Amokfahrer: Krank oder gekränkt?

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So hat ihn sich wohl niemand vorgestellt. Zwei Justizwachebeamte führen jenen Mann herein, der gut ein Jahr zuvor mit seinem Geländewagen die halbe Grazer Innenstadt niedergemäht hat. Er geht geduckt, sein viel zu großer weißer Anzug schlottert um ihn. Wird er etwas gefragt, antwortet er leise, nuschelnd. Viel sagt er nicht, einen Satz aber immer wieder: „Es tut mir leid, was passiert ist. Aber ich bin selber Opfer.“

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Bei seiner Frau wurden Würgemale dokumentiert 

Jeder hatte zuvor das Foto gekannt, das während seiner tödlichen Fahrt aufgenommen wurde: bärtig, muskulös, im Ruder-Shirt, hochkonzentriert und mit aggressivem Blick umklammert R. das Lenkrad.

Am 20. Juni 2015, an einem sonnigen Samstag, die Innenstadt voller Leute, war Alen R. mit einem SUV durch die Stadt gerast. Durch die Fußgängerzone, über Gehsteige. Dabei tötete er drei Menschen, darunter ein vierjähriges Kind. Zahlreiche Menschen wurden teils schwerst verletzt. Am Ende blieb R. bei einer Polizeistation stehen und ließ sich festnehmen.

Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch nicht Anklage wegen mehrfachen Mordes und 110-fachen Mordversuchs erhoben, sondern die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt beantragt. Damit folgte sie dem Obergutachter, der R. als zum Tatzeitpunkt für unzurechnungsfähig erklärte. R. behauptet, er habe während der Fahrt Schüsse gehört, sich bedroht gefühlt und sei in Panik geflüchtet. War er also so krank, dass er sein Unrecht nicht einsehen konnte? Oder schützt er dies bloß vor?

Alen R. war als Vierjähriger mit seinen Eltern vor dem Bosnienkrieg nach Österreich geflüchtet. Seit vielen Jahren lebt die Familie in einem Haus in der Nähe von Graz. 2014 riefen Nachbarn die Polizei, weil Alen mit dem Gewehr aus dem Haus geschossen hat. Die Beamten nehmen ihm Waffe und 995 Stück Munition ab und erteilen Waffenverbot. Mehr nicht.

Über ein Online-Portal lernt R. die Bosnierin Elena kennen, bei der Hochzeit ist sie 18 Jahre alt. Für ihn ist es die zweite Ehe, die erste bestand nur auf dem Papier. Aber auch Elena und deren Familie hätten „nur Geld“ haben wollen, klagt er heute. Laut der Exfrau dagegen hatte er sie im Mai 2015 wie schon so oft geschlagen und getreten. Sie alarmiert ihre Mutter, die ruft die Polizei.

Alen R. wird weggewiesen. Aus dem eigenen Haus, soll er später zu einer Gutachterin gesagt haben. „Wie ein Zigeuner. Wie ein Hund.“ Mit den zwei Kleinkindern zieht die Frau ins Frauenhaus. Bei ihr werden Würgemale dokumentiert.

Vor Gericht tritt nun eine sehr zarte junge Frau in den Saal, eine Opferschützerin muss sie stützen. „Ich kann nicht“, bringt R.s geschiedene Frau zwischen Weinkrämpfen heraus, und: „Ich will nach Hause. Zu Kindern.“ R. habe sie ständig geschlagen, auch in den Schwangerschaften. Die Schwiegereltern hätten zugeschaut.

Ab der Geburt des ersten Kindes habe R. intensiv Cannabis geraucht und sei dann noch aggressiver geworden. Einmal, ein paar Monate vor der Amokfahrt, sei er eine Woche lang mit Bus und Straßenbahn durch die Stadt gefahren – mit einer Machete in der Tasche. Man dürfe ihm nichts glauben: „Er ist ein guter Schauspieler.“

War Alen R. nun zurechnungsfähig oder nicht?

Hinweise, Alen R. sei vielleicht ein Islamist, schwächt seine Exfrau ab. Zwar sagt sie, er habe sie gezwungen, Kopftuch zu tragen, und seine Beteuerung, er sei Christ, sei Lüge: „Er ist Moslem.“ Sie habe aber nur einmal von einem Besuch in der Moschee reden gehört, er bete auch nicht. Auch von einschlägigen Kontakten wisse sie nichts – vielmehr habe er sich zu Hause verkrochen.

Frau und Kinder sind gerade drei Wochen weg, als Alen R. am 20. Juni postet: „Hurensöhne Not in my Name“. Er fährt nach Graz. Um ein Mädchen kennenzulernen, sagt er. Er habe sich übers Internet verabredet, es sei aber niemand aufgetaucht. Die Geschichte kann nie verifiziert werden. Dann habe er Schüsse gehört und überall Männer gesehen, die ihm bedrohliche Zeichen gemacht hätten. „Ich habe Panik gehabt, Todesangst“, sagt er. R. steigt aufs Gas. Innerhalb weniger Minuten zieht er eine blutige Spur durch die Stadt.

Mucksmäuschenstill ist es im Saal, als das Polizeivideo von der Lage direkt nach der Tat eingespielt wird. Breitbeinig sitzt R. da, antwortet patzig. Seit Jahren werde er bedroht. Von Islamisten, Bosniern, der türkischen Mafia. Aber niemand helfe. „Ich wohne schon jahrelang in Graz, das ist ja nicht normal, wenn man da behandelt wird wie ein Hund“, blafft er. Und: „Da kann ich gleich ins Gefängnis gehen.“

Was heißt das alles nun? War R. zurechnungsfähig oder nicht? Ja, meinte ein psychiatrischer Gutachter; nein, der andere. Also wurde mit Jürgen Müller von der Universität Göttingen ein „Obergutachter“ bestellt, der ebenfalls feststellte: Paranoide Schizophrenie. R. habe in seinem „Wahn“ nicht anders können. Der dritte Psychiater und die psychologische Gutachterin sahen R. dagegen in einer Reihe mit „gewöhnlichen“ Amoktätern. Psychologin Anita Raiger ortet Widersprüche: „Er sagte, er fühle sich von dunklen Männern verfolgt. Warum fährt er dann Frauen und Kinder nieder?“

Das Gericht verurteilte ihn
zu lebenslanger Haft

Beide Gutachter beschreiben R. als unsicher und abhängig. „Er hatte zuvor noch keine Nacht ohne Eltern verbracht.“ Die Gutachterin stellte einen IQ von 130 und damit Hochintelligenz fest. Dennoch habe R. beruflich nie Fuß fassen können. Es handle sich um „gekränkte Männlichkeit“.

Der Autohandel, den er zuletzt betrieb, sei schlecht gegangen, er bezog nebenher Arbeitslosengeld. Zwei Frauen verließen ihn, er wurde weggewiesen. Die Kinder waren auch weg und damit das Kinder-Geld. „Die Amokfahrt war“, sagt Gutachterin Raiger, „ein Racheakt an der Gesellschaft.“

Die Geschworenen folgen ihr und dem Psychiater mit der Minderheitenmeinung. Sie befinden R. für zurechnungsfähig. Das Gericht verurteilt ihn zu lebenslanger Haft. Da er als gefährlich gilt, soll er außerdem in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher kommen. Freikommen kann er damit nur, wenn er ein Gericht davon überzeugt, dass keine Gefahr mehr von ihm ausgeht.

Der Amokfahrer nahm das genauso apathisch zur Kenntnis wie den Rest des Prozesses. „Das einzige, was ihn interessierte, ist, ob er in Graz bleiben darf“, sagt seine Anwältin. „Damit ihn seine Eltern besuchen können.“

Gerlinde Pölsler

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Hinter geschlossenen Vorhängen

Trauer in Graz nach dem Amoklauf in der Innenstadt.
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Alleine die Vorstellung schnürt einer die Kehle zu: An einem Sommertag um 12 Uhr mittags mitten in Graz brettert ein Mann mit Tempo 150 gezielt in die Fußgängerzone. Genau dort, wo Passanten flanieren und Menschen an Café-Tischen sitzen. Er mäht sie mit seinem grünen Geländewagen einfach nieder, Erwachsene wie Kinder.

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Dann steigt er aus und attackiert ein Paar mit einem Messer. Steigt wieder ein und rast weiter durch die Innenstadt. Drei Menschen sterben sofort, 36 sind verletzt, einige schweben immer noch in Lebensgefahr. „Die Innenstadt ist wie eine offene Wunde. Es wird schwer heilen, es braucht Zeit“, sagt die Österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner.

Es gibt in der Berichterstattung
ein Detail, das die Kehle zuschnürt

26 Jahre jung ist dieser Mann, Kraftfahrer von Beruf. In der Nähe von Graz aufgewachsen, nachdem er als kleiner Junge mit seiner Familie aus dem kriegszerrütteten Bosnien nach Österreich zog. Er habe an diesem Tag an einer „Psychose gelitten“, vermuten die Behörden. Gleichzeitig soll er seine Tat allerdings genau geplant haben. Anders sei die Distanz nicht zu erklären, die er mit seinem Wagen zurücklegte, bevor er aufs Gaspedal drückte. Und dann in die Menschen raste und sie gezielt mit dem Auto verfolgte. Der Psychologe Salvatore Giacomuzzi der Universität Innsbruck spricht von „eiskaltem Kalkül.“

Der Mann aus Bosnien, der den grünen SUV in die Fußgängerzone steuerte, sitzt mittlerweile in der Grazer Haftanstalt Jakomini. Seine Vernehmung hat gerade erst begonnen - bisher war er nicht ansprechbar gewesen. Wir wissen also noch sehr wenig.

In der Berichterstattung über den Amoklauf in der steirischen Hauptstadt gibt es allerdings noch ein weiteres Detail, das einer die Kehle zuschnürt. Das Grauen schleicht sich in diesem Fall eher langsam an. Dann wenn Landespolizeidirektor Josef Klamminger auf einer Pressekonferenz von einer „Beziehungstat“ spricht. Der 26-Jährige sei schon davor „als gewaltbereit in Erscheinung getreten". Allerdings nicht in der Öffentlichkeit, sondern zu Hause hinter geschlossenen Vorhängen. Im Mai war er wegen Gewalt gegen seine Frau und seine beiden Söhne schließlich der gemeinsamen Wohnung verwiesen worden. Schon zuvor sei die Polizei mehrfach angerückt. Einmal habe die Polizei ein Gewehr sichergestellt. Die Ehefrau, so heißt es in einigen Medien, sei mit den Kindern nach Bosnien geflüchtet. Anderen Medienberichten zufolge wurde die Frau am Sonntag in Graz festgenommen und verhört, habe aber nichts von den Plänen ihres Ehemannes gewusst. Sie hat schon vor einiger Zeit die Scheidung eingereicht.

Wie Gewalt
im Großen kontrollieren,
wenn wir sie im Kleinen ignorieren?

Ein in seiner Ehre gekränkter Mann, der dazu fähig ist, seinen Wagen mit Tempo 150 in eine Fußgängerzone zu lenken – wozu ist der fähig, wenn die Vorhänge geschlossen sind und niemand zusehen kann?

Selbstverständlich löst ein solcher Amoklauf nicht nur einen nationalen Schock aus, sondern auch eine Welle des Mitgefühls für die Opfer und deren Angehörigen. Selbstverständlich folgen auf solche Amokläufe Expertenanalysen über Gewalt im Allgemeinen und die Frage, was einen 26-Jährigen zu einer solchen Tat treibt - und wie sie zukünftig verhindert werden kann.

Aber ebenso selbstverständlich sollte dieser Fall genau wegen seiner Details auch zum Anlass genommen werden, um über eine Form von Gewalt zu sprechen, über die auch im Jahr 2015 nach wie vor ein Mantel des Schweigens liegt und die in diesem Fall in einem direkten Zusammenhang steht: die häusliche Gewalt. Die jeden Tag geschieht, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt. Die keinen nationalen Schock und keine öffentliche Trauer auslöst. Obwohl Tausende, wenn nicht Millionen betroffen sind. All die Frauen, die tagtäglich dem gewaltsamen Terror ihrer Freunde und Ehemänner ausgesetzt sind: Amokläufer hinter geschlossenen Vorhängen.

Blick nach Österreich: Jedes Jahr werden dort schätzungsweise 30 Frauen von ihren (Ehe)Männern oder Ex-(Ehe)Männern ermordet. „Oft ist der Mord der schreckliche Höhepunkt einer langen Gewaltgeschichte und meistens kündigen die Mörder ihre Tat vorher an“, schreibt die „Frauenhelpline gegen Gewalt“ der Autonomen Österreicher Frauenhäuser in ihrem Jahresbericht 2014, das Äquivalent zum deutschen „Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen“. Die Frauenmorde seien „nur die Spitze des Eisberges, das Ausmaß der Gewalt an Frauen ist sehr hoch und die Dunkelziffer ist vermutlich noch viel höher.“ Von den etwas mehr als 8.000 AnruferInnen, die die Hotline im selben Jahr verzeichnete, waren rund 7.000 weiblich.

Auch die europaweite Erhebung der „Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“ hält in einer EU-weiten Studie fest, dass jede fünfte Österreicherin seit ihrem 15. Lebensjahr Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt wird, jede zehnte erlebt körperliche Gewalt in Partnerschaften oder Ex-Parterschaften. In Deutschland sieht das nicht besser aus. Jede Dritte wird Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt, jede fünfte innerhalb einer Beziehung oder Ex-Beziehung. Damit entspricht Deutschland dem europäischen Durchschnitt. Und auch das steht in dem Bericht: Der deutlich größere Anteil dieser Betroffenen melden Gewalt in ihrer Partnerschaft weder der Polizei noch einer Hilfsorganisation.

Amokläufe sind allzu oft durch Hass auf (starke) Frauen motiviert

Auch Amokläufe, das beweist die jüngere Geschichte, sind allzu oft durch Hass auf (starke) Frauen motiviert. Zwei Beispiele von vielen: Im kanadischen Montreal eröffnete der Attentäter Marc Lépine 1989 das Feuer auf die Studentinnen einer Ingenieurschule mit den Worten: „Ich hasse Feministinnen!“ 25 Jahre später verkündete in Santa Barbara der Attentäter Elliott Rodger vor seiner Tat: „Ich bin der perfekte Mann, und ihr werft euch trotzdem diesen ganzen anderen dämlichen Typen an den Hals. Am Tag meiner Rache werde ich ins Gebäude der schärfsten Studentinnenverbindungen meiner Uni gehen, und ich werde jede einzelne blonde, verwöhnte Schlampe abschlachten, die ich dort sehe.“

Aus Graz sind solche Statements bisher nicht bekannt. Im Hinblick auf die bedrückenden Details des Amoklaufs allerdings drängt sich eine Frage auf: Wie wollen wir Gewaltausbrüche im Großen unter Kontrolle bekommen, wenn wir sie im Kleinen so sträflich ignorieren? Es scheint nicht überraschend, dass sich Gewalt, die monate-, wenn nicht jahrelang ungehindert hinter geschlossenen Vorhängen explodieren kann, sich irgendwann auf einer großen Bühne Bahn bricht — wie in der Grazer Innenstadt. Vor allem, wenn plötzlich der Blitzableiter verschwindet. Denn die Ehefrau des Grazer Amokläufers hat etwas gewagt, was Opfer häuslicher Gewalt lange nicht oder niemals schaffen: Sie hat sich der Macht ihres Peinigers entzogen.

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