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"Hände überall" - Eine Mutter erzählt

Was geschah rund um den Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015? Eine Mutter erzählt.
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22.57 Uhr. Claudia Vosen steigt zusammen mit ihrem Lebensgefährten und ihren zwei Kindern, eine 15-jährige Tochter und ein 13-jähriger Sohn, aus der Linie 18. Die Familie wohnt in dem Kölner Stadtteil Sülz und will ans Rheinufer, denn: „Der Kölner guckt Silvester ja das Feuerwerk am Rhein.“ 

Die vier nehmen die Rolltreppe, die innerhalb der Bahnhofshalle endet, ganz in der Nähe des Ausgangs zum Bahnhofsvorplatz. „Da fiel uns auf, dass sehr viele Männer in der Bahnhofshalle waren. Darüber habe ich mich kurz gewundert. Denn in der Halle oder auf dem Platz hält sich ja zu Silvester eigentlich niemand auf. Die durchquert man höchstens.“ – Zwei Tage später wird Frau Vosen eine von 627 Frauen sein, die Anzeige wegen sexueller Belästigung erstatten, wie die sexuelle Gewalt so verharmlosend genannt wird (1.221 „Geschädigte“ sind es inklusive der Diebstähle gesamt).

Noch jedoch ahnen Vosens nichts. Sie ziehen sich allerdings „instinktiv“ die Reißverschlüsse ihrer Jacken „bis zum Hals hoch“ und fassen sich an den Händen. „Das war um 22.57 Uhr. Ich weiß das so genau, weil ja in der Bahnhofshalle die große Uhr hängt.“ Plötzlich detoniert eine Silvesterrakete mitten in der Halle. „Und dann ging der Tumult los“, erinnert sich Claudia Vosen. „Das war wie ein Startschuss. Von draußen drängten massenhaft Männer in die Halle. Schreie, Rufe, Gedränge. Mein Mann wurde von uns weggerissen. Er verschwand in der Menge, die uns wie eine Mauer umgab. Ich hatte um meinen Sohn vor mir einen Arm gelegt und griff mit der anderen Hand nach hinten nach meiner Tochter. Die hatte sich an meinen Rücken geklammert. Das war ein Fehler, dass sie nicht vor mir war. Sie hat lange blonde Haare …“

Es war der Beginn eines Infernos, das Mutter und Tochter bis heute Albträume beschert. „Plötzlich hatten wir Hände am ganzen Körper. Sie fassten uns an die Brüste, griffen uns brutal zwischen die Beine, zerrten an Reißverschlüssen, Finger pulten nach Öffnungen. Zum Glück hatten meine Tochter und ich Hosen an. Die haben sich sogar gebückt, um uns besser zwischen die Beine fassen zu können.“ Das alles passiert am Ausgang der Bahnhofshalle, durch den Vosens durchmüssen. „Die waren wie ein riesiger Schwarm, aus dem sich immer wieder eine Gruppe auf uns stürzte und sich dann wieder in die Menge zurückzog …“

Irgendwann spuckt die rasende Männermasse die drei aus, raus auf den Bahnhofsvorplatz. Der ist fast leer, nur am Rand stehen Männer. Und da taucht auch Claudias Mann wieder auf. „Ich habe auf die Uhr geguckt. Es war exakt 23.25 Uhr. Wir waren also fast eine halbe Stunde in dieser Hölle. Meine Tochter schluchzte und schrie: ‚Fass mich nicht an!‘ Meinem Sohn hatten sie das Handy geklaut. Und mein Mann sagte: ‚Nur weg!‘“

Während der ganzen Zeit hat Claudia Vosen weder in der Halle noch auf dem Platz auch nur einen einzigen Polizisten gesehen. Daran erinnert sie sich genau. „Mein Mann hat noch gesagt: ‚Wo ist denn die Polizei?!‘“ Vosens gehen quer über den Bahnhofsplatz nach rechts – und da ist sie, die Polizei. „Die standen in der Seitenstraße, so 20 bis 25 Mann, mit verschränkten Armen. Mein Mann hat sie angesprochen und gesagt: Da hinten ist was los! Da müssen Sie schnell hin! Aber die einzige Reaktion der Polizisten war: ‚Sehen Sie zu, dass Sie schnell hier wegkommen. Gehen Sie nach Hause!‘“

Zu dem Zeitpunkt sind nach Aussagen der Polizei 143 Kölner Polizeibeamte am Bahnhof und 50 Bundespolizisten im Bahnhof (für das Bahnhofsgelände ist der Bund zuständig). Doch wo waren diese 193 Polizisten, als Familie Vosen nicht etwa in einer dunklen Ecke, sondern im Zentrum des Getümmels in Not geriet? Warum haben sie, selbst nachdem sie informiert worden waren, nicht eingegriffen? Hatten die PolizistInnen etwa auch selber Angst? Hatten sie die Order, sich rauszuhalten? Gab es gar ein Kompetenzgerangel zwischen städtischer und Bundespolizei? Blieb deshalb ausgerechnet der heikelste Punkt, der Bahnhofsausgang, ganz und gar ungeschützt?

Anzeige erstattet hat der Lebensgefährte von Claudia dann am 2. Januar via Internet. Mutter und Tochter gingen erstmal tagelang nicht aus dem Haus. „Wir standen unter Schock.“ Erst am 7. Januar – nachdem alles endlich, endlich öffentlich geworden war – schien die Polizei sich für den Fall zu interessieren. „Da haben sie angerufen und hatten es plötzlich ganz eilig. Wir sollten auf die Wache kommen und alles genau erzählen.“ Im Rückblick sagt die 48-jährige Claudia Vosen: „Für mich war ganz klar, dass das Absicht war. Das war organisiert!“

Nach einer unruhigen Nacht klickt Claudia Vosen sich am Neujahrsmorgen in ihre Facebookgruppe „Nett-Werk Koeln“. Als Erstes entdeckt sie das Posting eines gewissen Eiken. Der junge Mann erzählt, was ihm und seiner Freundin in der Silvesternacht am Bahnhof widerfahren sei. „Ich wollte gerade schreiben: Mir ist genau dasselbe passiert! – da war Eiken schon gesperrt. Eine Welle von Hasstiraden rollte über ihn weg. Du hetzt gegen Ausländer! Du beschimpfst Flüchtlinge! Und schließlich kam das Verbot, überhaupt noch über Silvester zu posten.“ (Die beliebte Service-Seite war erst nach zehn Tagen wieder online.)

Sodann ging das weiter, was Claudia Vosen im Rückblick als „fast noch schlimmer als die Sache selbst“ bezeichnet: nämlich das Verbot, darüber zu sprechen, und die Beschimpfungen als „Rassistin“. Weil ja die Täter in dieser Nacht unübersehbar Ausländer – Flüchtlinge? – gewesen waren, „Männer aus dem nordafrikanischen oder arabischen Raum“, wie alle Betroffenen immer wieder versicherten.

Als Claudia die Horrornacht im Büro erzählte, schrie eine Kollegin sie an: „Du bist eine Ausländerhasserin!“ Später stellte sich heraus, dass diese Kollegin mit einem Algerier verheiratet ist, der sich seither „nur noch schämt für seine Landsleute“. Und in der Schule wurde die Tochter beschimpft: „Stell dich doch nicht so an! Es ist doch gar nicht viel passiert. Du bist ja noch nicht mal vergewaltigt worden.“ 

Auch Claudias Mann geht es schlecht. „Der hat ganz doll daran zu knabbern“, sagt sie. „Die Kollegen fragen ihn: Wieso hast du denn deine Familie nicht beschützt? Aber das konnte er doch gar nicht! Wir waren ja alle wie eingemauert in dieser Männermasse.“ „Und dann diese eigenartige Berichterstattung“, erinnert sich Claudia Vosen. „Es hat ja Tage gedauert, bis die Wahrheit geschrieben wurde. Das kam mir so vor wie die drei Affen: Nichts sehen. Nichts hören. Nichts sagen.“ Bis heute sind Mutter und Tochter in Therapie. Die Albträume.   

Der Text ist ein Nachdruck aus „Der Schock“ (KiWi), erschienen im Mai 2016.

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