Erfolg mit der Null-Toleranz-Politik

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Völlig aufgelöst stürzt Henri Michal (Name von Red. geändert) ins Büro des Heimleiters. Mitte 40 ist er, von mittelgroßer Statur, er trägt ein Hemd in Rosa, eine elegante schwarze Hose – ein eher unauffälliger Mann. Nun wedelt er aufgeregt mit einem Brief: Der Anwalt seiner Frau hat auf drei Seiten die Forderungen von Madame Michal ­fest­gehalten: drei Viertel des gemeinsamen Hauses, monatlich 650 Euro Alimentezahlungen für die drei gemeinsamen ­Kinder – und die Scheidung. „Meine Frau lässt mir gerade mal das letzte Hemd“, ereifert sich Henri. „Da habe ich gerade noch Geld für eine kleine Wohnung. Was sollen meine Kinder essen, wenn sie mich besuchen kommen?“ Auf seinem Gesicht spiegelt sich eine ­Mischung aus Verzweiflung und Wut.

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Jean-Luc Fleury gibt sich Mühe, sein ­Gegenüber zu beruhigen. Erläutert im väterlichen Ton, dass das Scheidungs­urteil ja noch lange nicht gefällt sei, dass auch Michal seine Forderungen einbringen könne. Doch gleichzeitig flicht der Heimleiter immer wieder ein: „Sie sind kein Opfer. Sie sind ein Täter, sie haben ihre Frau geschlagen.“ Allmählich tröpfelt die Botschaft in Michals Hirn. Bis er endlich einräumt: „Dass ich meine Frau verprügelt habe, war das Ende unserer Ehe. Und daran bin ich schuld.“

Solche Szenen erlebt Jean-Luc Fleury täglich. Denn Fleury leitet ein Heim für Männer, die ihre Frau oder ihre Kinder misshandelt haben. Und deswegen von der Justiz ins „Home des Rosati“ eingewiesen wurden. Das „Männerhaus“ ist im Dezember 2008 in der nordfranzösischen Kleinstadt Arras eröffnet worden und eine Einrichtung, die europaweit einmalig ist. Seit Jahren propagiert die Staatsanwaltschaft im Großraum Arras bei Häuslicher Gewalt die Politik „tolérance zéro“ – null Toleranz. Konkret bedeutet das: Es reicht schon aus, dass ein Mann seine Gefährtin gewalttätig anrempelt, um ihn vor ­Gericht zu bringen – und eine mehrwöchige ­Kontaktsperre zu verhängen.

Mit der Null-Toleranz-Politik reagieren die Verantwortlichen in der Region auf eine erschreckende Realität in ganz Frankreich: Laut Polizeistatistik stirbt alle zweieinhalb Tage eine Frau an den Schlägen ihres Mannes beziehungsweise Ex-Gefährten. Und Nordfrankreich steht an zweiter Stelle bei der Zahl der Frauenmorde, gleich nach dem Großraum Paris.

Im Kampf gegen die Gewalt an Frauen reicht es nicht, die Täter wegzuweisen oder wegzusperren, lautet hier die Überzeugung. Wenn beispielsweise in Deutschland ein gewalttätiger Mann von der Polizei aus der Wohnung geholt wird und zehn Tage Kontaktsperre zur Familie ­erhält, muss er bei Freunden, Angehörigen, im Hotel oder schlimmstenfalls im Obdachlosenheim Unterschlupf suchen. Was ihn im schlimmsten Fall noch aggressiver macht. In Arras öffnet ihm das Home des Rosati die Pforten für die Dauer der Kontaktsperre, die bis zu drei Monaten dauern kann. Die Staatsanwaltschaft ­gehört zu den Trägern des Home des Rosati, zusammen mit der Gemeinde Arras und zwei privaten Vereinen.

Henri Michal ist vor drei Wochen hier ­gelandet. Einige Tage zuvor hatte ihm seine Frau eröffnet, sie wolle sich scheiden lassen. Er greift zum Bier – und prügelt los: „Da bin ich völlig umnebelt auf meine Frau los und habe ihr mehrere Schläge und Fußtritte verpasst.“ An mehr erinnert sich der Mann angeblich nicht. Eine halbe Stunde später rückt die Polizei an und nimmt ihn mit. Ausnüchterungszelle, Verhör, Justiz, Kontaktsperre. ­Henris Welt ist völlig aus den Fugen. Als er nach zwei Tagen Haft entlassen wird, steckt man ihm die Adresse des Home des Rosati zu. „Im Heim traf ich ein paar Männer, die mir eine Zigarette anboten: Sie waren alle in derselben Situation wie ich“, erinnert sich Henri. „Und danach kamen die Sozialarbeiter auf mich zu und kümmerten sich um mich.“

Seither bemüht sich Henri, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Sein Übergangszuhause besteht aus einem kleinen Schlafzimmer im ersten Stock des Heims: ein Feldbett, ein Hocker, ein Tisch, ein Wandschrank. Daneben ein kleines Bad, das er mit den anderen Heimbewohnern teilt; bis zu elf, wenn alle Betten belegt sind. Im Erdgeschoss ein Wohnzimmer mit zwei schwarzen Ledersofas, zwei ­Sesseln, einem Couchtisch, einem kleinen Fernseher, einem verstaubten Gummibaum. Direkt daneben das Esszimmer, ebenso spartanisch und schmucklos eingerichtet. Und die kleine Küche. Dahinter das Büro der Sozialarbeiter.

Im Flur hängt die Hausordnung: Die Heimbewohner haben selbst zu putzen, ihre Zimmer, die Gemeinschaftsanlagen. Sie haben selbst zu kochen. Und sie müssen je nach Einkommen täglich zwischen fünf bis achteinhalb Euro für Unterkunft und Verpflegung zahlen. „Dass die Heimbewohner alles selber machen müssen, hat einen guten Grund“, erläutert Marie ­Lebreton: „Wir wollen damit sexistischen Rollenbildern entgegenarbeiten.“ Kaum einer der Männer, der bei seiner Ankunft hier nicht felsenfest überzeugt wäre: ­Putzen und Kochen, das sind Frauenjobs …

Lebreton ist eine der Sozialarbeiterinnen im Home des Rosati. Sie arbeitet für den Verein „Le coin familial“ (Die Familienecke), der das Haus leitet. Und sie ist seit der Eröffnung dabei. Die Mittzwanzigerin weiß aus Erfahrung: Kaum ein Mann kommt freiwillig hierher. Der Justizbeamte lässt ihnen nur die Wahl zwischen Knast und Heim. Was nicht ganz legal ist, aber wirksam.

„Die Männer kommen meist sehr wütend hier an“, ­erzählt sie. „Sie verharmlosen ihre Tat oder behaupten, gar nicht gewalttätig ­gewesen zu sein.“ Es dauert ein paar Tage, bis die Männer Abstand finden, sich ihrer Tat bewusst werden. „Dann empfinden die meisten Schuld und Scham, sie ­bedauern“, berichtet Lebreton. „Und dann gestehen sie oft auch ein, dass sie ihre Frau nicht nur einmal geohrfeigt, sondern dass sie sie richtig geschlagen haben.“

Lebreton und ihre Kollegen helfen den Heimbewohnern bei Behördenangelegenheiten und vermitteln Kontakte zu ­Alkohol- und Drogenberatungsstellen. Vor allem helfen sie den Männern dabei, sich ihre Taten, ihr Verhalten bewusst zu machen. Zu verstehen: Wenn sie gegen ihre Frauen und Kinder gewalttätig wurden, ist dies weder normal noch tolerierbar.

Zwischen morgens um sieben und abends um sechs haben die Heimbewohner freien Ausgang, wer einen Job hat, geht zur ­Arbeit. Abends ist die Tür abgeschlossen, darf keiner mehr raus. Dann bieten die Sozialarbeiter im Heim Beratungsgespräche an. Sie essen mit den Heimbewohnern, sehen mit ihnen fern. Und nutzen jede Gelegenheit zu Diskussionen, zum Nachhaken, zu Auseinandersetzungen rund um das Thema Gewalt, stereotype Geschlechterrollen, Sexismus. Themen, die die Täter Häuslicher Gewalt auch in der obligatorischen Gruppentherapie ­behandeln. Drei Wochen dauert das Programm, vier Sitzungen pro Woche, von 18 bis 20 Uhr.

Da sitzen die Soziologin Amélie Cassarin Grand und die Psychologin Florence Victor vor den Männern und es geht ans Eingemachte. Die beiden jungen Frauen entlarven Rollenklischees, decken gemeinsam mit den Teilnehmern die Mechanismen auf, wie Gewalt entsteht, sich Bahn bricht. Ihr Gewaltbegriff ist breit gefächert: von körperlicher über sexuelle und psychologische Gewalt bis hin zum Ausnutzen der wirtschaftlichen Macht. Und in der dritten Woche geht es dann darum, wie man gewalttätige ­Ausbrüche vermeiden kann.

Bei der allerersten Sitzung sorgen Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Polizei, des Sozialamts und des Vereins AAARS dafür, dass glasklar ist, wo es langgeht. Vereinsdirektor Benoît Durieux: „Was wir anbieten, ist ein Programm, um ­gewalttätigen Männern zu helfen, sich ihrer Verantwortung für ihr Verhalten zu stellen.“ Immer wieder werden die Männer mit dem Fakt konfrontiert: Sie sind Straftäter.

„Mancher versucht immer mal wieder, in die Opferrolle zu schlüpfen, aber da kennen wir kein Pardon“, versichert Soziologin Cassarin Grand. Zum Aufnahmeritual gehört ein Einzelgespräch, bei dem jeder Neuankömmling vertraglich festlegen muss, welches Ziel er sich setzt. „Die meisten schreiben: Sie streben an, die Gewalt in sich zu besiegen“, berichtet Psychologin Victor. „Und viele wollen sich engagieren, um ihre Ehe oder ihre Beziehung zu retten.“

Unterschreiben müssen die Männer auch, dass sie einverstanden sind, dass ein Sozial­arbeiter Kontakt zu ihrer Frau aufnimmt – dem Opfer. Und ihr mit Rat und Tat zur Seite steht und hilft, ein anderes, von ­Gewalt freies Leben aufzunehmen.

Der Verein AAARS mit Sitz in Lille existiert seit 1947 und bietet Frauen und Kindern in der Region soziale Hilfe bei der gesellschaftlichen Wiedereingliederung. 2002 eröffnete die Organisation eine spezielle Anlaufstelle für Frauen, die Opfer Häuslicher Gewalt wurden: die „Ecoute Brunehaut“. Aus den Erfahrungen dort entstand die Idee für das Home des Rosati. „Wenn sich keiner um die Täter kümmert“, meint Benoit Durieux, „dann dreht sich die Gewaltspirale immer weiter. Die Arbeit mit den Tätern ist vor allem auch eine Hilfe für die Opfer.“

Durieux, Typ dynamischer Mittdreißiger, hat sein Büro in einem großen Bau im südlichen Viertel von Lille: einer alten, ­heruntergekommenen Notherberge für Frauen. „Die Kosten der Häuslichen ­Gewalt für die französische Gesellschaft belaufen sich jährlich auf über eine ­Mil­liarde Euro“, ­zitiert der Vereinsdirektor ­offizielle Zahlen. „Eingerechnet sind da die Kosten für die Arbeit von Justiz, Polizei, Sozialämtern, die Kosten für die ­medizinische Versorgung der Opfer, die Kosten, die dem Arbeit­geber entstehen, wenn geschlagene Frauen arbeitsunfähig sind und so weiter.“

Das Leid der Frauen lässt sich nicht beziffern … Die Unterbringung eines Misshandlers im Home des Rosati dürfte also gut investiertes Geld sein.

Wiederholungstaten zu unterbinden, das ist ein zentraler Punkt bei der Arbeit in Arras. Staatsanwalt Jean-Pierre Valensi, einer der Taufpaten des Männerhauses, will so auch die Kinder schützen. „Heute weiß man: Jungen, die in einem gewaltbelasteten Umfeld aufwachsen, neigen später selbst zu Gewalttaten. Mädchen werden als Frauen ein potenzielles Opfer von Gewalt.“ Je früher die Gewaltspirale unterbrochen wird, desto größer sind die Chancen, beides zu verhindern.

„Gewalt an Frauen: dem Unerträg­lichen ein Ende bereiten“ heißt der Bericht zum Thema „Kampf gegen Gewalt an Frauen“, den eine Kommission des französischen Parlaments 2009 herausgab. 500 Seiten umfasst das Werk, das auch Genitalverstümmelung, Zwangsehen oder ­Gewalt am Arbeitsplatz dokumentiert. Zwar, so das Fazit der Abgeordneten, habe Frankreich in den letzten Jahren ­einiges zur Bekämpfung der Häuslichen Gewalt getan. So hat Präsident Sarkozy in seiner Zeit als Innenminister dafür ­gesorgt, dass es in Polizeiwachen Sozial­arbeiterInnen oder PsychologInnen gibt, die die Gewaltopfer betreuen. Auch das Strafgesetzbuch wurde geändert: Ist der Täter, der eine Frau misshandelt, der Ehemann oder Lebensgefährte, erhöht sich das Strafmaß.

Und auch die Botschaft mehrerer TV- und Presse-Kampagnen lautet: ­Gewalt an Frauen ist kein Kavaliersdelikt! Dennoch ist die Gewalt gegen Frauen immer noch viel zu alltäglich. Allein in 2008 wurden 156 Frauen von ihren Ehemännern oder Lebensgefährten umgebracht. Deshalb erklärte der französische Premierminister François Fillon den Kampf gegen Männergewalt am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, zur „Grande cause nationale“, zur Staatsangelegenheit.

Deshalb will die Kommission handeln – symbolisch wie faktisch. Sie schlägt vor, die Ächtung der Gewalt an Frauen in der französischen Verfassung zu verankern. Außerdem fordert sie die Einrichtung einer landesweiten Beobachtungsstelle, wie das Département Hauts-de-Seine im Pariser Norden schon vor Jahren gegründet hat: Das „Observatoire des violences envers les femmes“ sammelt Daten zum Thema, gibt Studien in Auftrag, startet Kampagnen. Und organisiert einen Schweigemarsch, wenn wieder mal eine Frau in der Region an den Schlägen ihres Mannes starb. Das verändert die Mentalitäten.

Genau das liegt auch den Parlamentariern am Herzen, die sich auch der ­Forderung nach einem Rahmengesetz nach ­spanischem Vorbild anschlossen. Dazu gehört zum Beispiel, in der Schule ­Unterrichtsmodule zum Thema Geschlech­terstereotype einzuführen. Damit schon Klein-Jacques lernt, dass Frauen ­gleich­berechtigte Wesen sind.

Von einer solchen Präventiv-Politik ­träumen auch die Verantwortlichen in Arras. Immerhin haben sie schon einige Erfolge vorzuweisen. Allein in den ersten neun Monaten haben insgesamt 43 ­gewalttätige Männer am Programm des Centre Clotaire teilgenommen. 38 unter ihnen wurden vom Home des Rosati ­geschickt. Die fünf anderen kamen freiwillig, zu Einzelsitzungen. Männer quer durch alle Altersgruppen, der Jüngste gerade mal 22, der Älteste 71. Quer durch alle Berufsgruppen, vom Unternehmer bis zum Arbeitslosen.

Über die Hälfte der Teilnehmer war vom Gericht verdonnert, einen Anti-Alkoholiker-Verein zu konsultieren. 58 Prozent der Männer konnten nach dem Programm wieder zu ihren ­Familien heimkehren. „Mancher bittet uns um Einzelstunden, um eine individuelle Nachbetreuung“, erläutert die Soziologin. Das wichtigste Resultat jedoch: Von allen Programmteilnehmern ist nur ein einziger bisher rückfällig geworden.

Im Home des Rosati hat Henri Michal den Brief mit dem Scheidungsantrag ­seiner Frau zur Seite gelegt. Die Wut macht einer tiefen Hoffnungslosigkeit Platz. „Dass 16 Jahre Ehe so enden, ­bedeutet ein gigantisches Scheitern für mich“, bemerkt er, bitter und verunsi­chert gleichzeitig. Die letzten drei ­Wochen hat er geheult wie nie zuvor in seinem Leben. Erst im Heim hat er mühsam gelernt, über seine Gefühle, Wünsche, Erwartungen zu sprechen; hat sich eingestanden, dass seine Ehe schon vor geraumer Zeit gescheitert, dass auch er seit Jahren unglücklich ist. Im Gruppenprogramm, bei den täglichen Gesprächen mit den Sozialarbeitern und den Mitbewohnern hat Henri schmerzhaft begriffen: Schläge machen nur alles kaputt: „Hätte ich vor zwei Jahren Leute getroffen wie die, dann wäre es nie soweit gekommen.“

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Dossier Männergewalt (1/10)
 

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