Alice Schwarzer schreibt

Einer Frau im Minirock glaubt man nicht

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Alice Schwarzer: Die italienischen Frauen haben heute mehr Rechte, als sie vor 30 Jahren auch nur zu träumen gewagt hätten. Sie haben Zugang zu allen Berufen, im Prinzip den gleichen Lohn, ein partnerschaftliches Familienrecht und das Recht auf Scheidung, ja sogar Abtreibung (im Gegensatz zu Deutschland). Sind also alle Probleme geregelt in Italien, Dacia? 
Dacia Maraini: Leider nicht. Es stimmt, auf dem Papier haben wir alle Rechte. In der Praxis aber signalisiert man uns gleichzeitig: Du bist zwar gleichberechtigt, aber du musst schön sein. Das ist das Einzige, was zählt. Die Verführung ist deine größte Macht. Schon die kleinen Mädchen lernen, verführerisch zu lächeln - nicht weil ihnen nach Lächeln zumute ist, sondern weil sie etwas erreichen wollen. Das ist bereits der erste Schritt zur Prostitution.

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Ist das Gebot der Verführung stärker? 
So ist es. Wir sind frei. Aber es stimmt so gar nicht, dass wir frei sind: Wir halten uns nur für frei. Unsere "Freiheit" wird missbraucht, führt zu neuen Unfreiheiten.

Zum Beispiel? 
Wenn eine Frau, die einen Minirock trägt, etwas Ernsthaftes sagen will, so glaubt man ihr nicht. Ihre bloßen Schenkel sprechen eine stärkere Sprache als ihr beredter Mund.

Es fällt mir auf, dass nicht nur junge Frauen sich so entblößen, sondern dass zunehmend auch Frauen in unserem Alter und in bedeutenden Positionen, Politikerinnen oder Schriftstellerinnen, den Rocksaum hochrutschen lassen. 
Das ist in Italien nicht anders. Und das ist besonders traurig, denn diese Frauen hätten etwas zu sagen - aber negieren ihre Worte gleichzeitig durch ihre wortlose Körpersprache. Sie wiegen sich in der Illusion, gesehen und gehört zu werden - sie werden aber nur gesehen. Abschätzig gesehen. 

Wie konnte es dazu kommen? Haben wir Feministinnen selbst auch Fehler gemacht? 
Vielleicht. Wir haben geglaubt, wir könnten die Verhältnisse, ja die ganze Welt in kurzer Zeit ändern. Wir haben geglaubt, es würde ausreichen, bestimmte Probleme zu benennen und Rechte zu fordern. Aber wir haben nicht an die Reaktion gedacht - und die Reaktion ist schrecklich. 

In welchen Bereichen? 
Zum Beispiel im Bereich der Technologie. Die ist scheinbar modern, aber in Bezug auf Frauen ganz rückschrittlich. Sie propagiert die geteilte Frau. In der technologischen Welt ist die Frau nichts als ein Körper - ihr Kopf, das Denken und der Charakter zählen nicht. Darum setzen Frauen wieder auf den Körper. Wenn wir Frauen nun aber gleichzeitig mit Kopf und Körper sprechen wollen, nimmt man uns nicht ernst. Denn der Blick ist nicht unschuldig, er ist sexistisch und nimmt nur den Körper wahr. 

Es ist schwer, sich diese Teilung einzugestehen. Wir möchten sie so gerne nicht wahrhaben. Auch Frauen wie du und ich wollen Kopf und Körper sein. 
Ich weiß. Die Gradwanderung zwischen der persönlichen Freiheit und der stereotypisierten Sprache der Verführung ist heikel. Doch diese Codes kann man nicht individuell außer Kraft setzen. Es ist ja auch sehr leicht, einfach auf die Sprache des weiblichen Körpers zurückzugreifen: Jeder Mann versteht sie - lange Beine, große Busen oder ein nettes Lächeln. Das ist die gefälligste Art, sich mitzuteilen. Aber der Blick, der uns so stereotyp als Frau wahrnimmt, blendet gleichzeitig unsere Persönlichkeit als Mensch aus. 

Das wussten wir doch eigentlich schon vor 30 Jahren. 
Ja, aber wir hatten mehr Vertrauen in die Stärke der Frauen. Sicher, Frauen sind nicht schwach, aber zum ändern von Sprache und Sitten brauchen wir noch viel mehr Macht und Geduld. Vor allem jetzt, in diesen Zeiten der gewalttätigen Gegenoffensive.

Nicht alle jungen Frauen scheinen diese Gefahr zu sehen. 
Am letzten 8. März war ich an der Universität in Rom eingeladen. Die meisten Studentinnen haben mich nicht verstanden. Sie fanden, dass wir Frauen doch jetzt alles erreicht haben...

...was ja auch zum Teil stimmt. Sie sind viel freier als wir damals.
Das ist wahr. Aber wir hatten nicht solche Illusionen. Auch wenn wir große Hoffnungen hatten. Es hat sich vieles zum Positiven geändert - gleichzeitig aber haben wir es mit einem extremen Rückschlag zu tun, in dessen Mittelpunkt die Reduzierung der Frauen auf Verführung, Körper und Mutterschaft steht. Es gibt in Italien zur Zeit nichts Verpönteres als eine "Karrierefrau": Das ist ein Mannweib, die ehrgeizige Egoistin, die Liebe und Kinder opfert. Schon der Begriff "Karrierefrau" ist eine Stigmatisierung der weiblichen Berufstätigkeit. Warum sprechen wir also nicht einfach vom Beruf statt von der "Karriere"? 

Auch die Idole haben sich geändert - und das nicht nur zum Besten. 
So ist es! Früher waren die Stars noch Filmdiven, die einen Beruf, Talent und eine Stimme hatten. Heute sind es stumme Models. Alle jungen Mädchen wollen Topmodel werden. Aber was ist das, ein Topmodel? Eine Frau, die nur Körper ist - und noch nicht einmal der eigene Körper, sondern ein durch Hungern, Makeup, Beleuchtung und Computer manipulierter, künstlicher Körper. Das Leben der Models ist die Hölle, ohne Lebensfreude und Persönlichkeit. 

Und dazu diese Mode... 
Mode? Sie sind nackt! In dieser Saison sind sie komplett nackt. Was nichts mit Erotik oder Freiheit zu tun hat. Es ist nur Entblößung und Erniedrigung. Und das wird schlimmer. Und für so was schwärmen junge Frauen... Das Schizophrene ist, dass sie einerseits in der Schule und an der Universität hören, es gebe keine Probleme mehr, die Frauen von heute seien gleichberechtigt. Andererseits sind sie Opfer von Missbrauch, Diätwahn und "neuer" Weiblichkeit. Es gibt einen Gegensatz zwischen dieser stummen persönlichen Erfahrung und der beredten öffentlichen Behauptung. Und die Frauen glauben weniger ihrer persönlichen Erfahrung und mehr der öffentlichen Behauptung.

Dein zentrales Thema ist die sexuelle Gewalt. 
Und diese Sexualgewalt steigt! Zum Beispiel der Sextourismus, den gab es früher überhaupt nicht. 

Wohin fahren denn die italienischen Männer? 
Nach Kuba. Nach Brasilien. Und natürlich in die asiatischen Länder. Das Schrecklichste aber ist die Prostitution in Italien selbst. Die hat sich total verändert. Du erinnerst dich an unsere Kämpfe in den 70er Jahren an der Seite der Prostituierten: für die Rechte der Prostituierten und die Legalität der Prostitution? Heute ist diese Position unverantwortlich. Denn die Mehrheit der Prostituierten in Italien, etwa zwei Drittel, kommt aus Osteuropa und vom Balkan. Das sind sehr junge Mädchen, die unter falschen Voraussetzungen hergelockt oder gar gewaltsam entführt wurden. Hinzu kommen drogenabhängige junge Mädchen, oft aus "guten" Familien, die das Geld für die Drogen auf dem Strich anschaffen. 

Deine letzten Bücher gingen um die Folgen vom Missbrauch, vom Schicksal deiner Großmutter in dem Roman "Die stumme Herzogin" bis hin zu deinen gerade erschienenen Kurzgeschichten: In "Kinder der Dunkelheit" jagt die Kommissarin Adele Sofia Sexualverbrecher. Recherchierst du den Stoff deiner Romane und Geschichten journalistisch und verarbeitest das dann mit literarischen Freiheiten? 
So ähnlich. Ich gehe immer von realen Ereignissen aus und lasse dann meine Fantasie spielen. Wie in dem Fall des Vaters, der alle seine vier Kinder vergewaltigt hat, ein Mädchen und drei Jungen, und wo den Opfern niemand geglaubt hat, auch die Mutter nicht. 

Du sprichst von einem Ansteigen der Sexualgewalt in Italien. Wo siehst du die Gründe? 
Die Vergewaltigung ist ganz klar eine Kriegstaktik. Um den Gegner einzuschüchtern und zu erniedrigen. Mit der Natur hat es nichts zu tun, Tiere vergewaltigen nicht. Doch wir leben in einer Zeit unglaublicher Scheinheiligkeit. Auf der einen Seite verurteilt man den vergewaltigenden Mann; auf der anderen Seite propagiert vor allem die Welt der Bilder eine sexualisierte Gewalt, eine Ästhetisierung der Vergewaltigung. Die Werbung, die Medien, der Film, alle bieten sie den Körper der Frau als eine Ware an, die der Mann kaufen oder mit Gewalt nehmen kann. Mehr noch: Die ganze Welt des Konsums verführt via Sexualgewalt und Ware Frau. Man kauft nicht nur das Auto, man kauft den Frauenkörper dazu. 

Was bedeutet die ganze Entwicklung für dein Leben? 
Meine Bücher werden sehr viel gelesen, auch von jungen Frauen. Aber die scheinen die Inhalte nicht auf sich zu beziehen. Zumindest reden sie nicht darüber. Gleichzeitig gibt es viele Frauen und auch Männer, die so denken wie ich. Vor allem zähle ich weiterhin auf die Solidarität unter Frauen! Wir dürfen uns nicht spalten lassen. Wir dürfen uns nicht aufeinander hetzen lassen. In Amerika habe ich gesehen, dass die Frauen im Namen der Wahrheit untereinander sehr hart sind. Das finde ich falsch. Und dumm. Denn was kommt dabei heraus? Die Spaltung. Ich plädiere für die Suche nach den Gemeinsamkeiten von Frauen und nicht für die nach den Unterschieden.

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