Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!

Appell an die Bundeskanzlerin: "Frau Merkel, machen Sie ein gutes Gesetz!" - © Imago/Common Lens
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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

ich erlaube mir, Ihnen zu schreiben, weil die bevorstehende Änderung des Prostitutionsgesetzes von so fundamentaler Bedeutung ist, dass Sie als Kanzlerin und auch als Frau persönlich darüber informiert sein und die Entscheidung mittragen sollten. Drei Punkte in dem neuen Gesetz können über das Wohlergehen, ja über das Leben von hunderttausenden Mädchen und Frauen in unserem Land entscheiden: 1. die Anhebung des Mindestalters von 18 auf 21 Jahre; 2. die Pflicht zur Gesundheitsuntersuchung und 3. die Anmeldepflicht.

Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite seit über zwanzig Jahren für das Gesundheitsamt Stuttgart in der Beratung und Betreuung von Prostituierten. Im Laufe dieser Zeit habe ich zigtausende Gespräche mit den Frauen geführt, viele von ihnen begleite ich seit Jahren, manche von ihnen seit Jahrzehnten. Die Situation der Prostituierten war noch nie einfach. Immer schon fanden vor allem die Frauen in die Prostitution, die bereits Gewalterfahrungen hatten, in der Kindheit oder als Erwachsene. Begriffe wie „freiwillig“ und „selbstbestimmt“ passten noch nie zu dieser Tätigkeit.

In den letzten Jahren nun hat sich die Lage massiv zugespitzt. Mittlerweile ist etwa jede dritte Prostituierte unter 21 Jahre alt. Das sind allein in Deutschland über 100.000 Mädchen! Fast alle kommen aus den ärmsten Regionen Osteuropas, aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Viele wissen nichts über Sexualität. Für so manche ist der Freier der erste Mann. Sie wissen nichts über Infektionsrisiken, nichts darüber, wie man sich davor und vor pervertierten Praktiken schützen kann.

Diese jungen Frauen werden in kürzester Zeit physisch und psychisch zerstört.

Für die Zuhälter und Zuhälterinnen ist es ein Leichtes, sich das Vertrauen dieser unerfahrenen, viel zu jungen und oft emotional verwaisten Mädchen zu erschleichen. Sie greifen sie sich aus Kinderheimen, suchen sie in den ärmsten Dörfern zusammen, versprechen ihnen Liebe - und werfen sie dann auf den Prostitutionsmarkt. Die Sexkäufer verlangen nach immer jüngeren Frauen, weil sie mit den Hilflosesten für wenig Geld machen können, wonach ihnen der Sinn steht.

Diese jungen Frauen werden durch die vielen Vergewaltigungen, denn als nichts anderes empfinden sie ihre Prostitution, innerhalb kürzester Zeit physisch und psychisch zerstört. Die Anhebung des Mindestalters auf 21 Jahre wäre das Mindeste, was wir diesen Frauen an Schutz und Hilfe schulden. Damit könnten wir unzähligen jungen Frauen das Leben retten.

Über achtzig Prozent der Prostituierten in Deutschland kommen heute aus dem Ausland. Die allermeisten von ihnen sind nicht krankenversichert. Sie arbeiten unter fürchterlichen Bedingungen, müssen sich den Forderungen der Freier nach ungeschütztem Sex beugen; sie müssen zulassen, was die Käufer an hochriskanten sexuellen Praktiken verlangen und natürlich werden viele von ihnen krank. Deshalb brauchen diese Frauen die Untersuchungspflicht. Die richtet sich in Wahrheit an ihre Zuhälter und Zuhälterinnen. Die Untersuchungspflicht würde sie zwingen, die Frauen zu informieren und ihnen frei zu geben für den Gang zum Gesundheitsamt.

Denn die seit 2001 bestehende freiwillige Untersuchung kann von den allermeisten Frauen nicht in Anspruch genommen werden. Sie wissen nichts von dieser Möglichkeit, sprechen oft die Sprache nicht, können Informationsbroschüren nicht lesen, und kennen mitunter nicht einmal den Namen der Stadt, in der sie der Prostitution nachgehen müssen.

Es ist, als
würde es die hundertausenden von Frauen in der Prostitution nicht geben.

Hunderttausende Frauen arbeiten in Deutschland in der Prostitution. Die allermeisten von ihnen sind nirgendwo gemeldet. Sie werden von einer Stadt in die nächste verschoben, sie werden in Bordellen und Wohnungen isoliert, sie sind jahrelang extremster Gewalt ausgesetzt und gleichzeitig nirgendwo registriert. So als würde es sie nicht geben, als würden diese Frauen nicht mitten unter uns leben. Die Polizei kann bisweilen Prostituierte selbst dann nicht wieder finden, wenn sie Opfer von Verbrechen wurden, da die Frauen mit Leichtigkeit versteckt werden können.

Die Anmeldepflicht wäre also eine große Chance, das Dunkel um die Prostitution zu erhellen. Sie macht die Frauen sichtbar. Die Prostituierten selbst können ihren Aufenthalt in Deutschland nachweisen und haben es damit auch beim Ausstieg sehr viel leichter.

Liebe Frau Merkel, wir haben in diesem Land so viele wirklich großartige Dinge hinbekommen. Wir haben ein System der sozialen Sicherung, von dem manche in unseren Nachbarländern nur träumen können. Wir setzen uns für ein friedliches Miteinander ein; für die Gleichstellung der Geschlechter; wir zeigen Solidarität mit den Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, und wir haben uns Werte wie die Achtung der Menschenwürde sogar ins Grundgesetz geschrieben. Und trotzdem lassen wir zu, dass mitten unter uns ein Sklavinnenmarkt entsteht, der in fast jeder deutschen Stadt an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten ist.

Viele Ihrer Wählerinnen und Wähler haben Sie gewählt, weil die CDU auch für Werte steht. Weil wir Werte brauchen. Weil für die christlichen Parteien Moral und Ethik eben keine Unwörter sind, wie es uns die Lobbygruppen der Prostitutionsindustrie weismachen wollen. Der Prostitutionsindustrie Grenzen zu setzen, das hat nichts, aber auch gar nichts mit Prüderie zu tun. Es ist weder altmodisch, noch sexualfeindlich. Es ist ganz einfach human.

Ich bitte Sie inständig: Setzen Sie sich mit ein für diese drei Minimalforderungen! Diesen Mädchen und Frauen sowie unserer Demokratie zuliebe.

Mit besten Grüßen
Ihre
Sabine Constabel

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Straßenstrich: Sieh mich an!

Fotografin Bettina Flitner mit Streetworkerin Petra und Jana.
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Der Straßenstrich bei Cheb an der deutsch-tschechischen Grenze ist für viele die Endstation. Manche sind erst 23, wie Andrea auf dem EMMA-Cover. Sie ist seit ihrem 18. Lebensjahr in der Prostitution. Zunächst war sie in deutschen Clubs und Bordellen in Frankfurt, Hamburg, Nürnberg etc. Wie die hießen, weiß sie nicht. Sie spricht kaum Deutsch. Andrea ist im Alter von vier Jahren ins Kinderheim gekommen. Ihre Mutter war Alkoholikerin, der Vater unbekannt.

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Irgendwann lernte sie einen jungen Mann kennen, einen Roma, der ihr etwas von Liebe erzählte. Als sie 18 war, haben ihr Loverboy und seine Familie sie nach Deutschland verkauft. Irgendwie ist es Andrea gelungen, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Familie ihres Ex-Lovers hat sie dann auf den Strich von Cheb geschickt und von ihr verlangt, dass sie alles Geld abgibt. War es nicht genug, wurde sie geschlagen.

Wenn sie in Not ist, macht Andrea es auch schon mal für 10 oder gar 5 Euro.

Darum macht Andrea es, wenn sie in Not ist, auch schon mal statt für 30 Euro nur für 10 oder gar 5 Euro. Wenige Wochen nachdem Bettina Flitner Andrea porträtiert hatte, hat sie einen Mann kennengelernt, der sie vom Strich geholt hat. Mit ihm lebt sie heute zusammen, in seiner kleinen Wohnung. Sie bekommt Sozialleistungen und geht „nur noch manchmal“ anschaffen. Die Zuhälterfamilie hat ihr zunächst nachgespürt, lässt sie aber jetzt in Ruhe. Ein Happy End?

Die Männer, die auf dem Straßenstrich bei Cheb Frauen kaufen, sind überwiegend Deutsche – die, die kassieren, überwiegend Tschechen, oft Roma. Die meisten der Frauen, die hier stehen, haben schon in Deutschland angeschafft, in Clubs und Bordellen, oft in mehreren Städten.

Bettina Flitner war im Frühling 2014 dort einige Tage lang unterwegs. Sie hat mit der tschechischen Sozialarbeiterin Petra vom Hilfsprojekt Karo mehrfach „die große Runde“ gedreht. Petra verteilt Kondome und informiert: über die Beratungsstelle von Karo, das Schutzhaus und die Babyklappe in Plauen.

Direkt vor Ort betreut Karo auch Kinder von Prostituierten oder solche, die selber schon auf dem Strich aufgegriffen wurden. In der Gegend von Cheb ist man spezialisiert auf Babys: Als Erkennungszeichen für die Freier stellen die Eltern, die ihre Kinder verkaufen, Kinderwagen vors Haus oder hängen Windeln ins Fenster.

Ihren Job erledigen sie
im Gebüsch oder
im Auto der Kunden.

Bettina hat mit Petra hunderte von Kilometern auf dem Strich abgeklappert. Nicht zuletzt dank der Karo–Frau hatten die Prostituierten Vertrauen. Die Fotografin hat ihnen erklärt, dass man in Deutschland zurzeit sehr viel über sie – die Frauen aus Osteuropa, die sich prostituieren – diskutiert, sie aber eine anonyme Masse seien. Und sie wolle diesen hunderttausenden von Frauen nun ein Gesicht geben. Und eine Stimme. Diesen Frauen, die sich bei uns oder an den Grenzen prostituieren, für deutsche Männer und Sextouristen, die nach Deutschland einreisen.

Die Frauen stehen Tag für Tag am Straßenrand. In der Regel werden sie von den Männern, die kassieren, dort hingebracht. Ihren Job erledigen sie im Gebüsch oder im Auto der Kunden. 30 Euro pro Nummer. In Not auch nur 20 oder 10. Die Frauen stehen allein dort. Oft ist kein anderer Mensch in Sichtweite.

Bettina Flitner hat die Frauen nach ihren Träumen gefragt. Manche waren traumlos oder hatten nur noch Hoffnungen für ihre Kinder.

KARO e.V. betreibt in Plauen und Cheb je eine Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Frauen aus dem Prostitutions- und Drogenmilieu, eine Babyklappe und ein Schutzhaus im Vogtlandkreis. Der Vermieter des Schutzhauses will das Gebäude verkaufen. KARO will das Haus kaufen und braucht Spenden: KARO e.V., Volksbank Vogtland eG,  IBAN: DE 6087 0958 2450 0207 6600, BIC: GENODEF1PL1 (www.karo-ev.de)

Mehr von Bettina Flitner: www.bettinaflitner.de

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