Alice Schwarzer schreibt

Hat Tim K. aus Frauenhass getötet?

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Im EMMAonline-Forum begann die Debatte bereits wenige Stunden nach dem Massaker. "Warum sind Amokläufer fast ausschließlich männlich?" fragt Susanne Weimann (alias Ms Brainshaker). Und Schauspieler Gerd Buurmann aus Köln klagt: "Mich macht es fuchsteufelswild, wenn ich höre, der Amokläufer hätte wahllos um sich geschossen. Er hat gezielt in die Köpfe von Mädchen geschossen. Das ist alles, aber nicht wahllos. Wieso wird das nicht deutlich gesagt?"

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Die Polizei sagte es auf ihrer ersten Pressekonferenz am 11. März noch unmissverständlich: "Auffällig ist, dass es sich bei den Opfern vor allem um Mädchen handelte." In der Tat: Von den zwölf Toten in der Schule sind elf weiblich, nur einer ist männlich.

Was eigentlich wäre los, wenn Tim K. in einer gemischten deutsch-türkischen Klasse zu über 90 Prozent Türken erschossen hätte? Die Hölle wäre los! Im ganzen Land gäbe es Proteste und Demonstrationen gegen die Ausländerfeindlichkeit. Doch in diesem Fall hat es sich ja nur um Frauenfeindlichkeit gehandelt.

Der Amokläufer war keineswegs wahllos, er hat seine Opfer durch gezielte Kopfschüsse regelrecht hingerichtet. Tim K. erschoss drei Lehrerinnen und acht Schülerinnen. Nur einer der Toten in der Schule war männlich: ein Junge albanischer Herkunft, Ibrahim, der als "Frauenflüsterer" galt, als Frauenliebling. Ganz im Gegensatz zu Tim.

Erst außerhalb der Schule hat der Amokläufer dann auf der Flucht wahllos um sich geballert und dabei auch noch drei zufällig anwesende Männer getötet.

Ist das Drama in der schwäbischen Kleinstadt Winnenden damit das erste Massaker mit dem Motiv Frauenhass in Deutschland – und das zweite weltweit in einem Nicht-Kriegsland? Und, wenn ja: Welche Schlüsse werden daraus gezogen?

Die ARD-Nachrichten sprachen am zweiten Tag von "drei Lehrern und neun Schülern", die getötet worden seien. Und die politischen TV-Magazine problematisierten am Abend danach zwar zu recht den privaten Waffenbesitz oder den jugendlichen Internetkonsum. Doch dieser zentralste, offensichtlichste Aspekt – der Frauenhass – kam mit keinem Wort mehr vor. Am dritten Tag erwähnten die FAZ und die SZ in ihren ausführlichen Erörterungen des Dramas zwar in einem Satz, dass Tim K. gezielt auf Mädchen geschossen und einen "Hass auf Frauen" (Süddeutsche Zeitung) hatte. Doch welche Schlüsse wurden daraus gezogen? Keine.

Der 17-Jährige kommt aus einem wohlsituierten Elternhaus, der Vater ist Unternehmer. Er galt als verklemmt und war ein mittelmäßiger Schüler, hatte im vergangenen Jahr jedoch den Realschulabschluss geschafft und danach eine Privatschule besucht. Tim K. soll sich früher von einer Lehrerin "gemobbt" gefühlt haben: "Er hat sie regelrecht gehasst, wie Frauen allgemein", so ein Nachbar der Familie zu Bild.

Am Tag nach dem Amoklauf, am 13. März, interviewt Bild dazu Dieter Lenzen, den Präsidenten der Freien Universität Berlin. Der Erziehungswissenschaftler erklärte: "Die Jungen sind die Verlierer im deutschen Bildungssystem." Und er wusste auch schon warum: "Vor allem die Tatsache, dass Jungen schon in der Grundschule meistens von Lehrerinnen unterrichtet werden, verhindert, dass sie eine männliche Identität ausbilden können."

Eine "männliche Identität" – was ist das? Wohin die Verunsicherung eines Mannes führen kann, das hatte am 6. Dezember 1989 in Kanada Marc Lepine gezeigt. Der 25-Jährige stürmte einen Unterrichtsraum der Montrealer Ecole Polytechnique mit dem Ruf: "Ich will die Frauen!" Sodann erschoss er 14 Ingenieur-Studentinnen und schrie: "Ihr seid Feministinnenpack. Ich hasse Feministinnen!" Am Schluss tötete er sich selbst.

Der Täter war in der Tat zwischen den Identitäten, zwischen verschiedenen Männlichkeitsmodelle, zerrissen: als Sohn einer Kanadierin und eines Algeriers. Hinzu kam: Er war ein arbeitsloser Elektriker, der nicht an der Ingenieursschule angenommen worden war.

Auch der Jugendliche Tim K. scheint als Mann verunsichert gewesen zu sein. Doch es gibt keine Anzeichen dafür, dass es ihm an männlichen Vorbildern mangelte. Im Gegenteil, sein Vater inszeniert sich offensichtlich als Superman: Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, Porschefahrer und Waffennarr. Als Mitglied des örtlichen Schützenvereins besitzt er insgesamt 15 Waffen und in seinem Waffenschrank fand die Polizei 4.600 (!) Schusspatronen. Der Sohn, der häufig mit dem Vater Schießübungen machte, entwendete die 15. Waffe, die unverschlossen im Schlafzimmer lag, und Hunderte von Patronen dazu. Das hätte noch für viele Menschen gereicht.

Tim K. befand sich seit seiner Musterung in psychiatrischer Behandlung, er hatte die Therapie jedoch nach fünf Sitzungen abgebrochen. Der 17-Jährige soll "Depressionen" gehabt haben. Wir alle kennen depressive Frauen. Morden sie? Nein, höchstens sich selbst.

Es ist auch keineswegs eine Überraschung, dass der unauffällige Tim K. wie viele Jungen seiner Generation Porno- und Gewaltvideos konsumierte und täglich Stunden im Internet surfte. Seit er das tat, soll er sich verändert haben. Auf seinem Rechner fand die Polizei 200 Pornobilder, darunter 120 so genannte Bondage-Inszenierungen: Das sind Fotos, auf denen man nackte gefesselte Frauen sieht, die vergewaltigt und gefoltert werden, manchmal zu Tode. Vielleicht sollte also statt über Tims früheren Lehrerinnen eher über sein heutiges Parallelleben in einer virtuellen Welt voller ballernder, gewalttätiger Helden nachgedacht werden?

Internationale Studien belegen seit Jahren, ja Jahrzehnten etwas, was nicht überraschend ist: Der Konsum von Pornografie - also von Bildern und Texten, in denen die sexuelle Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt verknüpft wird - prägt nicht nur das Bild von Frauen, sondern stumpft die Empathiefähigkeit dieser Pornokonsumenten gesamt ab, und je jünger umso beeinflussbarer.

Auch diese Jungen müssten vor der dank moderner Medien allgegenwärtigen Gewaltpornografie geschützt werden. Sie laufen sonst Gefahr, sich bei Verunsicherung in Dominanzphantasie gegen Frauen zu flüchten, was ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht nicht gerade besser macht.

In quasi allen Fällen von Männergewalt in Friedenszeiten spielt der Männlichkeitswahn - also die verunsicherte Männlichkeit verbunden mit einem unrealistischen Größenwahn - eine zentrale Rolle. Diese männlichen Allmachts- und Todesfantasien werden zu Dynamit. Da kann eine, vermeintliche, Kränkung durch eine Frau (wie zum Beispiel eine Zurückweisung) leicht zum auslösenden Funken werden.

Diese so kontaminierten Jungen sind wandelnde Zeitbomben. Und es ist zu befürchten, dass Tim K. aus dem Eigenheim in der idyllischen schwäbischen Kleinstadt nicht der letzte Amokläufer war.

Wie aber können potenzielle Opfer in Zukunft geschützt werden, vor allem: Wie kann verhindert werden, dass diese „Verlierer“ zu Verbrechern werden? Ganz sicher nicht durch ein mehr an Männlichkeit, wie Professor Lenzen es fordert, sondern nur durch das Gegenteil: durch ein Mehr an Menschlichkeit!

Auf der ersten Pressekonferenz nach der Tat erhob ein hilfloser Polizeichef die Forderung nach Einlass-Chips für Schulen. Er scheint immer noch nicht verstanden zu haben, dass das Böse nicht von draußen kommt. Es ist mitten unter uns. Es sind unsere eigenen Söhne, Nachbarn und Mitschüler, die zu Vergewaltigern und Mördern werden können. Wir können uns vor diesen ausrastenden Jungen mitten unter uns nicht mit Schlössern und Chips schützen.

Wir können sie nur vor sich selbst schützen. Das Rezept dazu heißt: aufmerksame, zugewandte Eltern und LehrerInnen, mehr Psychologen und Sozialarbeiter in Schulen und Jugendhäusern – sowie eine Erziehung nicht etwa zum Selbstmitleid und zur "Männlichkeit", sondern zur Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit.

Doch vor dem ersten Schritt zur Änderung der Verhältnisse muss die Bereitschaft stehen, die Wurzeln des Übels zu erkennen. Und sie endlich auch zu benennen!

Weiterlesen
"Die Mädchen abballern" - Wie Sven fast selbst zum Amokläufer wurde (3/09)
Ein Recht auf Wahrheit: Frauenhass in Killerspielen (3/09)
Was Männlichkeit heute bedeutet (3/09)
EMMA vor Ort in Winnenden (3/09)

In EMMA u.a. zum Thema
Der Stoff, aus dem die Täter sind, Prof. Pfeiffer (4/02)
Wie Jungen zu Killern gemacht werden, Dave Grossman (1/00)
Massaker in Montreal: Kein Zufall (2/90)

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Die Mädchen abballern

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Wenige Tage nach dem Amoklauf von Winnenden hatte er dem "sehr geehrten Prof. Dr. Pfeiffer" eine Email geschickt "Ich bin heute 28 Jahre alt und stehe Gottseidank wieder bzw. erstmalig mitten im Leben", hieß es darin. Aber es sei noch gar nicht so lange her, dass er und seine Freunde sich "nächtelang zum Spiel" getroffen hätten und "über Amokläufe geredet haben". Das "zentrale Problem", schrieb Sven (Name geändert), "war unsere völlige Erfolglosigkeit beim anderen Geschlecht. Wodurch wir einen unbändigen Hass auf Frauen entwickelten." Prof. Pfeiffer war Sven durch seine Fernsehauftritte aufgefallen, in denen er seine Studien über Jugendgewalt vorstellte und dringlich dafür plädierte, vor dieser Entwicklung nicht länger die Augen zu verschließen. Sven nun fragte sich, warum man noch nie versucht habe, mit einem Mann zu sprechen, der solche Fantasien hat bzw. hatte. "Einen toten Amokläufer kann man nicht fragen", schreibt er. Er, Sven, lebt. – Christian Pfeiffer, mit dem EMMA seit vielen Jahren zusammenarbeitet, schickte uns diesen Brief und vermittelte den Kontakt. Sven kam nach Köln in die EMMA-Redaktion und erzählte uns beeindruckend offen, wie auch er beinahe zum Amokläufer geworden wäre – und warum er es dann doch noch geschafft hat, einen anderen Weg einzuschlagen.

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Sven, warum haben Sie eigentlich Prof. Pfeiffer geschrieben?
Na ja, das war doch schon der zweite Amoklauf in Deutschland. Aber wenn ich im Fernsehen die Sendungen darüber gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass man die wirklichen Ursachen gar nicht erkannt hat. Klar, härtere Waffengesetze und das Verbot von Ego-Shootern … Alles richtig. Aber die Frage ist doch: Wie kann es überhaupt so weit kommen?

Und wie ist es bei Ihnen – fast – so weit gekommen?
Das ging so ein, zwei Jahre vor dem Abi los. Ich war mit 18 zu Hause rausgeflogen. Aber ich hatte zwei Freunde, die waren genau so Außenseiter wie ich, die hatten ganz ähnliche Probleme: mit den Eltern und mit den Frauen. Wir hatten alle drei keinen Stich bei den Frauen. Und darüber haben wir eben geredet.

Wie geredet?
Dass wir Frauen blöd fanden. Oberflächlich und total auf Äußerlichkeiten fixiert. Wir fanden auch das Fernsehen mit den vielen menschenverachtenden Sendungen – vergleichbar mit heute zum Beispiel DSDS – totalen Schrott. Menschen wurden dort bewertet, abgeurteilt und als Loser zurückgelassen. Wir waren so richtig frustriert und missgünstig und hatten einen totalen Hass auf die ganze Gesellschaft. Dann ging das los mit den ersten Ego-Shootern. Der allererste war Wolfenstein, in dem ist man immer in den Gängen eines Gebäudes rumgerannt und hat so Typen in Naziuniformen abgeballert.

Und was war daran so toll?
Dass man Druck abbauen konnte. Man konnte sich den ganzen Hass vom Leib spielen. Jetzt könnte man meinen, das wäre dann doch ein Ventil und nicht gefährlich. Aber das Problem war, dass ich dadurch überhaupt erst auf den Gedanken kam: Was wäre, wenn ich es auch mal in echt tun würde? Das besondere an Ego-Shootern ist ja, dass man immer durch irgendwelche Gänge rennt und alle Menschen abballert, die aus den Türen kommen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass es doch toll wäre, an unsere Schule zu gehen und sich mal so richtig an allen zu rächen! Das war lange, bevor es in Deutschland den ersten Amoklauf gab.

Habt ihr darüber auch miteinander geredet?
Absolut! Welche Lehrerin und welche Schülerinnen wir abballern! Und wo man sich in unserer verwinkelten Schule toll verstecken könnte.

Wir wollten immer nur die Frauen abballern

Stopp! Sie haben gerade nur von Lehrerinnen und Schülerinnen geredet. Wollten Sie denn nur Frauen erschießen?
Ja, genau das ist doch der Punkt. Wir wollten immer nur die Frauen abballern. Vielleicht noch ein paar Alphamännchen dazu. Aber richtig interessant waren die Frauen. Die Frauen, von denen man sich gedemütigt gefühlt hat und abgestoßen.

Warum?
Na, weil die Mädchen einem einen Korb gegeben hatten. Oder eben Lehrerinnen, die … ja … diese ganz Taffen, so'n Tick maskulin … also die klassischen Emanzen. Die waren uns auch ein Dorn im Auge. Bei den Schülerinnen waren es eher die Unemanzipierten, die wir im Visier hatten, die, die nur auf den Starken standen und mit Riesenausschnitt und Supermini rumgerannt sind. Bei den Lehrerinnen waren es im Gegenteil eher die besonders Emanzipierten, die, die einen in die Schranken wiesen. Die hat man auch gehasst. Bei den Sorten von Frauen fühlte man sich nicht ernst genommen.

Sind Ihre Mordfantasien denn immer nur um die Schule gekreist?
Na klar, das war der perfekte Ort. Supermarkt oder Zug war doch uninteressant. Die Schule war zu der Zeit unser Lebensmittelpunkt, wir kannten da viele. Und ich bin jeden Morgen mit Magenschmerzen in die Schule gegangen. Vor allem, als es aufs Abi zuging und auch noch der allgemeine Leistungsdruck zunahm.

Hatte der Frust auch was mit Leistungsdruck zu tun?
Klar, in allen Bereichen. Und diese Fantasien, die gaben so ein totales Allmachtsgefühl, weil man genau wusste: Die Anderen haben keine Chance. Es wäre ja langweilig, sich vor den Zug zu werfen, das sieht doch keiner. So ein Amoklauf, das ist einfach die finale Abrechnung. Später hatte ich denn auch mal so fixe Ideen mit Kirchen, weil ich so einen Hass auf meine religiöse Erziehung hatte.

Habt ihr eigentlich auch Pornos geguckt?
Nein, das kam bei mir erst später, in der Bundeswehr. Meine sehr katholische Mutter hatte uns ja sehr prüde erzogen. Sogar aus den Neckermann-Katalogen hat sie die Bikini-Fotos rausgeschnitten und aus den Medizinbüchern die sexuellen Darstellungen. Die war total körper- und lustfeindlich.

Hattet ihr drei auch echte Waffen?
Wir hatten alle Waffen: Totschläger, Springmesser und Gaspistolen.

Ich sehe sie nicht als Menschen, das sind Schweine!

Habt ihr nicht auch mal Skrupel gekriegt, wenn ihr so in Mordfantasien geschwelgt habt?
Lichte Momente? Ja, die gab es. Dass man dachte: Das kannst du eigentlich nicht machen. Aber dann sagte man sich wieder: Die Anderen, das sind ja gar keine Menschen. Die haben mit mir kein Mitleid gehabt, also habe ich jetzt mit denen auch kein Mitleid. Die haben mich wie einen Unmenschen behandelt… also sehe ich sie auch nicht mehr als Menschen! Das sind Schweine!

In der Zeit hattet ihr alle drei keine Freundin?
Nee, keiner von uns.

Und ihr hattet alle Probleme mit den Eltern?
Ja. Meine beiden Kumpels waren ohne Vater aufgewachsen. Die Mutter von dem einen war Alkoholikerin, die von dem anderen hat ihn extrem bemuttert. Das widerte ihn regelrecht an!

Aber Sie haben doch Vater und Mutter. Sie kommen aus einer Akademikerfamilie und haben fünf Geschwister.
Aber meine Eltern hatten beide ein Alkoholproblem, waren total überfordert. Meine Mutter hatte ernsthafte psychische Probleme und extreme Stimmungsschwankungen: von supernett bis extrem autoritär. Gewalttätig war sie nicht, das hat sie immer an meinen Vater delegiert. Na, und der hat ordentlich geprügelt. Und wenn ich nachmittags von der Schule kam, wusste ich nie: Hat sie jetzt gute oder schlechte Laune? Und ab sechs Uhr abends wurde getrunken.

War Ihre Mutter berufstätig?
Nein, sie hatte ja genug zu tun mit sieben Kindern. Mein Vater war selbstständig, und sie hat ihren Beruf als Ingenieurin erst sehr viel später ausgeübt, so hobbymäßig. So lange wir klein waren, hat unsere Mutter uns total isoliert und kontrolliert. Ich durfte nicht in den Kindergarten, denn da waren ja nur die armen Kinder von den Rabenmüttern. Wir durften auch nicht in den Fußballverein, denn sonntags musste man ja in die Kirche. Und auf Klassenfahrten durften wir auch nicht mitfahren – da hätten wir ja darüber reden können, was bei uns zu Hause so los was.

Und Ihr Vater?
Mein Vater? Der war beruflich sehr erfolgreich, aber in der Familie abwesend. Bis heute weiß ich eigentlich nicht, was ihn interessiert – außer der Arbeit und dem Garten: Wie ich klein war, habe ich meine Mutter gehasst, später war es eher der Vater. Als ich in die Pubertät kam, habe ich angefangen, ihn zu verachten. Weil er alles gemacht hat, was sie gesagt hat. Er war ein Schwächling. So einer wollte ich nicht werden.

Ab wann wurden Ihnen denn Ihre Probleme bewusst?
Ab der Grundschule. Da war ich als Junge ein totaler Außenseiter. Ich habe eigentlich nur mit Mädchen gespielt, die haben mich wenigstens akzeptiert. So Mädchenspiele, die mir total suspekt vorkamen …

Was denn für Spiele?
Ach, das ist echt peinlich …

Wir sind ja hier nur Mädchen. Uns können Sie es doch sagen.
Na ja, so Gummihüpfen und Fangenspielen im Pausenhof. Ich hätte sehr viel lieber Fußball gespielt. Die Jungs fanden mich dadurch dann noch komischer, beschimpften mich als "Weiberheld" und so. Dabei kam ich mir überhaupt nicht so vor.

Über uns wurde sich nur lustig gemacht

Und ab wann sind Sie zu den Männern gestoßen?
Ab dem Gymnasium. Im ganzen ersten Jahr hatte ich überhaupt keine Kontakte, denn die Mädchen von meiner Grundschule gingen nicht aufs Gymnasium. Aber dann habe ich mich mit ein paar anderen Außenseitern zusammengetan. Es war ja ziemlich schnell klar, wer die Alphamännchen in der Klasse sind: die sportlich gut waren, coole Klamotten und immer einen Spruch drauf hatten. Die hatten dann auch die tollen, gut aussehenden Mädchen um sich rum. Über uns wurde sich nur lustig gemacht …

Und Ihre Außenseiter-Clique?
Wir haben uns meist zu Hause getroffen und Computer gespielt. Aber wir haben auch sehr viel geredet. Man wird ja in so einer Situation zu einem nachdenklichen Menschen. Außenseiter sind Jungs, die sich viele Gedanken über die Welt machen, aber nicht damit klarkommen.

Und ab wann wurde die Situation heikel?
So ab der siebten, achten Klasse. Nachdem ich die ersten Körbe von Mädchen gekriegt hatte. Da habe ich begriffen, dass ich als Mann überhaupt nicht ankomme. Dass da andere gefragt sind. Ich fing an, frustriert zu sein und so ein Gefühl von Demütigung und Ablehnung zu kriegen. Irgendwann war mein Misserfolg bei Mädchen dann mein Hauptproblem.

Waren denn auch freundliche Abweisungen für Sie ein Problem?
Klar! Ich fand das nicht unbedingt klasse, wenn eine sagte: Du bist lieb und nett, ein guter Kumpel, aber nicht mein Typ. Es gab aber auch so richtig verächtliche, in der Art: Was willst du eigentlich? Guck mal in den Spiegel!

Der Misserfolg bei Mädchen war mein Haupt-problem

War denn so gar nicht der Typ des schüchternen Helden angesagt? So à la James Dean?
Genau das wollte ich immer werden: ein schüchterner Held! Aber es ist mir nicht gelungen. Dabei war ich nicht ohne Selbstbewusstsein. Ich wusste, dass ich nicht dumm bin und habe versucht, Frauen über charakterliche Dinge zu beeindrucken. Fehlschlag.

Und wann hat es zum ersten Mal geklappt?
Mit 19. Da war ich zum ersten Mal richtig verliebt, wollte eine Beziehung haben. Auf Sex hatte ich es noch gar nicht abgesehen. Aber das hat nur sechs Wochen gehalten. Ich bin zum Bund gekommen, wir haben uns ein paar Wochen nicht gesehen und plötzlich hieß es: Ich war eigentlich schon immer an einem anderen interessiert, und mit dem bin ich jetzt zusammen; es tut mir leid, aber wir können ja gute Freunde bleiben. Da wusste ich noch nicht, dass ich diesen Satz noch öfter hören würde …

Sie sind nach dem Abitur zur Bundeswehr gegangen?
Da kam ich gut klar! Das war so eine ganz archaische Sache. Ich wurde total gefordert, bekam auch schon mal Tadel, aber auch Lob. Wir hatten alle Uniformen an, waren alle gleich. Unser einziges Feindbild waren die Vorgesetzten, untereinander haben wir total zusammengehalten. In der Zeit hatte ich auch nicht mehr diese Amokfantasien.

Aber jetzt waren die Pornos angesagt?
Stimmt. Als ich das erste Mal Nachtdienst hatte, da kam der Unteroffizier und hat gesagt: Hier hast du was zu lesen für heute Nacht. Und dann hat er mir einen Riesenstapel Playboys hingelegt. Auch in den Gesprächen unter Kumpels ging es vor allem um Sex. Ich hab da nur zugehört, ich hatte ja auf dem Gebiet nicht viel vorzuweisen. Aber ich wollte nicht, dass das jemand merkt: Umso lauter habe ich dann natürlich bei den Pornos mitgeprahlt.

Und die Ausbildung an den Waffen?
Na, da ist man natürlich auch auf Fantasien gekommen: Und wenn ich jetzt mal ernst mache …?

Und nach der Bundeswehr?
Da habe ich meine Ausbildung als Kaufmann gemacht und kam in ein Großraumbüro mit 40 Frauen. Das war ein krasser Bruch. In der Bundeswehr war ich ja in einer sehr männlichen Welt gewesen – und jetzt diese Frauenwelt. Die meisten waren nicht gerade emanzipiert, sondern hatten ziemlich traditionelle Vorstellungen, wie ein Mann zu sein hat. Da habe ich überhaupt nicht gepasst, ich wurde wieder zum totalen Außenseiter. Die Frauen haben mich so richtig gemobbt, haben mir Fehler untergeschoben. Eine hat sogar vorm Chef behauptet, ich wäre ihr hinterhergestiegen. Das war wirklich frei erfunden! Ich habe nie was von der gewollt. Die Leute lassen einfach ihren Frust an Schwächeren ab. – Da habe ich dann eine richtig krasse Wut auf Frauen gekriegt. Meinen beiden Kumpels von damals ging es übrigens nicht anders, die hatten vor allem Ärger mit Frauen in Führungspositionen.

Und wie haben Sie reagiert?
Ich bin dann zu einem richtigen Chauvinisten geworden. Ich habe alle Frauen minderwertig gefunden, mich richtig vor denen geekelt. In der Zeit habe ich dann sogar ein paar homosexuelle Erfahrungen gemacht. Heute ist mir klar, dass das weniger mit meinen Interessen an Männern zu tun hatte, sondern eher mit meiner Verachtung für Frauen. Heute ist klar, dass ich auf Frauen stehe.

Wie sind Sie denn eigentlich von Ihrem Horrortripp wieder runtergekommen?
Ich bin krank geworden. Und ich kriegte Zwangsstörungen: Zählzwänge, Kontrollzwänge, irgendwann bin ich gar nicht mehr aus dem Haus gegangen. Ich hatte Angst vor dem ganzen Leben, eine krasse Depression. Ich bin dann zum Psychologen gegangen und hab gesagt: Ich kann nicht mehr.

Über so was spricht man einfach nicht

Und da wurde Ihnen geholfen?
Nee, erstmal bin ich bei den Falschen gelandet. In einer ganz traditionellen Psychiatrie, wo ich immer kränker wurde. Da bin ich dann nach ein paar Monaten abgehauen. Und dann habe ich das wahnsinnige Glück gehabt, den richtigen Therapeuten zu finden, in einer Fachklinik, wo ich acht Monate lang stationär behandelt worden bin.

Und dem haben Sie von Ihren Amokfantasien erzählt?
Nein, das weiß selbst er bis heute nicht. Das ist das einzige, was ich nie gesagt habe. Über so was spricht man einfach nicht. Das wäre ja, wie wenn jemand erzählt, dass er pädophil ist. Beides ist ja die unterste Stufe, das Niederste, was man machen kann.

Sie hatten einen Mann als Therapeuten?
Klar, ich hätte zu diesem Zeitpunkt niemals eine Frau akzeptiert. Das hat der Therapeut auch sofort gemerkt, mein Problem mit den Frauen. Ihn aber habe ich dann ziemlich schnell akzeptiert.

Warum?
Er war absolut sachlich, streng und konsequent, aber nie willkürlich. Er hat mich als Mensch respektiert und auch Mitgefühl gehabt – aber eben kein Mitleid. Vorher die Therapeuten, die hatten alle Mitleid, da hatte ich immer das Gefühl: Die fangen gleich selbst an zu heulen, wenn ich ihnen von meinem Leben erzählte. Die habe ich alle um den Finger gewickelt. Doch mit dem ging das nicht. Von ihm habe ich mir auch sagen lassen, was bei mir selbst schief lief – und darüber nachgedacht. Ich fand ihn auch als Mann bewundernswert. Er ist bis heute mein Vorbild.

Was für ein Mann war denn Ihr Therapeut?
Als ich am Anfang immer argumentiert habe: typisch Mann, typisch Frau, da ging dem das total auf den Nerv. Er hat mich provoziert und gesagt: Es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Sie denken nur so, weil Sie in Wahrheit damit Ihre Mutter meinen.

Und was haben Sie daraus gelernt?
Mein Therapeut hat mir geholfen, meinen eigenen Fehler zu erkennen. Und auch, eine gewisse Frustrationstoleranz zu entwickeln: Ich kann ja nicht jeder gefallen. Ich muss auch mit Abweisungen umgehen können.

Was machen eigentlich die beiden Kumpel von damals heute?
Der Eine hat eine ganz tolle Freundin, die ihn wirklich so akzeptiert, wie er ist. Um den anderen mache ich mir, ehrlich gesagt, ein bisschen Sorgen. Er hat das Studium abgebrochen, hat Schulden – und vor zwei Wochen hat er mir nachts gemailt: "Ich hab die Schnauze voll. Ich räche mich nochmal an allen …" Da habe ich am nächsten Morgen gleich angerufen, aber angeblich hat er sich an nichts erinnert. Ich habe dann Freunde organisiert. Das war ganz toll, unheimlich viel Solidarität. Wir haben ihm auch Geld gegeben, und er war echt gerührt. Jetzt will ich mal hoffen …

Sie sind ja sechs Geschwister gewesen, darunter eine jüngere Schwester. Wie geht es der heute?
Die ist in den letzten drei Jahren völlig abgedriftet.

Wohin?
Sie ist extrem exhibitionistisch, in tausend Socialnetworks online, mit Steckbrief und Aktfotos. Die können 80 Millionen Deutsche nackt sehen. Phasenweise hat sie auch Drogen konsumiert. Und bis heute hat sie unterschwellige Essstörungen.

Eine Familie – aber sehr unterschiedliche Folgen für den Jungen und das Mädchen.
So ist es.

Haben Sie jemals mit Ihren Eltern über all das geredet?
Nein. Seit ich die Therapie gemacht habe, bin ich souveräner und weiß mit meinen Eltern umzugehen. Neulich hat meine Mutter zur späten Stunde sogar meine Hand genommen und meine Backe getätschelt. Und dann hat sie gesagt: Ich bin stolz auf dich und hab dich total lieb. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass meine Mutter so was zu mir gesagt hat. Seither lass ich mich auch mal von ihr in den Arm nehmen, ohne es unerträglich zu finden. Aber über meine Probleme von früher mit meinen Eltern reden … Nein. Ich glaube nicht, dass die sich rückwirkend Fehler eingestehen würden. Sie haben alles verdrängt, was sie falsch gemacht haben. Das jetzt nachträglich einzugestehen – da würde ja eine Welt für die zusammenbrechen.

Haben Sie heute Menschen, von denen Sie sich verstanden fühlen?
Absolut. Ich habe eine gemischte Freundesclique, mit ganz tollen Frauen und tollen Männern. Heute habe ich keine Probleme mehr … und wenn, dann weiß ich, dass es meine Verantwortung ist, sie zu lösen.

Das Gespräch führten Chantal Louis und Alice Schwarzer

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