Künkelin-Preis für Sabine Constabel

Sabine Constabel (2.v.l.) mit Laudatorin Barz (li) und Sisters-Mitstreiterinnen Solveig Senft, Sandra Norak und Karen Ehlers.
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„Punktgenau“ treffe auf Sabine Constabel zu, „was die Stadt Schorndorf von einer Barbara-Künkelin-Preisträgerin erwartet“, erklärte Laudatorin Monika Barz in ihrer Rede. Nämlich: „Die Stadt wünscht sich eine, die den Mut hat, Nein zu sagen, Missstände anzuprangern, auf unbequeme Wahrheiten hinzuweisen und Tabus zu brechen.“

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Barbara Künkelin war eine äußerst mutige, man muss wohl sagen: verwegene Frau. Im Jahr 1688, als der Pfälzische Krieg tobte, erfuhr die Bürgerin von Schorndorf, dass ihre Stadt den Franzosen überlassen werden sollte, anstelle des 35 Kilometer entfernten Stuttgart. Doch Künkelin trommelte die Frauen Schorndorfs zusammen, stürmte mit ihnen das Rathaus und verhinderte so die Übergabe der Stadt. Seit 1984 verleiht Schorndorf den Barbara-Künkelin-Preis an mutige Frauen.

Sabine Constabel hat mutig Nein gesagt und Tabus gebrochen

Sabine Constabel hat zwar noch keine Rathäuser gestürmt, aber sie hat höchst erfolgreich zum Sturm auf die öffentliche Meinung geblasen, genauer: auf die Laisser-faire-Haltung gegenüber der Prostitution. Die Stuttgarter Sozialarbeiterin und Vorsitzende des Vereins „Sisters – für den Ausstieg aus der Prostitution“ weiß aus eigener, fast 30-jähriger Erfahrung in der Arbeit mit Prostituierten, was Prostitution ist: „Der Kern der Prostitution ist Gewalt“, sagte Constabel in ihrer Dankesrede. „Sie ist roh, unbarmherzig und durch und durch zerstörerisch.“

„Sabine Constabel ist jene Sozialarbeiterin in Deutschland, die schon vor 20 Jahren mutig öffentlich Nein sagte, als die Mehrheit in Politik und Gesellschaft voller Begeisterung für eine Liberalisierung der Prostitution das Wort geredet hat", berichtete Laudatorin Barz den 250 ZuschauerInnen in der Barbara-Künkein-Halle. Und die emeritierte Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung und Vorstandsfrau im Landesfrauenrat Baden-Württemberg erzählte weiter: „Als ‚kleine’ Sozialarbeiterin aus dem Stuttgarter Leonhardsviertel wagte sie, ihre Stimme zu erheben und sich in Vorträgen und Talkshows dem politischen Trend entgegen zu stellen. Sie wies auf den Missstand hin, dass von der Liberalisierung einzig die Sexindustrie profitieren werde.“

Liberalisierung der Prostitution lässt die Frauen allein

Aber Sabine Constabel redete nicht nur, sie handelte auch: „Du, liebe Sabine, prangerst konsequent an, dass bei der gut gemeinten Liberalisierung die Prostituierten allein gelassen werden in ihrem individuellen Überlebenskampf und Ausstiegshilfen fehlen. Du entwickelst im Kleinen konkrete Unterstützungsprojekte und schafftest die fachliche Vernetzungen, die Stuttgart zum Vorzeigemodell für ganz Deutschland werden ließ.“

Eins dieser Projekte ist der Verein „Sisters“, der Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, konkrete Hilfe bietet. Die fehlt in Deutschland dringlich, wo viele „Beratungsstellen“ von der Pro-Prostitutions-Lobby unterwandert sind und lieber Hilfestellung beim Einstieg in die Prostitution leisten. Und so hat die Schorndorfer Jury ausdrücklich auch dem Ausstiegsprojekt „Sisters“ den Barbara-Künkelin-Preis gewidmet. Die 5.000 Euro Preisgeld kann das Projekt gut gebrauchen. So bald wie möglich will „Sisters“ eine eigene Ausstiegswohnung betreiben.

Eine Aussteigerin berichtete in der anschließenden Podiumsdiskussion von ihren Erfahrungen: Sandra Norak, heute Jurastudentin, erzählte, wie sie als Jugendliche in die Hände eines Loverboys geriet. Heute engagiert sie sich bei „Sisters“, um gegen den Mythos von der Prostitution als "Beruf wie jeder andere“ anzugehen.

Oberbürgermeister Matthias Klopfer (SPD) überreicht den Preis an Sabine Constabel. © Stadt Schorndorf
Oberbürgermeister Matthias Klopfer (SPD) überreicht den Preis an Sabine Constabel. © Stadt Schorndorf

Schorndorf hat übrigens eine eigene Geschichte im Widerstand gegen die Prostitution: Im Jahr 2005 wollte ein „Investor“ in einem ehemaligen Asylbewerberheim ein Großbordell einrichten. Prompt formierte sich in dem 40.000 EinwohnerInnen-Städtchen die Bürgerinitiative „Kein Bordell für Schorndorf“. „Wir halten es gesellschaftspolitisch für zerstörerisch, Prostitution zur normalen Dienstleistung aufzuwerten und so gesellschaftsfähig zu machen“, schrieben die AktivistInnen. „Wir sind gleichzeitig dafür, die Hilfen für Frauen in der Prostitution zu erhöhen, um ihnen den Ausstieg zu ermöglichen.“

Damals war Oberbürgermeister Winfried Kübler (CDU) eifriger Verfechter des Bordells. Doch die Zeiten haben sich geändert. Anno 2018 heißt Schorndorfs Oberbürgermeister Matthias Klopfer (SPD). Und der übergab nicht nur den Preis an Sabine Constabel und „Sisters“, sondern macht auch mit bei der Video-Aktion „Ich bin kein Freier“. Da erklärt Klopfer: „Gewalt gegen Frauen – das macht kein Mann. Deswegen geht man auch zu keiner Prostituierten.“ Keine Frage: Der OB hat seiner Preisträgerin gut zugehört.

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SISTERS sagen Politik den Kampf an!

Leni Breymaier, Sabine Constabel und Huschke Mau stellen SISTERS in Berlin vor. © Britta Pedersen/dpa
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Nach zehn Jahren Prostitution konnte Huschke Mau einfach nicht mehr. Die junge Frau wollte aussteigen. Sie ging zu einer Beratungsstelle. Da sagte man ihr: „Wenn du aussteigen willst, dann geh halt nicht mehr ins Bordell!“ Sie sei „total geschockt“ gewesen, erklärt sie: „Prostituierte, die aussteigen wollen, haben riesige Probleme: Sie werden bedroht, haben Schulden und häufig auch Suchtprobleme.“ 

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Was da an diesem Vormittag in Raum 107 der Bundespressekonferenz in Berlin lief, war eine Premiere für Deutschland. Bisher waren in den Medien vor allem Prostituierte zu sehen und zu lesen, die es „freiwillig“ und vor allem „gerne“ tun. Jetzt gibt SISTERS erstmals Prostituierten eine Stimme, die offen sagen, wie zerstörerisch die Prostitution für sie ist – und kritisiert die falsche Toleranz mit dem System Prostitution und dessen Profiteuren. 

Die Zeit scheint reif. Das war auch den JournalistInnen in dem kleinen überfüllten Konferenzraum anzumerken, die den drei Frauen vorne auf dem Podium sehr aufmerksam zuhörten und sehr genaue Fragen an sie stellten: der Sozialarbeiterin und Streetworkerin Sabine Constabel, der Gewerkschafterin und SPD-Politikerin Leni Breymaier, sowie der Studentin und Ex-Prostituierten Huschke Mau. Danach zum Beispiel, was die SISTERS zu der geplanten Reform des Prostitutionsgesetzes sagen. 

Harsche Kritik an der Toleranz mit dem System Prostitution

Die sei „eine Katastrophe“, erklärte die erfahrene Sozialarbeiterin Constabel. „So, wie die Reform der Reform jetzt angedacht ist, nutzt sie weiterhin eher den Zuhältern und Bordellbetreibern als den Frauen in der Prostitution.“ Constabel arbeitet seit 25 Jahren mit Prostituierten und bedauert, dass es „in Deutschland sehr, sehr wenig Hilfsangebote für Prostituierte gibt. Und die wenigen, die es gibt, können von den Frauen oft nicht angenommen werden.“ Warum nicht? „Weil man ihnen dazu signalisieren müsste, dass man um ihre Not weiß.“

Das aber ist in Deutschland, wo Prostitution seit der fatalen rot-grünen Reform von 2002 als „Beruf wie jeder andere“ gilt, nicht angesagt. Die von der Sexindustrie-Lobby gestützte (oder gar initiierte?) Fraktion der „Sexarbeiterinnen“ argumentiert vor allem damit, dass die „Nichtakzeptanz der Prostitution stigmatisierend“ sei und der Grund allen Übels. Die SISTERS aber sagen, dass die Prostitution selbst das Übel ist, das die Frauen zerstört.

Nun droht auch das neue „Prostituiertenschutzgesetz“ nach 13 Jahren zum zweiten Mal von der Lobby der Sexindustrie bis zur Wirkungslosigkeit zerrieben zu werden. „Wir haben die Hoffnung aufgegeben, dass in naher Zukunft gesetzliche Regelungen kommen, die die Prostituierten wirklich schützen“, erklärte Constabel.

Deshalb ergreifen jetzt engagierte Fachfrauen und ausgestiegene Prostituierte wie Huschke Mau die Initiative. Mau: „Ich wünsche mir eine andere Stimme als die der so genannten ‚Sexarbeiterinnen‘ von der Pro-Prostitutions-Lobby, die zur Hälfte aus Dominas und zur Hälfte aus ZuhälterInnen besteht.“ Die junge Frau, die auch offen über den sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit sprach („Später dachte ich: Dann tu ich es jetzt wenigstens für Geld“), hat es nach vielen einsamen Versuchen doch noch geschafft auszusteigen. Und jetzt möchte sie dazu beitragen, dass auch andere in die Prostitution abgerutschte Frauen wieder herausfinden aus „der Hölle“. „Als ich aussteigen wollte, habe ich davon geträumt, dass es einen Verein wie SISTERS gibt.“

Hunderttausende Prostituierte
aus Osteuropa -
und niemand
schaut hin.

Und was macht die Gewerkschafterin vorne am Podium? Sie habe, erzählt Leni Breymaier, die baden-württembergische ver.di-Chefin, im Sommerurlaub ein Buch über die deutsche Besatzung in Polen gelesen. Und da gab es eine Szene in einem Danziger Caféhaus: Während drinnen die feinen Damen an ihrem Tee nippten, wurden draußen Juden von der SS vorbeigetrieben. Die Damen schauten kurz auf und führten sodann ihre Gespräche fort. Breymaier: „So ähnlich kommt es mir heute vor: Wir haben Hunderttausende Armutsprostituierte aus Osteuropa mitten unter uns – und niemand schaut hin!“ 

Dabei seien in der Prostitution alle Spielregeln, die in anderen Berufen gelten, außer Kraft gesetzt, klagte die Gewerkschafterin. „Von einem Mindestlohn können die Frauen nur träumen, Arbeitsschutz
existiert schlicht nicht.“ Ob es denn nicht auch andere Berufe gäbe, die für Frauen hart seien? „Beruf?“, konterte Breymaier, die unter anderem an der
Seite der Schlecker-Frauen kämpfte: „Prostitution ist kein Beruf. Das ist eine Menschenrechtsverletzung!“ Und Huschke Mau sekundierte: „Ich kenne keinen Beruf, in dem Sucht und Traumatisierung zum normalen Berufsrisiko gehören.“ Und überhaupt: Sie könne „das Gequatsche von der ‚Sexarbeit‘ nicht mehr hören“.

Auch Leni Breymaier, die außerdem stellvertretende Vorsitzende der SPD Baden-Württemberg ist, ging die Politik hart an: „Deutschland ist heute das Bordell Europas. Für mich ist das unerträglich. Die Politik wäre gefordert, aber sie kommt ihrer Aufgabe nicht nach. Ich möchte deshalb den Frauen meine Hand reichen, die diese Hand nehmen wollen.“

Die Idee: ehren-
amtliche Helfe-
rinnen betreuen
Prostituierte

Die Idee, den Verein SISTERS zu gründen, tauchte Anfang des Jahres auf. Sie kam aus dem Kreis der engagierten Frauen um Sabine Constabel. Seit vielen Jahren hat Constabel gute Erfahrungen gemacht mit ihrem „Stuttgarter Modell“ der ehrenamtlichen Helferinnen. Die betreuen Prostituierte auf dem Strich, im Laufhaus oder auch in dem Prostituierten-Café „La Strada“. Ihre Hilfe geht von der einzigen warmen Mahlzeit am Tag für die Frauen auf der Straße, über Beratung bei Gewalt oder Schwangerschaft bis hin zur Begleitung beim Ausstieg. 

„Ich bekomme regelmäßig Anrufe von Frauen, die mich fragen: ‚Was kann ich tun?‘“, sagt Constabel. Warum also nicht versuchen, dieses „Stuttgarter Modell“ der „Patinnen“ über ganz Deutschland zu verbreiten? Und das selbstverständlich in Kooperation mit Organisationen, die bereits heute wirkliche Ausstiegsarbeit machen, wie zum Beispiel Solwodi.

Zusätzlich zu diesen wenigen bereits existierenden Organisationen, bisher ausnahmslos christliche, treten jetzt also die weltlich-humanistisch motivierten SISTERS an. Sie appellieren an Frauen in ganz Deutschland, sich für den Job einer begleitenden „Sister“ zu melden. Dafür bieten sie Qualifikationskurse an. „Sie müssen keine Expertin sein“, schreiben sie auf ihrer Website. „Lebenserfahrung und Einfühlungsvermögen können genügen.“ Constabel: „Die Frauen brauchen einfach jemanden, der ihnen signalisiert: Wir wissen um deine Not. Und der sie an der Hand nimmt und mit ihnen in eine neue Welt geht.“

SISTERS wollen auch aufklären über die Folgen des Frauenkaufs

Constabel hat schon viele Frauen dazu gebracht, ihrer Familie zu verkünden, dass „sie jetzt eben nicht mehr 200 Euro im Monat nach Hause schickt, sondern nur noch 100 Euro“. Das sei selbst im Niedriglohnbereich leicht zu bewerkstelligen, denn: „Die Kosten für die Prostitution sind enorm. Die Frau muss für ihr Bordellzimmer und womöglich noch für das ihres ‚Aufpassers‘ mindestens sieben Freier machen – am Tag.“ Fallen diese Kosten weg, könne eine Aussteigerin selbst mit einem Job als Kellnerin oder Zimmermädchen mehr verdienen.

Die SISTERS wollen der Mehrheit der Armuts- und Zwangsprostituierten helfen, die oft kaum ein Wort Deutsch verstehen, aber auch der Minderheit der deutschen Prostituierten, die ebenfalls nicht selten im Teufelskreis der sexuellen Gewalt stecken – so wie einst Huschke Mau. Die erklärte auf der Pressekonferenz, dass die Trennung zwischen „sauberer“ deutscher Prostitution und „schlimmer“ ausländischer Prostitution ein Mythos sei. „Die Rechnung deutsch gleich freiwillig geht nicht auf“, sagte Mau. „Ich habe in zehn Jahren Prostitution keine einzige Frau erlebt, die keine Gewaltgeschichte hatte, und die nicht traumatisiert in die Prostitution gegangen ist – und noch traumatisierter wieder herauskam.“ Auch Mau selbst kommt aus einer Familie, „die mich für die gewalttätigen Übergriffe in der Prostitution vorbereitet hat“.

Es geht darum den Frauen zu vermitteln: "Du bist etwas wert!"

Aber die SISTERS wollen mehr als „nur“ helfen. Die SISTERS wollen auch aufklären. Aufklären über die erschütternde Lage von Hunderttausenden von Frauen in Deutschland, mitten unter uns. Und die werden in Zeiten der Flüchtlingsströme eher mehr als weniger. Und sie wollen aufklären über die Folgen der Akzeptanz des Frauenkaufs für alle Frauen und Männer in unserem Land. Sie wollen in Zukunft auch in Schulen, Bürgerzentren und Anhörungen auftreten, um den Menschen die Augen zu öffnen.

Die Reaktionen auf die Pressekonferenz der SISTERS Ende September in Berlin waren schon in den Tagen danach beachtlich; zahlreiche Presseagenturen, Zeitungen und Zeitschriften berichteten. Vor allem die Kritik von SISTERS an der stockenden Reform und der, im besten Fall, hilflosen Politik wurde breit zitiert. Und allein in den ersten Tagen klickten rund 2 500 die Webseite der SISTERS an und liketen 467 die SISTERS auf Facebook. Ganz klar: Die SISTERS werden gebraucht.

www.sisters-ev.de

Aktualisiert am 4.11.2015
 

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