Die Sondereinheiten in Deutschland

Artikel teilen

Sie hat ihn gekriegt. Und darauf, das darf sie doch mal sagen, ist die Rostocker Staatsanwältin Petra Below „verdammt stolz“. Der Fall war nämlich schwierig. Verdammt schwierig.

Anzeige

Am 5. Juni 2009 war André S. aus Ostwestfalen an die Ostsee gefahren und hatte sich dort in einer Pension in Kühlungsborn eingemietet. Ziel seiner Reise: Er wollte sich mit seiner Ex-Freundin versöhnen, die ­gerade Urlaub in dem Seebad machte. Die Frau aber lehnte sein Ansinnen ab, wie sie später aussagte, und ließ ihren Ex-Freund abblitzen. Der kehrte frustriert zurück in die Pension. Dort traf der damals 29-Jährige auf die 74-jährige Pensionswirtin.

Das Letzte, woran sie sich erinnert, ist, dass André S. ihr zu nahe kam. Dann, sagt Staatsanwältin Below, „ist die Frau weggetreten. Ihre Erinnerung setzt erst nach der Tat wieder ein, als sie mit blutigem Schlüpfer wieder aufgewacht ist“. Spermaspuren gab es keine.

Ein schwieriger Fall, also de facto: gar kein Fall. „Unmöglich“, sagten die Kollegen. „Das Opfer erinnert sich nicht, es gibt keine Spuren – das kannst du niemals nachweisen.“ Aber damit wollte sich Petra Below nicht abfinden. Und sie wusste, wo sie nach Beweisen für das Verbrechen suchen konnte. Zunächst bat sie Prof. Dietmar Heubrock vom Institut für Rechtspsychologie an der Universität Bremen um ein Gutachten. Der bestätigte, dass das Ausblenden einer lebensbedrohenden Erfahrung wie einer Vergewaltigung in der Erinnerung durchaus möglich und keineswegs unüblich sei.

Blieben die fehlenden Spermaspuren. Der Staatsanwältin war klar: „Natürlich konnte der Täter ein Kondom benuzt haben.“ Also befragte sie die Ex-Freundin von André S. noch einmal genauer. Es stellte sich heraus, dass er bei der Begegnung eine Viererpackung Kondome dabei gehabt und ihr gezeigt hatte. Bei seiner Verhaftung war diese Packung gefunden worden – aber es fehlte ein Kondom.

Die Staatsanwältin wusste, dass die Rechtsmedizin an der Universität München eine Methode zum Nachweis von Kondomspuren in der Scheidenflora entwickelt hatte. Sie schickte die Proben dort ein, und die Rechtsmediziner wiesen nach: Die Vagina der 74-jährigen Pensionswirtin war mit einem Kondom in Berührung ­gekommen. André S. wurde im März 2010 zu drei Jahren Haft verurteilt.

Es bedarf einer gewissen Hartnäckigkeit, aber vor allem einer immensen Erfahrung und Sachkenntnis, um einen solchen Fall vor Gericht zu bringen – und ihn auch noch zu gewinnen. Petra Below hat beides. Seit 18 Jahren ermittelt die 56-jährige Juristin bei der Staatsanwaltschaft Rostock im „Sonderdezernat für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“.

Wer den Fall Strauss-Kahn verfolgt hat, hat vermutlich schon einmal gehört von der „Sex Crimes Unit“ in New York, der Sondereinheit für sexuelle Verbrechen, die die Jagd auf Vergewaltiger zu ihrem Spezial­gebiet gemacht hat (EMMA Sommer 2011). Die Spezialeinheit hat es sogar ins Fernsehen geschafft: Unter dem Titel „Law & Order: Special Victims Unit“ zeigt NBC seit 1999 die Aufklärung von Sexualstraftaten, seit 2005 können auch deutsche ZuschauerInnen die Fälle des New Yorker Teams auf VOX verfolgen.

Den Augen der Öffentlichkeit bisher weitgehend verborgen geblieben ist, dass auch in Deutschland spezialisierte Sondereinheiten gegen Sexualverbrecher ermitteln. Dabei gibt es diese Sonderdezernate in nahezu allen Bundesländern, in einigen gehört gleichzeitig auch die Verfolgung Häuslicher Gewalt zu ihren Aufgaben.

Welche Sonderdezernate zur Verfolgung welcher Verbrechen in den Staatsanwaltschaften gebildet werden müssen, schreibt das jeweilige Justizministerium eines Bundeslandes vor. In Mecklenburg-Vorpommern, dem Einsatzort von Petra Below, gibt es über zwanzig: von Wirtschaftskriminalität bis Umweltdelikten, von Drogen bis Pornografie. Und eben das gegen die so genannten „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“: Missbrauch, ­sexuelle Nötigung, Vergewaltigung.

Auf diesen Job, das ist Konsens, werden keine AnfängerInnen gesetzt. „Ein so wichtiges Dezernat wird nur in die Hände von erfahrenen Dezernenten gelegt“, versichert Oberstaatsanwältin Beatrix Puppe-Lüders. Oder vielmehr Dezernentinnen, denn „wer Opfer männlicher Gewalt geworden ist, möchte in der Regel lieber von einer Frau befragt werden“.
Und so ermitteln in Rostock zwei weibliche Staatsanwälte, wenn eine Frau eine Vergewaltigung anzeigt: Karin Engel, seit 2008 dabei und laut ihrer Vorgesetzten „eine Top-Juristin“, und Petra Below, seit 1993 in ­Sachen Sexualstraftaten im Dienst und damit eine der erfahrensten JuristInnen im Hause.

Die beiden Staatsanwältinnen lassen sich durch Rechtsmediziner, Opferschutzorganisationen und Jugendämter fortbilden und besuchen ein- bis zweimal im Jahr die Seminare der beiden Justizakademien in Trier oder Wustrau.

Daher weiß Petra Below sehr genau, dass ein Prozess „eine sekundäre Traumatisierung für die Frau bedeuten kann“. Um das zu vermeiden, „lade ich die Frauen ein, damit ich sie kennen lerne und ihnen erklären kann, was sie erwartet und welche Rechte sie im Gerichtssaal haben“. Zu diesen Rechten gehört auch, dass die Frau als Nebenklägerin auftreten kann. Natürlich möchte die Staatsanwältin, dass die Klägerin anwaltlich gut vertreten wird. „Ich könnte ihr ja auch einfach das Telefonbuch hinballern.“ Petra Below ballert aber nicht, sondern besteht darauf, dass sich die „Geschädigte“ nicht mit einem Stümper in den Gerichtssaal setzt.

Wer Below zuhört, erkennt innerhalb von drei Minuten, dass die Ermittlerin kein Blatt vor den Mund nimmt und vor Gericht vermutlich keine leichte Gegnerin für die Verteidigung des Angeklagten ist. Wenn Richter oder Verteidiger ihrer Zeugin zu sehr zusetzen, „dann donnere ich dazwischen“, erzählt sie und man glaubt es ihr aufs Wort. „Jahrelang gekämpft“ hat die Staatsanwältin für die Rechtsmedizinische Beratungsstelle, die Gewaltopfern seit 2011 anonyme Spurensicherung anbietet. Einen Koffer mit ­Untersuchungsmaterial plus Formblatt für ÄrztInnen und Krankenhäuser gibt es schon seit 1995: „Damit die wissen, was sie wie zu sichern haben!“ Und selbstverständlich arbeitet das Sonderdezernat eng mit dem entsprechenden Kommissariat der Kripo zusammen. „Die Kollegen haben auch meine Privatnummer und wissen, dass sie mich ­jederzeit erreichen können.“

Etta Hallenga erinnert sich noch sehr gut an ganz andere Zeiten. „Damals war es reiner Zufall, an welchen Staatsanwalt eine vergewaltigte Frau geriet“, erzählt die ­Sozialpädagogin vom Notruf für vergewaltigte Frauen der Frauenberatungsstelle Düsseldorf. Die Zuordnung der Fälle funktionierte schlicht nach dem Alphabet. Müller kam zu Staatsanwalt A, Schmidt zu Staatsanwalt B. „Und wie das Verfahren lief, war extrem abhängig davon, welcher Staatsanwalt es bearbeitete.“ Kaum einer, egal ob A, B oder C, hatte im Jahr mehr als drei Fälle sexualisierter Gewalt auf dem Tisch. Von Erfahrung keine Spur.

Das Problem begann damals allerdings schon einen Schritt zuvor: bei der Polizei. „Wenn eine Frau nach einer Vergewaltigung Anzeige erstatten wollte, dann wurde sie von einem Polizisten, der sich noch nicht mal vorstellte, zur Vernehmung in ein Büro mit Durchgangsverkehr gesetzt, in dem alle mitbekamen, was sie erzählte.“ Weibliche Polizisten gab es kaum, und wenn, waren auch sie in der Vernehmung eines traumatisierten Vergewaltigungs­opfers nicht geschult. Die Folge: Die ­Anzeigen wegen Vergewaltigung gingen in Düsseldorf zurück.

Die Frauenberatungsstelle machte Druck. Sie wusste, dass es auch anders ging. So hatte die Staatsanwaltschaft ­Bremen schon 1984 ein Sonderdezernat gegründet. Seither war nicht nur die Zahl der Anzeigen gestiegen, sondern auch die Anklage-Quote: Wurden 1979 noch zwei Drittel der Verfahren eingestellt, brachte das Sonderdezernat 1988, vier Jahre nach Gründung, schon zwei Drittel der Vergewaltigungs-Anzeigen vor Gericht – eine bis heute sehr hohe Quote.

Die Frauenberatungsstelle lud den Leiter des Bremer Dezernats im September 1988 nach Düsseldorf und ließ ihn im Rahmen einer Fachtagung von seinen Erfahrungen berichten. „Experten: Justiz braucht Sonderdezernate!“ verkündete der Express am nächsten Tag und präzisierte: „Die Frauen wollen nicht länger 08/15-Staatsanwälte, sondern geschulte Fachkräfte.“ Am 1. Januar 1989 trat das „Sonderdezernat für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf seinen Dienst an.

Dass Staatsanwaltschaft, Kripo und Frauenberatungsstelle nun kooperierten, stieß allerdings nicht auf ungeteilten Jubel an der feministischen Front. „Es war damals noch sehr ungewöhnlich, dass eine feministische Beratungsstelle mit den Strafverfolgungs­behörden zusammenarbeitete“, erzählt Etta Hallenga. „Ich erinnere mich gut an ein Bundestreffen der Beratungsstellen, bei dem wir uns heftig dafür rechtfertigen mussten.“ Aber das Modell setzte sich durch –, auf beiden Seiten.

Staatsanwältin Astrid Röttgen hat das Düsseldorfer Dezernat 1993 übernommen, und die vielen Vergewaltigungen, die sie in 17 Dienstjahren vor Gericht bringen konnte – oder eben auch nicht – haben in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen. Rund 300 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung oder sexueller Beleidigung bekommt sie pro Jahr von den Kripos in Düsseldorf, Neuss und Mettmann auf den Tisch. Die exakte Zahl kann sie gerade nicht aus dem Ärmel schütteln, aber „es sind mehr als genug“. Vor drei Jahren hat sie Verstärkung bekommen, einen sehr engagierten Kollegen, der sagt: „Da weiß man wenigstens, wofür man vor Gericht kämpft!“

Über eines hat sich die Staatsanwältin vom Sonderdezernat damals, als sie anfing, gleich gewundert – und tut es bis heute: „Ich frage vor dem Prozess die Frau immer, welche Erwartung sie an das Strafmaß hat. Und die meisten sagen: ‚Das ist mir egal. Ich möchte einfach, dass mir geglaubt wird.'"

Kommissar Raymund Braun und seine acht Kollegen und 13 Kolleginnen glauben der Frau zunächst. Dieser Grundsatz gilt nicht nur bei der „Sex Crime Unit“ in New York, sondern auch beim Kriminalkommissariat 12 in Düsseldorf, das eng mit Staatsanwältin Röttgen zusammenarbeitet.

„Wir schaffen erstmal eine gute Vernehmungssituation“, erklärt der Kommissar. Das heißt: Ein ruhiger Raum ohne Durchgangsverkehr und Telefongebimmel. Eine Beamtin in Zivil, die der Erstatterin der ­Anzeige ihren Namen und ihre Durchwahl nennt, ihr einen Kaffee anbietet und ihr ­erklärt, an welche Opferschutzorganisa­tio­nen sie sich wenden kann. Die sagt, dass man während der Vernehmung jederzeit eine Pause machen kann. „Dann ist schon mal Vertrauen hergestellt“, sagt Braun. „Das heißt nicht, dass wir nicht gegenfragen. Aber dann erklären wir, warum wir das tun: ‚Ich muss Sie das fragen, weil …‘“ Auch die 21 BeamtInnen des KK 12 sind geschult, unter anderem von Etta Hallenga, die ihnen Techniken für den behutsamen Umgang mit einem Vergewaltigungsopfer vermittelt. Sie tut das seit 19 Jahren, und konstatiert mit einer gewissen Genugtuung, dass die Zahl derer, die damals während der Schulung demonstrativ mit hochgelegten Füßen Zeitung lasen, inzwischen gegen null tendiert.

Natürlich sichert das spezialisierte Kommissariat auch Spuren am Tatort, sofern der noch frisch und nicht durch eine Woche Dauerregen ruiniert ist. Vor allem dann, wenn die KriminalistInnen einen „Fremdtäter“ ermitteln müssen. „Dann fahren wir sofort los und schauen, ob wir noch etwas finden: eine Zigarettenkippe oder ein Kondom.“ Kriminaltechnisch ist inzwischen vieles möglich: Man kann Kontaktspuren in einer Wohnung nachweisen und so die Behauptung eines Täters aushebeln, das Opfer sei „nie bei mir gewesen“. Und natürlich der DNA-Abgleich.

Das Problem: Das alles braucht Zeit, manchmal für das Opfer zu viel Zeit. „Bis wir eine Probe vom LKA zurückhaben, kann das bei nicht bekanntem Täter ein halbes Jahr dauern“, bedauert Kommissar Braun. Bis der Fall vor Gericht geht, vergehen manchmal ein bis zwei Jahre. „Für manche Frauen ist das schon Grund genug, keine Anzeige zu erstatten“, weiß Etta Hallenga aus ihren Beratungen. „Sie möchten mit der Verarbeitung des Geschehenen beginnen, sind aber die ganze Zeit in der Warteschleife.“

Aber: Jeder Beweis ist wichtig. „Wir brauchen eine Objektivierungs-Chance“, sagt der Kommissariatsleiter. So klingt auf Beamtendeutsch das entscheidende Problem bei der Ermittlung und Anklage von Vergewaltigungsfällen: Es gibt fast nie Zeugen für die Tat. Und auch wenn Spuren am Körper des Opfers inzwischen nicht mehr von jedem Wald- und Wiesenkrankenhaus, sondern von den RechtsmedizinerInnen der Düsseldorfer Uniklinik nach klaren Standards gesichert werden, existieren oft eben keine Hämatome oder Würgemale. „Die ­allerwenigsten Vergewaltigungen gehen mit einer körperlich sichtbaren Folge einher“, sagt Raymund Braun. Ohne weitere Beweise steht dann Aussage gegen Aussage. Das Verfahren wird eingestellt.

Das ist aber nur einer von vielen Gründen dafür, warum nur ein Teil der Strafanzeigen wegen Vergewaltigung vor Gericht landet. Die Liste der Einstellungsgründe ist lang: Die Frau zieht ihre Anzeige zurück. Das passiert meist bei Beziehungstaten, weiß Staatsanwältin Röttgen. „Da kommt die Ehefrau und sagt, sie will ihren Kindern ihren Vater nicht nehmen.“ Verfahren eingestellt. – Das Opfer ist zu traumatisiert, um auszusagen. „Es ist fatal für uns zu sehen, in was für einer psychischen Verfassung Frauen manchmal im Vernehmungszimmer erscheinen und was sie offenbar alles mit sich rumschleppen“, sagt Kommissar Braun. „Sie sind innerlich so blockiert, dass sie gar nicht über ihr Erlebnis sprechen können und eine Anzeigenaufnahme deshalb nicht möglich ist.“ Verfahren gar nicht erst aufgenommen. Wie auch?

Der Täter ist schuldunfähig. „Kürzlich hatte ich einen Fall mit einem Epileptiker, der Drogen genommen hatte.“ Verfahren eingestellt. – Die Tat ist „geringfügig“, was gelegentlich bei sexuellen Nötigungen so gesehen wird. Verfahren gegen eine Geldauflage eingestellt. – Es wird ein Glaubwürdigkeitsgutachten der Klägerin erstellt, der ­Gutachter ist sich nicht sicher. Ein kleiner Zweifel reicht, denn laut Gesetz darf die Staatsanwaltschaft ein Verfahren nur eröffnen, wenn „eine Verurteilung wahrscheinlich ist“. Verfahren eingestellt.

Manchmal befürchtet Staatsanwältin Röttgen, dass die Zeugin einen Prozess nicht durchsteht, weil sie ein paar „dunkle Punkte“ hat, auf die sich die Verteidigung stürzen wird. „Schließlich ist es die Aufgabe des Verteidigers, das Opfer unglaubwürdig zu machen.“ Wenn die Staatsanwältin ein emotionales Desaster für das Opfer ahnt, dann ruft sie die Rechtsanwältin der Frau an und fragt: „Steht ihre Mandantin das durch?“ Sagt die Nein: Verfahren eingestellt. „Ich bin zwar Juristin, aber ich habe ja auch eine Verantwortung für den Menschen, dessen Name da auf meiner Akte steht.“

Und dann ist da noch die Sache mit der Gewalt. Der Tatbestand einer Vergewaltigung ist nämlich keinesfalls schon dann ­erfüllt, wenn das Opfer Nein! gesagt hat. Der Täter muss ein „Nötigungsmittel“ ­anwenden, sprich: Gewalt. Aber manche Opfer wehren sich nicht. Sie sagen noch nicht mal Nein. Sie sind in Schockstarre – oder im alten, furchtbaren Film. „Das erleben wir, wenn eine Frau in der Kindheit sexuell missbraucht wurde“, erklärt Staatsanwältin Röttgen. „Die erzählt dann: Als er gesagt hat ‚Zieh dich aus!‘ hab ich mich an früher erinnert. Dann hab ich mich ausgezogen und hingelegt.“ Kein Nötigungsmittel, kein Verfahren. „Das sind Fälle, da ballen Sie eine Faust in der ­Tasche. Vor allem, wenn Sie wissen, dass der Täter von dem Missbrauch wusste.“

Laut „Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe“ werden durchschnittlich drei Viertel aller Verfahren eingestellt, nur jede siebte Anzeige endet letztendlich mit einer Verurteilung des Beschuldigten.

Sicher, es gibt auch Falschbeschuldigungen. Kommissar Braun und Staatsanwältin Röttgen erleben auch das: Junge Mädchen, die sich mit einer falschen Anzeige die Pille danach erschwindeln oder ihrem Freund eine plausible Erklärung dafür liefern wollen, dass sie in der vergangenen Nacht mit jemand anderem zusammen waren. „Die zunehmende Sexualisierung macht uns zu schaffen“, sagt die Staatsanwältin. Pornografisierte Mädchen, die alles wollen sollen, treffen auf pornografisierte Jungen, die alles können müssen. „Und dann fragt eine Freundin das Mädchen hinterher: ‚Wolltest du das überhaupt?‘“ Nein, sagt die, und erstattet Anzeige. Auch das firmiert unter „Falschbeschuldigung“.

Die Zahl der Falschbeschuldigungen jedoch liegt – entgegen dem grassierenden Mythos – im einstelligen Prozentbereich. Hinzu kommt, dass eine Falschklägerin angesichts der haushohen Hürden, die vor einem Verfahren stehen, äußerst geringe Chancen hat, mit ihrer Anschuldigung überhaupt durchzukommen.

Eine andere Zahl ist frappierender: Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums mit 10000 Frauen zeigen nur fünf Prozent aller Opfer eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung überhaupt an. Um die tatsächliche Zahl zu erhalten, müsste man also die Zahl der rund 8000 jährlichen Anzeigen mit 20 multiplizieren. Das bedrückende Ergebnis: 160000.

Und noch etwas ist aufschlussreich: „Interessant ist, wie häufig Täter später in der Haft dem Anstaltspsychologen die Tat gestehen“, sagt Staatsanwältin Röttgen. Zu den Dingen, über die sie sich nach 17 Jahren Sonderdezernat für ­Sexualstraftaten immer noch wundert, gehört die Chuzpe, mit der so mancher dieser geständigen Täter zuvor seine Show vor Gericht abgezogen hat. „Wenn Sie gesehen haben, wie der vor Gericht gekämpft und seine Unschuld beteuert hat – das ist schon erstaunlich.“

Wenn die Sonderdezernentin von so einem Geständnis hört, dann ruft sie alle an, die an der Strafverfolgung beteiligt waren: Kommissar Braun, der es der ­ermittelnden Beamtin oder dem Beamten weitersagt; dem Ermittlungsrichter, der den Täter in U-Haft geschickt hatte; und den Richter, der den so entschieden Leugnenden dennoch verurteilt hat. Es ist für alle gut zu wissen, dass sie ihre Sache richtig gemacht haben. Dass sie ihn gekriegt haben. Zu recht.
 

Artikel teilen
 
Zur Startseite