „Sobald man bei Frauen Waffen findet, hat man gleich nach alternativen Erklärungen gesucht, warum sie nicht zum Kampf gedient haben können.“ Sie und ihr Team gehen jedoch schon länger davon aus, dass sich die Aufgabenverteilung in vormodernen Kulturen weniger am Geschlecht, als vielmehr an der körperlichen Fitness orientierte. Wer jung und gesund war, der jagte. Wer älter und gebrechlicher war, kümmerte sich um Kinder und Versorgung. Egal ob Mann oder Frau.

Die systematische Ignoranz gegenüber der Rolle von Frauen gilt übrigens für die gesamte Geschichte der Archäologie. Archäologie-Studierende sind heute zu 70 Prozent weiblich, waren aber bis Ende der 90er Jahre eine seltene Spezies. Darum wurde vor 25 Jahren das Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen (FemArc) gegründet. Ziele des feministischen Netzwerkes sind die Förderung und Verbreitung von Fachwissen zur archäologischen Frauen- und Geschlechterforschung. Denn ganze Generationen von Forschern hatten ihre Funde durch eine von den Geschlechterrollen verzerrte Brille betrachtet und Frauen als Trägerinnen der Menschheitsgeschichte schlicht übergangen (EMMA 4/2017).

Das galt bisher auch für die Forschung zu den Wikingern, den Volkshelden von Skandinavien. „Es war einfach nie im Denken der Archäologen drin, dass auch Frauen Kriegerinnen, Händlerinnen oder Clanführerinnen waren, obwohl Grabbeigaben und Knochenfunde eindeutig dafürsprachen“, sagt Juliana Katharina Koch, Archäologin für Frühgeschichte der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Im Gegenzug wurden Funde von Leichen in prekärer Lage (gekrümmt, mit verbundenen Augen) automatisch als weiblich einsortiert.

Doch die Knochenanalysen bewiesen das Gegenteil. Auch in Birka und Solør waren mehrere DNA-Analysen des Erbguts nötig, um Zweifler endgültig zum Schweigen zu bringen.

Die Archäologie im hohen Norden steht generell vor großen Umbrüchen. Zum einen liefert eine große Gen-Studie (veröffentlicht im Fachblatt Nature) neue Erkenntnisse über das Aussehen der WikingerInnen. Sie waren zum Beispiel keineswegs alle blond. Zum anderen schwinden durch die globale Erderwärmung weltweit die Eismassen und geben immer mehr Artefakte frei. In Norwegen haben ArchäologInnen im April im schmelzenden Eis einen ganzen Bergpass der Wikingerzeit mit über 3.000 Artefakten entdeckt. Zerschlissene Kleidung, Lederschlappen, Schneeschuhe, Teile von Schlitten, Hufeisen, Gehstöcke, Rentiergeweihe und Dutzende Pfeilschäfte und Werkzeuge. Es gilt mittlerweile als bestätigt, dass ein Großteil der vermeintlich so räuberischen Wikinger nie auf Beutezug ging. Viele der Männer und Frauen lebten als BäuerInnen und FischerInnen an den Küsten Skandinaviens und ließen den lieben Odin einen guten Mann sein.

Auf vielen Wikinger-Friedhöfen tauchen nun Frauen aus dem Dunkel des Verleugnens auf. Vor allem die großen Kriegerinnen unter ihnen. „Die Fülle der Grabbeigaben spricht dafür, dass sie keine einfachen Kriegerinnen, sondern Anführerinnen waren“, sagt Archäologin Ella Al-Shamahi. Wie diese Frauen gekämpft haben, ist derzeit noch vollkommen unklar. Ob wie Gunnhild aus der Vikings-Serie mit Kettenhemd, schwerem Schild und langem Schwert? Al-Shamahi vermutet, dass Frauen vor allem auf dem Rücken von Pferden mit Pfeil und Bogen kämpften: „Hoch zu Ross ließ sich viel zielsicherer Krieg führen.“ Und ja, das Eindrischen wie Gunnhild es liebt, werden auch sie gut gekonnt haben.

ANNIKA ROSS

 

 

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