Massaker in Montreal: Kein Zufall

Marc Lepine erschoss am 6. Dezember 1989 in Kanada 14 Studentinnen.
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Der Täter: Ein 25 Jahre alter arbeitsloser Elektriker, der es nicht geschafft hat, an der Ingenieurschule angenommen zu werden.

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Viel weiß man nicht von ihm. Er heißt Marc Lepine, wuchs in einem zerrütteten Elternhaus auf, galt als Liebhaber von Waffen und Kriegsfilmen. Nach dem Blutbad an der Ingenieurschule jagt er sich selber eine Kugel durch den Kopf. Noch klarer hätte Lepine das Motiv seiner Tat nicht formulieren können - "Ich hasse Feministinnen." Doch Kanadas Öffentlichkeit will zunächst nicht begreifen.

Politiker sprechen von einer "absurden und abwegigen Tat", der Herausgeber der größten örtlichen Zeitung empfiehlt in einem Leitartikel ehrfurchtsvolles Schweigen, denn "es ist jetzt nicht die Zeit für Analysen". Die "Zeit für Analysen" kommt auch in den Tagen nach dem Massaker nicht, eine Erklärung ist schnell gefunden: Lepine muß ein "Amokläufer", ein "Geisteskranker" gewesen sein. Auch wenn er der Polizei noch nie aufgefallen war — es handle sich, so sind sich Politiker und Journalisten schnell einig, um die "isolierte Tat eines Kranken".

Doch: Ein Amokläufer weiß nicht, was er tut. Lepine aber wußte nur zu genau, was er tat.

Dennoch: Ausländische Medien ziehen nach, verharmlosen die Tat. In Windeseile spuckt die Deutsche Presseagentur aus ihrem elektronischen Archiv eine Liste der Amokläufer aus den letzten 30 Jahren aus. "Amokläufer", so lehrt die Agentur, sind "Menschen, die in einer plötzlichen Geistesverwirrung wahllos Menschen töten".

Wahllos? Genau dies hat der Schütze von Montreal nicht getan. Seine Tat hatte Plan und Methode. "Ich will die Frauen", rief er, als er in den Unterrichtsraum stürmte, die Männer des Saales verwies, die Frauen an die Wand stellte und sie der Reihe nach abknallte wie wehrlose Tiere. Kein wildes Umsich-Schießen war das, schon eher eine inszenierte Hinrichtung. "Frauen haben mein Leben ruiniert", stand auf einem Abschiedsbrief, den man bei Lepines Leiche fand. Daß seine Wut keineswegs blind war, sondern sich gezielt gegen Frauen richtete, beweist auch die makabre "Todesliste", die er in seiner Tasche trug. Darauf standen die Namen von prominenten Politikerinnen und Journalistinnen, ebenso wie der ersten Frau, die in Montreal zur Feuerwehr zugelassen wurde. 15 Frauen hatte Lepine aufgelistet. Frauen, die Männern Plätze streitig machen. Männern wie Marc Lepine. Lepine war "ein Mann wie du und ich", und kein einsamer Verrückter — so dämmerte es einige Tage nach der Tat endlich einem Zeitungskolumnisten. "Einer von vielen, die als Kind geschlagen wurden, die nicht als Schönheit auf die Welt kamen, die gerne Kriegsfilme oder Pornos sehen.

Irgendeiner eben." Kanadas Frauen begreifen sofort. "Die Botschaft, die Lepine uns hinterlassen hat", so schreibt die Feministin Francine Pelletier, "diese Botschaft heißt: Es gibt einen Preis für die Emanzipation von Frauen - den Tod."

Pelletier, Ex-Redakteurin der feministischen Zeitschrift "La vie en rose", weiß, wovon sie redet: "La vie en rose" wurde wiederholt von Bombendrohungen heimgesucht, auch andere Frauenprojekte kennen die Angst vor anonymen Drohungen. Die 14 Todesopfer von Montreal sind vermutlich noch nicht einmal "Feministinnen" im engeren Sinne gewesen. Sie waren nur Frauen, die sich einen Platz in einer Männerhochburg erkämpft hatten - und dabei vielleicht besser waren als ihre männlichen Kommilitonen. Zum Beispiel Maryse Leclair, 23, eine der besten Studentinnen der Polytechnischen Hochschule. In einem Jahr hätte sie ihr Studium der Metallbearbeitung abgeschlossen. Als ihr Vater, Polizeisprecher von Montreal, von Amts wegen zum Tatort eilte, fand er seine Tochter tot am Boden liegen. — Oder Sonia Pelletier, 28, Klassenbeste in Feinmechanik. Sie starb einen Tag, bevor sie ihr Abschlußdiplom bekommen sollte. Jetzt verleiht ihr die Universität den Titel post-hum.

Gewalt gegen Frauen hat auch in Kanada viele Schauplätze. 300.000 Frauen werden in der Provinz Quebec jährlich von ihren Männern geschlagen, jedes Jahr 50 Frauen von ihren Männern umgebracht. Die Feministin Marilyn Assheton-Smith sieht die langfristigen Folgen: "Immer mehr Frauen versuchen ihre Männer davon zu überzeugen, daß sie keine Feministinnen sind, daß sie nicht aggressiv sind, daß sie in keiner Weise provozieren. Denn sie wollen nicht erschossen werden, sie wollen nicht geschlagen werden. Sie wollen erfolgreich sein in der Welt der Männer."

Nach der Bluttat fragt sich der Verband der Journalisten öffentlich und selbstkritisch, ob das Thema "Gewalt gegen Frauen" in den Medien bisher vernachlässigt worden sei. Und ob man sich nicht mehr Gedanken machen müßte über das aggressive Klima, das Fernsehfilme ä la "Rambo" produzieren ... Doch in der Politik geht man schnell wieder zur Tagesordnung über. Nach einer kurzen Debatte darüber, ob man das Waffengesetz ändern sollte - Lepine durfte sein Jagdgewehr mit einem Waffenschein kaufen, den er für zehn Dollar erworben hatte - setzt sich wie üblich die Lobby der Hunter durch.

Strikt weigern sich die Politiker, die Tat als Ausdruck eines weit verbreiteten Frauenhasses zu sehen. Bei der Trauerfeier, zu der an die 10.000 Menschen kommen, finden Politiker und Pastoren zwar warme Worte für die Angehörigen, doch es bleibt trotz aller öffentlicher Diskussion die These vom "gestörten Täter".

Madeleine Lacombe vom Verband der kanadischen Frauenhäuser zeigt sich enttäuscht von den offiziellen Trauerreden: "Wenn 14 Polizisten oder 14 Jesuiten ermordet worden wären, hätte der Premierminister der ganzen Truppe oder Bruderschaft sein Beileid ausgedrückt - wo bleibt sein Beileid für alle Frauen?"

Ihre Betroffenheit demonstrierten Frauen in aller Welt bei Trauermärschen und Gedenkfeiern. Auf die alltägliche Gewalt auf dem Universitäts-Campus machten Amerikanerinnen bei einer Veranstaltung gegenüber dem Weißen Haus in Washington aufmerksam. In Paris demonstrierten Studentinnen vor der Sorbonne und vor der kanadischen Botschaft.

"Frauenleben - wie unsere - erschienen einem Mann als tödliche Bedrohung", mahnten acht Studentinnen der Heidelberger Universität in einer Todesanzeige in der Frankfurter Rundschau. Tödlich für Frauen.

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