Raubt Russland Kinder?

Kinder und der Krieg: Gita, ein Roma-Mädchen 1999 im Kosovo. - Foto: Bettina Flitner
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Die USA haben in allen Kriegen von Vietnam bis Afghanistan Tausende von Kindern evakuiert und dies als humanitäre Mission deklariert. Wenn Russland Waisen aus den Kampfgebieten in der Ukraine heraus bringt, stellt eine überwältigende westliche Propaganda dies als Kindsraub und Verbrechen dar.

Im April 1975, als der Vietnamkrieg dem Ende zu ging, transportierten die US-Streitkräfte in der Operation „Babylift“ nach offiziellen Angaben einige tausend Kinder aus Vietnam in die USA. Der Transport geriet damals in die Schlagzeilen, weil die erste Maschine mit vietnamesischen Kindern an Bord bei Saigon abstürzte. Ein knappes halbes Jahrhundert später, im Dezember 2021, meldete CNN, die US-Streitkräfte hätten 1450 Kinder aus Afghanistan in die USA gebracht. Eine Meldung, die in der politischen Öffentlichkeit nicht mehr Aufsehen machte als eine Staumeldung oder der Wetterbericht.

Die Genfer Konventionen regeln den Schutz von Kindern im Krieg

Ich weiß nicht, wie viele Kinder die USA in all ihren Kriegen verfrachtet haben: aus Lateinamerika, Asien und Afrika, vom Balkan, aus dem Irak, aus Libyen oder Syrien. Allein im Vietnam-Krieg waren es laut Medienberichten mehr als 50.000, und dort, wie auch in anderen Fällen, waren viele fromme und weniger fromme christliche Hilfswerke beteiligt. Keine Journalistin, kein Journalist einer großen westlichen Zeitung kam bei all diesen Transporten auf die Idee, von „Kinderraub“ oder „Deportationen“ zu reden. Ganz im Gegenteil. Schutz der Schutzlosen war immer Gebot des humanitären Völkerrechts. Die Genfer Konventionen regeln den Schutz von Zivilpersonen, also auch von Kindern, im Krieg.

Das gilt aber nicht für Russland. Wenn die russische Armee elternlose Kinder und Jugendliche aus ukrainischen Kampfgebieten evakuiert, kann dies keine humanitäre Aktion sein, weil Russland in der Gestalt von Putin jede Menschlichkeit und Barmherzigkeit abzuerkennen ist. Auf dieser verqueren Logik beruhen offensichtlich die Propaganda-Fiktionen, die seit Kriegsbeginn von zahlreichen Menschenrechts-NGO fabriziert und in großen westlichen Medien kolportiert werden. 

Die meisten dieser NGO sind nicht das, was ihr Name verspricht, nämlich vom Geld der Regierungen und ihrer Pressure-Groups unabhängig zu sein. Viele betreiben Regime Change, wo der Westen diesen beabsichtigt. Und das lässt sich immer weniger verbergen. Indien hat in den letzten Jahren 15’000 (fünfzehntausend) Nicht-Regierungsorganisationen die Zulassung entzogen.

Im März 2023 stellte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen Präsident Putin und die russische Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa aus. Mit der Begründung, es gebe „berechtigte Gründe für die Annahme“, dass beide „individuell strafrechtlich verantwortlich“ für die unrechtmäßige Deportation ukrainischer Kinder nach Russland seien. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach anschließend in Brüssel von 16.200 ukrainischen Kindern, die Russland verschleppt haben soll.

„Es ist eine schreckliche Erinnerung an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte, was dort geschieht, die Deportation von Kindern“, sagte von der Leyen. Dabei ist klar, was gemeint ist, wenn eine deutsche Politikerin sich auf die dunkelsten Zeiten ihrer Geschichte bezieht. Man erinnert sich an den deutschen Außenminister Josef («Joschka») Fischer, der landauf landab mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» für den NATO-Angriff gegen die Serben mobil machte.

Der Strafgerichtshof in Den Haag gibt nicht bekannt, auf welche Fakten er seinen Haftbefehl gründet. UNO-Organisationen wie das Kinderhilfswerk UNICEF oder der Hohe Flüchtlingskommissar (UNHCR) haben nie bestätigt, dass ukrainische Kinder widerrechtlich von Russland entführt wurden. UNHCR hält fest: „In der Ukraine leben fast 100.000 Kinder in Heimen und Internaten, die Hälfte davon sind Kinder mit Behinderungen. Viele dieser Kinder haben lebende Verwandte oder Erziehungsberechtigte. Wir haben Berichte über Einrichtungen erhalten, die versuchen, Kinder in Nachbarländer oder ins Ausland in Sicherheit zu bringen. Wir erkennen an, dass humanitäre Evakuierungen unter bestimmten Umständen lebensrettend sein können, und begrüßen Bemühungen, Kinder in Sicherheit zu bringen.“

Das Rote Kreuz arbeitet mit ukrainischen und russischen Behörden zusammen

Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) teilt nichts anderes mit, als dass es sowohl mit russischen als auch ukrainischen Behörden zusammenarbeitet für Kinderschutz und Familien-Zusammenführung in Russland und in der Ukraine.

Die russischen Behörden für Flüchtlinge und Kinderschutz haben laut RT folgende Zahlen publiziert: Im Kriegsjahr 2022 flüchteten etwa 4 Millionen Einwohner der Ukraine nach Russland, darunter 730.000 Kinder. Sie wurden in den russischen Datenbanken registriert. Die überwiegende Mehrheit dieser Minderjährigen kam mit einem gesetzlichen Vertreter nach Russland: mit Eltern, Erziehungsberechtigten, Tutoren. Weiter heißt es:

„Ein Teil der Kleinen kam aus Heimen (Waisen, Behinderte), auch aus staatlichen Sozialheimen. Sie wurden aufgrund ihrer Gefährdung inmitten von Kriegshandlungen im Jahr 2022 von Hilfskräften aus dem Donbass und vom russischen Militär nach Russland evakuiert – etwa 2.000 Kinder – und fanden dort eine Aufnahme in Kinderheimen. Verletzte und traumatisierte Kinder wurden in russischen Pflegeeinrichtungen oder in Reha-Kliniken behandelt. Andererseits kamen 380 Kinder in russische Pflegefamilien (keine Adoption), bis ihre Familiensituation geklärt war.“

Die russischen Behörden arbeiten laut ihren eigenen Angaben mit Hilfs-Organisationen der Regierung in Kiew zusammen, um Kinder zu ihren fernen oder vermissten Eltern zurückzubringen. Die Regierung von Katar finanziert in Zusammenarbeit mit Moskau weitgehend die erforderliche Logistik. IKRK und UNO-Organisationen sind beteiligt. Das darf aber auf der ukrainischen Seite nicht öffentlich erwähnt werden, weil dann das Bild vom „Kidnapper Putin“ sich in Luft auflösen könnte. Doch die Ungereimtheiten und Widersprüche innerhalb der Narrative vom „russischen Kinderräuber“ lassen sich nicht mehr verbergen.

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HELMUT SCHEBEN

Der Text wurde am 26. August 2025 gekürzt. Er erschien zuerst auf dem Schweizer Politblog Global Bridge.

Zum Autor: Helmut Scheben war von 1980 bis 1985 für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 Redakteur der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redakteur und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF und gleichzeitig Redakteur der Schweizer Tagesschau.

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