10 Jahre Amoklauf von Winnenden

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Am 11. März 2009 um 9.30 Uhr stürmt der 17-jährige Tim Kretschmer in die Albertville-Realschule in Winnenden und erschießt acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen. Er verletzt weitere neun Schülerinnen und eine Lehrerin. Schon wenige Minuten später stürmen drei Polizisten die Schule und schlagen den Täter in die Flucht. Zu diesem Zeitpunkt hat er noch über 200 Schuss Munition. Auf der Flucht erschießt der Täter weitere drei Menschen – und schließlich sich selbst.

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Die Stadt steht unter Schock, und mit ihr das ganze Land. Und schon bald stellt sich die Frage nach den Motiven des Täters. Vieles wird in Betracht gezogen und debattiert: Warum war Tim Kretschmer in psychiatrischer Behandlung gewesen? Wie konnte es sein, dass sein Vater, offenbar ein Waffennarr, eine seiner 15 Waffen offen und zusammen mit Hunderten Schuss Munition im Kleiderschrank aufbewahrte? Welche Rolle spielten die Horror-Videos, die der Jugendliche konsumierte?  

Warum erschoss der Täter fast ausschließlich Mädchen?

Nur eine Frage wurde merkwürdigerweise nicht gestellt: Warum hatte Tim Kretschmer an seiner ehemaligen Schule bis auf eine Ausnahme nur Mädchen erschossen? Der Täter war Sportschütze gewesen, er hatte seine Opfer gezielt hingerichtet. Als EMMA erklärte, dass Tim Kretschmer ganz offensichtlich aus Frauenhass gemordet hatte, brach ein Kreuzfeuer aus Wut und Häme über uns herein. Heute, nach weiteren Amokläufen von Utoya über Santa Barbara bis Toronto, bei denen die Täter ihr Motiv Frauenhass klar und deutlich zu Protokoll gegeben hatten, sind die Kritiker von damals still geworden.             

Und wie hat sich Winnenden zehn Jahre nach dem Amoklauf verändert? Das zeigt eine einfühlsame SWR-Dokumentation „Die Wunden des Amoklaufs“. Eins der Klassenzimmer, in denen der Amokschütze gewütet hatte, ist heute ein Gedenkraum. Darin stehen 15 weiße Pulte, für jedes Opfer eins, die die Angehörigen mit Fotos, Stofftieren und anderen persönlichen Gegenständen gestaltet haben. Ein anderes Klassenzimmer ist in eine Bibliothek verwandelt. Darin ein „Regal voller Solidarität“: Bücher mit den Kondolenzschreiben, die nach dem Amoklauf von SchülerInnen aus ganz Deutschland eingetroffen sind.

Im dritten der ehemaligen Amok-Klassenräume wirtschaftet jetzt die „Schülerfirma“: Dort werden T-Shirts bedruckt oder Kaffee geröstet. Ein Projekt, das außerhalb des regulären Unterrichts Vertrauen schaffen soll zwischen LehrerInnen und SchülerInnen. „Damit man auf sich achtet“, sagt Lehrer Werner Klingel, der das Projekt ehrenamtlich betreut. „Wir haben aus der Amoktat einen Auftrag. Nämlich, dass wir sorgsam miteinander umgehen.“

Forderung des Aktionsbündnisses: Verschärfung des Waffenrechts!

Kurz nach dem Amoklauf gründeten Eltern von Opfern das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“. Eine der wichtigsten Forderungen des Bündnisses: eine Verschärfung des Waffenrechts. Waffen raus aus dem Haus und rein in die Waffenschränke von Schützenvereinen und Jagdverbänden! lautete die Forderung. Noch im Jahr des Amoklaufs übergab das Aktionsbündnis eine Petition mit 100.000 Unterschriften. Doch damit riefen die Eltern die mächtige und gut vernetzte Waffenlobby auf den Plan, die sich mit Vehemenz bishin zu Morddrohungen zur Wehr setzte. „Es gab weder Mitgefühl noch Solidarität mit uns, sondern nur die Angst, dass ihnen ihr Lieblingsspielzeug verboten wird. Da habe ich kennengelernt, welche Macht so eine große Lobby hat“, erklärte damals Hardy Schober im EMMA-Interview. Der Mitgründer des Aktionsbündnisses hatte bei dem Amoklauf seine Tochter Jana verloren.

Doch immerhin hat das Aktionsbündnis einen Teilerfolg erzielt. Waffen und Munition müssen seit 2009 getrennt voneinander aufbewahrt werden. Ein Verstoß dagegen ist keine Ordnungswidrigkeit mehr, sondern eine Straftat. Waffenbesitzer können unangemeldet kontrolliert werden.   

Doch eine wichtige Forderung des Aktionsbündnisses ist immer noch nicht erfüllt: Zumindest großkalibrige Waffen müssen aus dem Haus verbannt werden! Aber die Politik sieht bis heute keinen Handlungsbedarf und fügt sich ein weiteres Mal den Waffenlobbyisten. "Meine Mandanten können und wollen nicht akzeptieren, dass Privatleute zu Sportzwecken immer noch über Waffen verfügen, mit denen man durch geschlossene Türen schießen kann", sagt Jens Rabe, der als Rechtsanwalt fünf Familien der Opfer vertreten hat.

Gisela Mayer: "Wir sind verantwortlich für das, was wir daraus machen"

Das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“ ist inzwischen zur „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“ geworden. Die Stiftung bietet Projekte zur Gewaltprävention an Schulen an, unterstützt Mobbing-Opfer und begleitet Forschungsprojekte. Außerdem betreibt die Stiftung ein Beratungstelefon für diejenigen, die befürchten, ein (Mit)Schüler könnte womöglich ebenfalls zum Täter werden.

„Wir können Ansprechpartner sein. Das heißt, wir können diejnigen sein, die man einfach anrufen kann, wenn man als junger Mensch Bedenken hat, sofort die Polizei anzurufen“, erklärt die Stiftungsvorsitzende Gisela Mayer. Sie ist selbst Lehrerin und hat bei dem Amoklauf ihre Tochter Nina verloren, die Referendarin an der Albertville-Realschule war. „Wir sind zwar nicht verantwortlich für das, was damals geschehen ist“, sagt Mayer, „aber wir sind sehr wohl verantwortlich für alles, was wir daraus machen.“ 

Chantal Louis

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